Neue Lehr- und Lernformen

Das Wissen ist weltweit allen Menschen zugänglich geworden. Ungeahnte Quellen des Wissens werden entdeckt. Forscherinnen und Forscher, Leute ohne Schulbildung, sogenannte Praktikerinnen und Praktiker, sie alle verfügen über relevantes Wissen. Lange waren die Hochschulen scheinbar der einzige Ort, wo Wissen entdeckt und gelehrt wurde. Heute liegt der Schwerpunkt beim Forschen und Lernen. – Der Autor plädiert für Lehrveranstaltungen mit neuartigen Lerngelegenheiten.

VON BRUNO KRAPF

Es wäre ja durchaus denkbar, dass die Lehrinhalte an einer Universität nur noch zu einem ganz kleinen Teil mündlich vorgetragen würden. Aus den Lehrveranstaltungen würden dann Lehr- und Lernveranstaltungen, in denen Bücher, Forschungsdokumentationen, wissenschaftliche Aufsätze, Videos, Computernetzwerke und Online-Dienste das Wissen «liefern» würden, das dann von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern studiert würde. Der Sinn solcher Zusammenkünfte läge darin, Fachpersonen zu treffen, die mit ähnlichen Interessen dabei wären, sich zu qualifizieren, Neues zu lernen und über Gelerntes nachzudenken. Das hätte allerdings Folgen:

 
Computer sind wichtige Lehr- und Lernhilfen. Doch gehen die neuen Lehr- und Lernformen weit über das rein Technische hinaus.

Illusion und Wirklichkeit

Es scheint, dass solche Utopien in der gegenwärtigen Zeit keine Verwirklichungschance haben. Nach einem alten Satz aus der Managementlehre wissen wir jedoch, dass Neuerungen oft schon lange existieren. Neu ist nur, dass sie beachtet werden. Ich bin Kindern in Asien begegnet, die mich auf englisch in ein Gespräch verwickelten. «Wir lernen Englisch.» Sie suchten sich das Wissen selber. Jugendliche unterrichten in unserem Lande ihre Informatiklehrerinnen und -lehrer, weil sie in einer ganz anderen Art lernen. Die Rollen sind vertauscht.

Mit ganz unterschiedlichen Programmen bilden sich in der Welt Menschen in verschiedensten Disziplinen aus. Sie arbeiten erfolgreich, obwohl sie nicht den gleichen Kenntnisstand haben. Einheitliche Programme scheinen unwichtig zu sein. High-Tech-Leute entwickeln mit Biologen zusammen eine Medikamentenanalyse. Die Grenzen zwischen den Fächern stören. Dass man Mathematik grundlegend über symbolische Darstellungen erlernen könnte, ohne irgendwelche Aufgaben zu lösen, ist für Studierende in Moskau Gewissheit. Es gibt verschiedene Erkenntniswege. Dass es Studierende gibt, die gegen alle Regeln der Lerntheorie lernen und dabei erfolgreich sind, ist kein Geheimnis. Dass wir von Unwissenden Informationen erhalten, die die Bedeutung des Wissens völlig verändern, kennen die Mediziner aus dem Alltag. Das alles ist längst Realität. Wie beeinflusst diese Realität aber die Lehr- und Lernformen?

Neue Lehr- und Lernformen

Vor Jahren gab es an den Hochschulen keine Hellraumprojektoren, keine Kopien und Skripten vor Stundenbeginn, und an computerunterstütztes Lernen hatte niemand gedacht. Grossprojektionen und Videokonferenzen waren undenkbar. Inzwischen gehören sie zum Standard des Hochschulalltags. Sind das die neuen Lehr- und Lernformen? Sie sind es nicht.

