Abschied von der vollständigen Universität

Die Universitäten sind unter Druck geraten – in der Schweiz, in Deutschland, in anderen europäischen und aussereuropäischen Ländern. Die Gründe sind meist finanzieller, aber auch struktureller Art.

VON JÜRGEN MITTELSTRASS

Immer mehr Studierende drängen in die Hochschulen, die auf diese Weise ihre übersichtlichen Strukturen verlieren. Berufs- und Praxisprofile sind in schnellem Wandel begriffen und zwingen die Hochschulen zu strukturellen und organisatorischen Reaktionen, zum Beispiel im Rahmen der Studien- und Prüfungsordnungen, die wiederum eine Wissenschaftssystematik, die einmal der Ordnung der Fächer und Disziplinen zugrunde lag, immer blasser erscheinen lassen. Hinzu kommt, dass es im Sinne eines differenzierten Hochschulsystems darauf ankommt, die Aufgaben einer Hochschule in Forschung und Lehre etwa zwischen Universitäten und Fachhochschulen neu zu bestimmen und mit dem Umstand fertig zu werden, dass sich relativ homogene Leistungsprofile, wie sie bisher, im Unterschied etwa zu den USA, Frankreich und Grossbritannien, das schweizerische und das deutsche Universitätssystem auszeichneten, unter Wettbewerbs- und anderen Gesichtspunkten, darunter wiederum auch finanziellen Gesichtspunkten, aufzulösen beginnen.

Zur Idee der Universität gehört es im Sinne Wilhelm von Humboldts auch heute noch, die Lehre in enger Verbindung mit der Forschung zu organisieren. Deshalb bilden Universitäten auch wissenschaftsnah aus, wogegen es zur Idee der Fachhochschule gehört, berufs- und praxisnah auszubilden. Dem entspricht in anderen Ländern zum Beispiel die Unterscheidung zwischen einem Universitäts- und einem College-System. Wird dieser Unterschied verwischt, etwa indem die Universitätsausbildung zur Standardausbildung im Hochschulbereich wird oder selbst eine berufs- und praxisnahe Ausbildung propagiert, zieht die Universität unweigerlich Fachhochschulstrukturen in sich hinein; aus über Forschung definierten Hochschulen werden reine Lehranstalten.

Diese Gefahr droht gegenwärtig in Deutschland über eine Zerlegung des Studiums in einen praxis- und berufsnah ausbildenden Teil und einen im engeren Sinne wissenschaftlichen, im wesentlichen mit einem Promotionsstudium identifizierten Teil. Damit wird faktisch nicht nur das Studium geteilt, wie es die Konstrukteure dieses Modells wollen, sondern die Universität. In ihrem einen Teil, einem weitgehend verschulten und entwissenschaftlichten allgemeinen Studienteil, wäre sie Fachhochschule, in ihrem anderen Teil Gelehrtenkolleg.

Gegen ein derartiges Fachhochschulmodell der Universität sprechen viele Gründe, in erster Linie der Umstand, dass die Universität auf diese Weise ihr ursprüngliches Wesen als wissenschaftliche Hochschule verliert. Deshalb käme es auch darauf an, das Modell einer berufs- und praxisnahen Hochschulausbildung nicht in der Universität zu realisieren, sondern dort, wo dieses Modell ohnehin schon realisiert ist, nämlich in der Fachhochschule. Statt Hineinnahme der Fachhochschule in die Universität, sollte angesichts der immer grösser werdenden Belastung des Universitätssystems durch das Ausbildungssystem das Stichwort lauten: Auslagerung grösserer Teile der Universitätsausbildung in die Fachhochschule. Ob dies auch bedeuten sollte, die Fachhochschule anstelle der Universität zur Regelhochschule zu machen, ist eine Frage, die sich auch später noch entscheiden lässt. In jedem Falle wird es, um die Leistungsfähigkeit der Hochschulen auch in Zukunft zu sichern, auf ein differenziertes Hochschulsystem ankommen, nicht auf sich selbst immer weiter differenzierende und auf diese Weise ihr eigentümliches wissenschaftliches Profil verlierende Hochschulen.

Die Vorstellung, Universitäten müssten heute alles machen, das heisst der Wissenschaft in Forschung und Lehre einen umfassenden institutionellen Ausdruck verleihen, verdankt sich der Idee einer «vollständigen» Universität, in der jedes Fach und jede Disziplin ihren Platz finden sollten.

Von dieser Idee, die sich historisch mit den allgemeinen Bezeichnungen «Studium generale» und «universitas» in der mittelalterlichen Entwicklung der Universität auf dem Hintergrund eines enzyklopädischen Wissensideals verbindet und die in der Geschichte der Universität niemals wirklich realisiert wurde, sind moderne Universitäten weit entfernt. Ältere Universitäten weisen in der Regel ein gewachsenes, eingeschränktes Wissenschaftsprofil auf, neue Universitäten sind durch bestimmte Schwerpunktbildungen im Fächer- und disziplinären System charakterisiert.

Massgeblich für diese Beschränkung sind in erster Linie nicht die Erkenntnis, dass sich die moderne Wissenschaftsentwicklung nicht mehr vollständig an einem Ort und in einer Institution zusammenführen liesse, oder finanzielle Gründe, sondern die Einsicht, dass eine Konzentration wissenschaftlicher Potentiale, ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit, nicht nur der Profilbildung einer Hochschule, sondern auch der durch die Wissenschaftsentwicklung gebotenen wissenschaftlichen Zusammenarbeit in Forschung und Lehre dienen würde. Eine derartige Zusammenarbeit setzt übersichtliche Verhältnisse voraus, die in grossen Hochschulen, auch jenseits der Idee einer institutionellen Vollständigkeit, schon lange nicht mehr gegeben sind, und sie wird durch Verhältnisse, die bereits durch eine bestimmte disziplinäre und fachliche Ordnung und entsprechende Schwerpunktbildungen strukturiert sind, stimuliert.

