unimagazin Nr. 1/98

Ein Ausflug in fremde Gefilde

Durch die «ewigen» Wiederholungen des festgelegten Ablaufs verschaffen sich Rituale zeitlose Gültigkeit. Sie bieten sich somit an als Gegenpol zu einer sich immer rascher ändernden Welt. Ethnographische Spazier- und philosophische Gedankengänge zum schillernden und vielseitigen Phänomen Zeit.

VON ANDREAS ISLER

Foto: Martin Brauen (29739 Bytes)Rituale sind Zeitmaschinen, in denen Körper, Sprache und Vorstellungskraft zusammenwirken. Mönche beim Ritualtanz im Klosterhof, Zentral-Ladakh. (Bild: Martin Brauen)

Rituale sind, auf den ersten Blick betrachtet, in vielerlei Hinsicht so etwas wie Zeitvernichtungsvorrichtungen. Für Nichtbeteiligte, aber – aus was für Gründen auch immer – dennoch Anwesende wirken Rituale, die ja oftmals eine beträchtliche Zeit in Anspruch zu nehmen pflegen, schlicht langweilig. Die Zeit verrinnt, es scheint fast nichts zu passieren, und das wenige, das sich ereignet, wird unzählige Gebetsketten lang wiederholt. Rituale fressen Zeit auf, indem sie sie beanspruchen. Und gewisse Rituale vernichten die Zeit auch auf andere Weise, indem sie in festgelegten Abständen, beispielsweise jeden Monat oder jedes 25. Jahr, die gleichen Handlungen ablaufen lassen. Die Gewissheit solcher Wiederholungen missachtet das, worin sich Zeit manifestiert, nämlich die Veränderung, und macht so die Zeit zur Zeitlosigkeit.

Zeitloser Fluss

Ein frommer Hindu steigt jeden Morgen zum Fluss hinunter, zur Göttin Ganga, die er als Ma, als Mutter, anredet. Er taucht in den Fluss ein, macht Gesten der Verehrung, schöpft und vergiesst Wasser und spendet auf dem Rückweg allen Götterfiguren am Wegrand heiliges Wasser und Blumenknospen. Die Selbstverständlichkeit und Unbefangenheit, mit der diese Handlungen begangen werden, erstaunen mich. Das alltägliche Ausführen der rituellen Verrichtungen enthebt diese der fortschreitenden Zeit. Die Praxis ist nicht an einen bestimmten Menschen mit seiner individuellen Lebensgeschichte gebunden: Seit jeher wird so den Gottheiten gedient, eine allgemein segenbringende, sich günstig auswirkende Tätigkeit. Auf einer symbolischen Ebene kann das tägliche Eintauchen in den Fluss als eine Verbindung mit der unaufhörlich strömenden Lebensenergie, als ein Eingehen in die sich ewig erneuernde Zeit verstanden werden. Die Zeit wird hier nicht konsumiert, sondern man lässt sich von ihr einnehmen, sie ist keine geschichtliche Ereigniszeit, sondern eher ein unveränderliches Zeitelement, eine in unserem Verständnis zeitlose Zeit.

Jenseitige Zeit

Es gibt Rituale, die werden in regelmässigen Abständen durchgeführt (beispielsweise jeden Morgen oder immer am ersten Sonntag nach dem der Frühjahrs-Tagundnachtgleiche folgenden Vollmondtermin). Der Bezug zum Kosmos als zeitlichem Taktgeber ist bei den sich zyklisch wiederholenden Ritualen offensichtlich. Andere Rituale werden zu bestimmten Anlässen je nach Bedarf ausgeführt, Krankenheilungen zum Beispiel, Rituale zur Abwendung einer Hungersnot oder auch Totenrituale.

In den Totenritualen kommt meist sehr spezifisch die Zeitvorstellung einer bestimmten Gesellschaft zum Ausdruck, und zwar nicht nur die Vorstellung der Lebenszeit, sondern auch diejenige der den Todüberdauernden jenseitigen Zeit. Dabei kann grob zwischen eschatologischen, das heisst auf eine Endzeit ausgerichteten, und zyklisch bestimmten Modellen unterschieden werden.