Natürlich stehen heute technische Hilfsmittel von hervorragender Qualität zur Verfügung. Wenn es möglich ist, die menschlichen Organe dreidimensional abzubilden, sie zu drehen, einzufärben, zu isolieren, ja in sie virtuell einzugreifen, dann halten die alten Körperatlanten dem Vergleich nicht stand. In allen Wissensgebieten gibt es hervorragende Lehr- und Lernhilfen. Wenn wir jedoch von neuen Lehr- und Lernformen sprechen, ist etwas anderes gemeint.

  1. Die Veränderung geht tiefer. Waren es erst noch die Professorinnen und Professoren, die über das Wissen an der Hochschule verfügten, erkennen wir heute, dass Wissen und Können viel breiter gestreut ist, dass die Nichtwissenden manchmal mehr wissen und dass die, die zu wissen glauben, sich gründlich widersprechen. Verlachtes wird grundlegend, Standardwissen wertlos. Wem gehört das Wissen? Das ist keine rhetorische Frage mehr. Die Antwort ist entschwunden.
  2. Die Macht der Wissenden zerfällt, wenn sie sich darauf einlassen, in Programmen Unwesentliches als wesentlich anzuerkennen, bei der Gestaltung von Lehr- und Lernveranstaltungen fremdes Wissen zuzulassen und wenn sie bei Prüfungen das für richtig gelten lassen, was sie selbst nicht überzeugen kann, andere aber als wissenschaftlich gesichert betrachten. Die Wissenschaftler erleben im Alltag, dass sie Suchende sind, und was erst noch als schmückendes Zitat galt, wird konfrontativ zur Herausforderung: Ich weiss, dass ich nichts weiss! Wir haben erfahren, dass sich nicht einmal die Natur an unsere Naturgesetze hält, und sind dabei, so abweichendes Verhalten je länger je weniger als Ausnahme zu betrachten. Die «Vorlesungsreihe» mit dem Titel «Was wir nicht wissen» ist noch zu gestalten.
  3. Die Wissenschaft hat sich aufgemacht, etwas von der Wirklichkeit zu verstehen. Verschiedene Disziplinen, Fächer oder Wissensgebiete haben sich im Laufe der Zeit herausgebildet. Mit der Zeit geriet die Tatsache in Vergessenheit, dass die vermeintliche Wirklichkeit das ist, was im Rahmen eben dieser wissenschaftlichen Ausrichtung ins Blickfeld gerät oder anders ausgedrückt, was unter den methodischen und interessierenden Gegebenheiten zur Wirklichkeit werden konnte. Wirklichkeit stellt sich als das Ergebnis von Konstruktionsprozessen dar, die aufgrund von wissenschaftlich definierten Wahrnehmungsgewohnheiten nicht mehr bewusst sind.
  4. Die Ungleichheit des Wissens bei den Spitzen eines Fachgebietes weist aber noch auf eine weitere Veränderung hin. Wissen scheint im eigentlichen Sinne nicht vermittelbar zu sein. Die Wissensdarstellung führt bei genauem Hinsehen dazu, dass die am Lernprozess Beteiligten, wenn sie sich wirklich beteiligen können, permanent neues Wissen generieren. Auf dem Hintergrund des individuellen Sprachverstehens, das den Zeichensatz der Sprache mit den individuellen Lebens- und Lernerfahrungen verbindet, entsteht eine deutliche Diskrepanz zwischen dem Gesagten und dem Gemeinten, und keine Definitionsliste kann diese Differenz aus dem Weg räumen. Was immer eine Person verstanden hat, hat mit ihr selbst etwas zu tun. Was sie dann als Wissen einsetzt, zeigt, dass durch sie ein neues Wissen entstanden ist. So konstruieren wir nicht bloss unsere wahrgenommene Wirklichkeit ausserhalb der eigenen Person, wir konstruieren auch eine eigene Welt des Wissens in uns.

Vor diesem Hintergrund entstehen weltweit neue Lehr- und Lernformen, die sich über drei zusammenhängende Bereiche erstrecken. Es sind dies der Bereich der Stoffauswahl und Programmgestaltung, der Bereich der eigentlichen Lehr- und Lernveranstaltungen und der Bereich der Prüfungen.