Insofern gehört denn auch der Abschied von der Idee einer vollständigen Universität nicht nur zu den wissenschaftssystematischen (und zunehmend auch finanziellen) Notwendigkeiten der jüngeren Hochschulentwicklung, sondern längst auch zu deren Wirklichkeit.

Wissenschaft ist trotz aller Spezialisierungstendenzen etwas, das nur auf einem Boden gedeiht, den viele bestellen und der viele Früchte trägt. Grosse Leistung setzt nicht nur ein spezialisiertes Wissen, sondern auch die enge Nachbarschaft mit anderem Wissen voraus. Neue Einsichten bilden sich meist an den Rändern der Fächer und Disziplinen, im Übergang zu Nachbarfächern und Nachbardisziplinen, nicht in den Kernen, wo das Lehrbuchwissen sitzt. Also lässt sich auch Universalität in ihren institutionellen Formen im Fachlichen und Disziplinären nicht beliebig einschränken, und deswegen kann man auch eine Universität nicht beliebig kleinhalten. So gedeihen Forschung und Lehre allenfalls auf Zeit in fachlichen oder disziplinären Treibhäusern; wo der wissenschaftliche Durchzug fehlt, breitet sich die akademische Provinz aus. Deshalb muss die Universität an ihrem Universalitätsanspruch festhalten. Und dies kann sie mit Aussicht auf Erfolg nur, wenn sie dieser Universalität auch institutionell Ausdruck verleiht, sich gegen eine allzu rigorose Engführung in fachlichen und disziplinären Dingen zur Wehr setzt.

Das gilt auch für das Verhältnis von Disziplinarität und Interdisziplinarität. Träger der institutionellen Einheit von Forschung und Lehre, über die sich die Universität, wie gesagt, gestern wie heute definiert bzw. definieren sollte, sind noch immer die Disziplinen, auch wenn die Erinnerung an das, was Disziplinen sind, was sie leisten und was sie von Fächerstrukturen unterscheidet, heute blass geworden ist. Disziplinaritäten sind die systematischen Formen, in denen sich das wissenschaftliche Wissen, auch das fachliche Wissen, bildet, und das Medium, in dem sich das wissenschaftliche Lernen bewegt.

Das gilt auch für Interdisziplinarität, doch diese ist heute im Blick auf die Wissenschaftsentwicklung nicht genug. Wenn das über die notwendige Universalität der universitären Wissensbildung Gesagte stimmt, dann geht es hier nicht um gelegentliche Berührungen, sondern um Grenzüberschreitungen, mit denen sich die Fächer und Disziplinen selbst verändern. Eben das aber leistet nicht Interdisziplinarität im üblichen Sinne, sondern Transdisziplinarität, das heisst eine Forschungsperspektive, die ihre Probleme disziplinenunabhängig stellt und disziplinenüberschreitend löst.

Voraussetzung dafür, das heisst Voraussetzung für Transdisziplinarität als wissenschaftliche Arbeits- und Erkenntnisform, aber sind und bleiben die Disziplinaritäten. Wo keine unterschiedlichen disziplinären Arbeitsformen in Forschung und Lehre sind, dort kann es auch keine transdisziplinären Arbeitsformen geben, dort bleibt der Erkenntnisfortschritt, der sich zunehmend transdisziplinären Orientierungen verdankt, aus. Das aber bedeutet, dass Universität Multidisziplinarität, das heisst einen lebendigen Teil jener Universalität, voraussetzt, die einmal die Universitätsentwicklung bestimmte. Universitäten, die um eine einzelne Disziplin gebaut sind, erfüllen diese Voraussetzung nicht. Hier setzen wiederum die Aufgaben und die Chancen der Fachhochschulen im Hochschulsystem ein.

Der Abschied von der vollständigen Universität, der heute unvermeidlich ist, sollte nicht so weit gehen, dass Universitäten in ihrem Kern nur noch verselbständigte Fakultäten (etwa der Sozial- oder der Geisteswissenschaften) darstellen oder eben als Ein-Disziplinen-Universitäten dastehen. Hier ist die Idee einer Einheit der Universität im Sinne der Einheit zumindest einiger Disziplinaritäten schwerlich aufrechtzuerhalten, werden Universitäten praktisch (im angelsächsischen Sinne) zu Schulen, also zum Beispiel Business Schools oder Medical Schools, die nur noch in ihrer Verbindung mit Universitäten daran erinnern, was einmal das Wesen einer Universität, nämlich Kosmos einer höheren Bildung und forschende Wissenschaftlichkeit in unbegrenzten Problemfeldern zu sein, ausmachte.

Hier den richtigen Weg zwischen dem uneinlösbaren Wesen der alten Universität und der Schulwerdung der neuen Universität zu finden, dürfte denn auch die eigentliche Aufgabe und die schwierige, aber unabdingbare Kunst einer künftigen Hochschulpolitik bzw. einer Universitätsentwicklung sein, die sich auch zur Selbststeuerung fähig erweist.


Dr. Jürgen Mittelstrass ist Professor am Zentrum Philosophie und Wissenschaftstheorie der Universität Konstanz.


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Nicolas Jene (
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Last update: 09.07.97