In komplex ausgearbeiteten Festritualen treten im Buddhismus des Himalaja-Gebietes Maskentänzer auf, welche Erlebnisse der Verstorbenen im jenseitigen Zustand zwischen Tod und Wiedergeburt verkörpern. Die im Lauf dieser Zwischenzeit immer abschreckender werdenden Gestalten sind Dramatisierungen eines jenseitigen Theaters. Die dabei aufscheinende jenseitige Zeit ist diejenige, in der eine vollständige Erlösung aus dem ewigen Kreislauf der Wiedergeburten am ehesten möglich ist. Sie ist von spezieller Wirkkraft. Weitreichende Entscheidungen werden in den jenseitigen Zeiten vieler Völker getroffen (die uns geläufige Unterscheidung von Diesseits und Jenseits darf aber nicht als universal, das heisst bei allen Gesellschaften vorhanden, vorausgesetzt werden); die Zeitstruktur jenseitiger Zeit – ich verwende den Begriff dennoch, jedoch eingedenk der vorangehenden Anmerkung – scheint wie verdichtet zu sein, mit jähem Ausgang in neue Unendlichkeiten.

Zeitmuster

Viele Rituale nehmen bezug auf eine mythische Urzeit, auf die Zeit, als die Bedingungen des menschlichen Lebens geprägt wurden und die ersten Klan-Vorfahren die als Muster für alle späteren Generationen gültigen Verhaltensweisen zum ersten Mal ausführten und damit ein für allemal festlegten. Es gibt Rituale, in denen der urzeitliche Mythos im wahrsten Sinne des Wortes aktualisiert wird. Durch die rituelle Ausführung wird der Mythos nicht nur erinnert, sondern erlebbar in die Gegenwart versetzt.

Ein Mythos der Tiwi, eines nordaustralischen Ureinwohnervolkes, erzählt die Geschichte des Urvorfahren Purrukuparli, welcher ein Krokodilmann war, der von seiner Frau mit dem Mondmann hintergangen wurde. Während die Frau beim Mondmann war, starb das Baby von ihr und Purrukuparli, weil er es nicht selber ernähren konnte und sie weg war. In seiner Trauer nahm Purrukuparli das tote Kind und stieg mit ihm immer tiefer ins Meer hinaus. Dadurch hat er den Menschen bestimmt, sterben zu müssen. Bei jeder Totenfeier wird der Weg des Krokodilmannes nachvollzogen, die tote Person selber ist in Seelenform diesen Weg auch gegangen, um im Meer mit den Krokodilahnen zusammen zu sein.

Dieses Ritual stützt sich auf ein Muster aus einer jenseitigen, anfänglichen Zeit, die in den Vorstellungen präsent ist und in den Ritualen aktuell stattfindet. Der Bezugsrahmen, der eine solche Koinzidenz, ein solches Zusammentreffen, möglich macht, ist der exakt festgelegte Raum, wo Mythos und Ritual stattfinden, nämlich an den bestimmten Orten und Wanderrouten. Im Raum als gemeinsamem Nenner treffen Gegenwart und umfassende Urzeit zusammen. Die präzise Choreographie des Rituals lässt die gewöhnliche Zeit sich mit derjenigen heiligen Zeit schneiden, worauf die Raum- und Bewegungsanweisungen verweisen.

Übergangszeit

Eine besondere Bedeutung unter den verschiedenen Ritualkategorien nehmen die sogenannten Übergangsriten ein. Als Übergangsriten, Rites de Passage, werden Rituale bezeichnet, welche die Menschen von einem Zustand in einen nächsten geleiten, man könnte auch sagen, von einem gesellschaftlichen Status, einem Lebensabschnitt in einen anderen. Übergangsriten treten weltweit bei Anlässen wie Geburt, Namengebung, Initiation in die Erwachsenenwelt, Heirat und Tod auf.
Der französische Ethnologe Arnold van Gennep arbeitete eine allen Übergangsriten gemeinsame dreiteilige Struktur heraus, die sich in einer Phase der Trennung vom Bereich der Alltagsgesellschaft, einer Phase der Auflösung und Grenzerfahrung und einer abschliessenden Phase der Rückkehr in die Gesellschaft manifestiert. Mit dem Verlassen oder der Absonderung von der gewohnten Umgebung und den vertrauten Kontakten zu den Mitmenschen wird häufig auch die lineare Alltagszeit zurückgelassen. In der Übergangsphase, häufig eine Zeit der Prüfungen und Qualen, gelten andere Zeitmassstäbe, die Zeiten geraten durcheinander oder werden neu arrangiert.

Ein junger Mann aus dem Volk der Hamar, Südäthiopien, ist während seiner insgesamt viele Tage dauernden Initiation ein paar Tage lang ein kleines Kind.

In dieser Ritualphase sind der Initiand und sein Gehilfe mit Holzkohle und Butter tiefschwarz eingerieben. Auflösung von Körper- und Zeitstruktur ermöglicht erst die im Ritual angestrebte Veränderung. Die verändernde Kraft von Ritualen gründet zu einem grossen Teil auf dem Sich-einlassen auf eine Zeitdimension der unbedingten Wirksamkeit, sei dies eine mythische Urzeit, eine historische Zeit der Heilserfüllung oder eine Zeit, die von den Möglichkeiten eines Neuanfanges geprägt ist.