Die Stoffauswahl und die Programmgestaltung

Die Programmgestaltung in einem Fach ist nicht länger Sache der Lehrenden allein. Es gibt Entwürfe von den Professorinnen und Professoren. Studentinnen und Studenten gestalten jedoch mit. Sie bringen ihre Fragestellungen und ihre Lernerfahrungen ein. Sie melden vielleicht über Internet oder ­ weniger technisch ­ auf dem Anschlagbrett ihre Beiträge. Fachfremde Personen wirken mit, internationale Kontakte werden genützt. Und dann, wenn das Programm steht, gibt es Hauptwege und Nebenwege, die nicht von allen Studentinnen und Studenten beschritten werden. Neu beeinflussen Darstellungen über die unterschiedlichen Denkwege den Lernfortgang.

Die getrennte Fachdarstellung verschwindet mehr und mehr. Schon bei Studienbeginn werden fachfremde Fragestellungen berücksichtigt.

Fragen und Vorbehalte, Zweifel und Widerspruch. Zur Mitarbeit von Studentinnen und Studenten können sich manche nur mit Mühe bekennen. Wie sollen «Anfänger» wissen, was in diesem Fachbereich von Bedeutung ist, wie sollen sie mitreden können, wenn ihnen schlicht jede Grundlage fehlt.

Es fehlt ihnen die Grundlage der Lehrperson. Sie haben auch eine Grundlage, jedoch eine ganz andere. Es gilt, diese Grundlage als eine mögliche anzuerkennen und die Studentinnen und Studenten, wie es so schön heisst, dort abzuholen, wo sie wirklich sind. Daher ist es von grösster Bedeutung, den «Bahnhof» zu kennen, auf dem sie in ihrer Lerngeschichte angekommen sind.

Interdisziplinarität kann erst beginnen, wenn die Sicherheit in einem Fach gewonnen ist.

Da die Aufgaben und Probleme in unserer Welt nicht nach Fächern getrennt daherkommen und sich die Wissenschaft dazu verpflichtet, zu ihrer Lösung etwas beizutragen, ist diese erkannte Begrenzung zu überwinden. Interdisziplinarität ist nicht gleichzusetzen mit Oberflächlichkeit.

Gestaltung des Lehrens und Lernens

Die Trennung von Lehren und Lernen ist überholt. Einem Kurzvortrag folgen Kleingruppengespräche im Plenum, daraus entstehen Fragelisten oder Strukturdarstellungen, die den Fortgang des Lernens bestimmen. Unterschiedliche Auffassungen zu einem Thema stehen allen zur Verfügung, und der Sinn der Zusammenkunft besteht nicht so sehr darin, dass alle das gleiche zu hören bekommen, als vielmehr darin, dass Auseinandersetzung, Reaktionen, spontane Fragestellungen diskutiert werden. Die professionelle Darstellung allein genügt nicht mehr.

Individualisierung und Vertiefung sind zwei Begriffe, die in den Arbeitsformen Ausdruck finden. So kann es vorkommen, dass Studentinnen und Studenten für eine Zeit den Hörsaal, der bald einmal den Namen Arbeitsraum verdient, verlassen, um sich ungestört mit Hilfe von Arbeitsmitteln in eine Frage vertiefen

Andere Erkenntnisformen sind zugelassen. Metaphern bilden wirtschaftswissenschaftliche Zusammenhänge ab, und in Gedichtform wird erfahren, wie das Zusammenspiel der Organe zu verstehen ist. Das Bild eines Pointillisten sagt etwas anderes aus über die materiale Qualität von Licht als eine Definition aus dem Lehrbuch der Physik.