Schöpfungszeit

Rituale haben die Aufgabe, die verschiedenen Zeitstrukturen – hier die alltäglich fortschreitende Zeit, dort die jenseitige, aufgelöste beziehungsweise auf die Ewigkeit bezogene Zeit – miteinander in Verbindung zu bringen. Alltägliche Ritualpraxis vermindert die Übermacht der unaufhaltbar ablaufenden Zeit, indem im Ritual etwas wie Zeitschlaufen und die Einbettung in ewige Vorgänge praktiziert werden. Die Angst vor dem Neuen kann mit Ritualen wirkungsvoll gebannt werden. An Bruchstellen der gewohnten Lebenszeit jedoch, bei Tages-, Monats- oder Jahresübergängen, und vor allem zu Zeiten der Übergangsrituale, nimmt das Ritual sehr ausgeprägt auf eine jenseitige Zeit Bezug, lässt diese nicht nur durchscheinen, sondern aktualisiert sie und nutzt deren ausserordentliche Qualitäten.

Bei einem Initiationsritual der Nati auf Vanuatu in der Südsee werden dem in einen höheren Rang aufsteigenden Mann die lebendigen Bilder seiner Ahnengeister vorgeführt. Die Ahnen, welche die ewigen Gesetze repräsentieren, Recht und Ordnung garantieren undüberwachen, sind jenseitige Wesen, die Einfluss auf das Diesseits nehmen können. Sie verlängern gewissermassen den Einflussbereich angesehener Personenüber deren Tod hinaus. Gewisse Verstorbene werden durch die Absolvierung vieler Rituale nach und nach in Ahnen verwandelt, welche ihrerseits die uranfänglichen Schöpfungswesen sind. Ahnen stehen dadurch am Ende und am Anfang der Zeit, sind eigentlich den Zeitmassstäben der Menschen entrückt.

Die Schöpfungskraft jenseitiger Zeit kann durch Rituale angezapft werden. Dies geschieht in einer durch das Ritual bewirkten Transformierung, das heisst Umwandlung, von gewöhnlicher Zeit in wirkkräftige, vom Heiligen durchtränkte und der Vergänglichkeit entrückte Zeit, in der Veränderungen stattfinden können. Die Ritualtechniken wie Dramatisierung von Mythen mit Masken und Musik, Anrufungen, Rezitationen, symbolische Handlungen, um nur einige zu nennen, bringen solches zustande.

Wunscherfüllungen

Es gibt eine Schrift aus der Zeit der Hochblüte der arabischen Wissenschaft, derenübersetzter Titel lautet: «Vom Überführen dessen, was in der Potenz ist, in den Akt.» Dies heisst darüber, wie das, was als Möglichkeit angelegt ist, verwirklicht wird. Genau darum geht es meiner Meinung nach bei den Ritualen. Das, was als Idee – auch als Ideologie –, als Lebensentwurf und Segenswunsch latent unserem Leben unterlegt ist – fromme Menschen würden sagen: der göttliche Wille –, wird im Ritual aktualisiert, in die aktuelle Lebenssituation herübergeholt, in unser Sanduhrleben gepflanzt. Rituale haben mit Wunscherfüllung zu tun, mit dem Manifestwerden von Inhalten, die der Verwirklichung harren.

Das Überführen von der Möglichkeit zur Wirklichkeit geschieht durch die rituell bestimmte Handlung, das heisst durch eine in der Einheit von Körper, Sprache und Geist vollzogene Aktivität, einen magischen Akt, der Schöpfungsqualität hat. Diese Mächtigkeit verdanken Rituale ihrem raffinierten Umgang mit den Dimensionen der Zeit.

Dass Rituale heutzutage wieder vermehrt Beachtung finden, kann als ein Zeichen dafür gedeutet werden, dass die auf den Punkt gebrachte, das heisst eindimensionale und schliesslich armselige Wirklichkeitsauffassung, wie sie eine der Skepsis verpflichtete Betrachtungsweise hervorbringt, den Wunsch nach Einbettung in einen weiteren, die gegenwärtigen Bedingtheitenüberschreitenden Zusammenhang aufkommen lässt. Rituale sind (in ihrer Potenz nicht ungefährliche) Mittel zur Erzeugung, Erhaltung und schliesslich Transzendierung von umfassender Wirklichkeit.


Literatur


Andreas Isler (aisler@vmz.unizh.ch), lic. phil. I, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Völkerkundemuseum der Universität Zürich und Lehrbeauftragter am Ethnologischen Seminar der Universität Zürich.


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Nicolas Jene (upd@zuv.unizh.ch)
Last update: 13.05.98