Vieles, was Brauchtum war, hat in den letzten Jahren eine eigentliche Umkehr erfahren. Neu ist es bei universitärem Lernen so, dass selbst im Vorlesungsbereich Studentinnen und Studenten zum Einsatz kommen, spezielle Themenbereiche darstellen, Gegendarstellungen verfassen, den Lehrenden «Hausaufgaben» geben. Professorinnen und Professoren ordnen Beiträge von Studentinnen und Studenten, betten Vorstellungen und Meinungen in das Wissensgebiet ein, erarbeiten unterschiedliche Strukturen und gehen der Vieldeutigkeit eines Sachverhaltes nach.

Fragen und Vorbehalte, Zweifel und Widerspruch. Auf diese Weise kann die Stoffmenge nicht behandelt werden.

Das ist richtig. Es geht auch nicht darum, etwas zu behandeln, es geht um wirkliches Lernen. Dass die Vollständigkeit des Wissens eine Fiktion ist, wird durch die unüberblickbare Zahl von Neuerscheinungen auf jedem Spezialgebiet klar.

Verlieren wir nicht das erstrebt hohe Niveau, wenn die Lernzusammenkünfte so organisiert werden, dass der Darstellung nicht mehr genügend Raum gegeben wird? Die technischen Darstellungsmöglichkeiten übersteigen heute die Präsentationsmöglichkeiten einer Lehrperson. Es ist nicht gedacht, dass sie nicht mehr zu Wort kommen soll.

Qualität und Prüfungen

Die Abfrageprüfung hat ausgedient. Sie gibt sowieso nur ein sehr mangelhaftes Bild von der Lernleistung der Studentinnen und Studenten. Der Akzent liegt heute bei der Identifizierung des Wissens und Könnens. Es gilt, das Studienergebnis im Ausschnitt kennenzulernen. Daher wirken die Studentinnen und Studenten auch bei der Prüfungsgestaltung mit. Sie bringen Unterlagen und Modelle mit, berichten von ihren Erfahrungen oder bereiten Demonstrationen vor. Sie nehmen Stellung zu einer Kurzdarstellung der Lehrperson oder tragen ihre Kritik zu einer vertretenen Auffassung vor. Eine gemeinsame Einschätzung der Prüfungsleistung erfolgt mit der ausgesprochenen Einschränkung, bloss von einem Ausschnitt Kenntnis genommen zu haben. Damit ist die fehlende Objektivität beim Namen genannt.

Fragen und Vorbehalte, Zweifel und Widerspruch. Was sind das für Prüfungen, in denen die Prüflinge zeigen, was sie können? Wird eine Prüfung nicht zu einer lächerlichen Demonstration des Gelernten, bei dem die Wissenslücken verborgen bleiben?

Der Gedanke, dass bei einigen Prüfungen das Wissen verborgen bleibt, muss tiefer beunruhigen.

Quelle der neuen Lehr- und Lernformen

Die berichteten Lehr- und Lernformen stammen zum Teil aus den hochschuldidaktischen Kursen, die der Autor seit mehr als zehn Jahren leitet, zum Teil aus internationalen Kontakten. Professorinnen und Professoren, Lehrbeauftragte, Assistentinnen und Assistenten haben oft ihre Erwartungen an das Lehren und Lernen formuliert und gesehen, dass universitäres Brauchtum manchmal gerade das verhinderte, worum sie sich bemühten. Sie wollten das originale Denken der Studierenden ins Spiel bringen und fanden es als Folge der langen Vorträge ausgeblendet. Sie wollten ein vertieftes Nachdenken und Forschen fördern und deckten es mit Stoffbergen zu. Sie erwarteten mehr Präzision im Denken und persönliches Engagement und zerstörten beides mit Lehrgängen, die keine Zeit zum Verweilen lassen.

Wissenschaftlich sein heisst hier, einen Zusammenhang zwischen dem, was geschehen soll, und dem, was sich wirklich ereignet, herstellen, und das erfordert tiefgreifende Veränderungen im Lehr- und Lernverhalten. Es braucht neue Lehr- und Lernformen.


Dr. Bruno Krapf ist Titularprofessor für Pädagogik am Pädagogischen Institut der Universität Zürich.


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Last update: 09.07.97