Lesen aus Lebensbüchern

Die Aufnahmen in diesem Heft stammen vom 67-jährigen, in Zürich lebenden Fotografen Charli Schluchter. Nach jahrzehntelanger Arbeit als freier Theaterschaffender hat er sich Mitte der achtziger jahre zum Fotografen ausgebildet und seither immer wieder ältere Menschen porträtiert.

Dieses «unimagazin» setzt sich mit den unterschiedlichsten Aspekten des Älterwerdens auseinander. Was bedeutet es für Sie persönlich, älter zu werden?

Charli Schluchter: Im Unterschied zu früher ist das heute für mich eine tägliche, bewusste Angelegenheit: Jetzt habe ich also wieder einen Tag mehr. Das ist nichts Unangenehmes, sondern ein wunderbares Ereignis. Man könnte auch sagen, ein tägliches Erwachsenwerden. Aber ich bin ja erst 67 Jahre alt und noch dazu fähig, immer wieder etwas Neues zu entdecken.

1994 haben Sie sich als selbstständiger Theatermacher sozusagen selber pensioniert. Heute treffe ich Sie als Fotograf. Gibt es Gemeinsamkeiten zwischen diesen beiden Berufungen?

Eigentlich bin ich mit der Fotografie einfach auf eine weitere Bühne getreten. Das Publikum ist zwar an einem anderen Ort, ich bin aber immer noch der Agierende. Und weil ich mich auch beim Fotografieren vorwiegend mit Menschen auseinandersetze, ist es für mich wichtig, dass dieses Gegen-über mit mir in Kontakt kommt, dass wir uns gegenseitig voneinander ein Bild machen können.

Wie sind Sie zum Handwerk gekommen? Kunst allein reicht ja nicht aus für gute Fotos?

Vor vierzehn Jahren weckte der Besuch bei einer befreundeten Fotografin, vor allem ihre Arbeit in der Dunkelkammer, meine Neugier. Damals hoffte ich, über das Fotografieren Antworten zu finden für die künstlerische Auseinandersetzung mit dem, was mich beschäftigt.

Ich habe zunächst in Workshops geschnuppert und mich dann der Gruppe autodidaktischer Fotografen (GAF3) angeschlossen. Da versammeln sich ad hoc Leute, die das Metier der Fotografie näher kennenlernen wollen. Wir haben professionelle Fotografen engagiert, die uns so gut als möglich unterrichteten und führten. Daneben war ich Assistent bei der Fotografin Katharina Krauss-Vonow und bei René Groebli.

Handwerk bedeutet für mich aber ausser den technischen Grundlagen auch beharrlich an etwas dranzubleiben. Das heisst nicht, dass ich täglich mit dem Fotoapparat herumlaufe, sondern dass ich wach bin, mit all meinen Sinnen durch die Welt gehe.

In Ihren Fotoarbeiten, ich denke an die Ausstellungsprojekte «Arbeitsleben» oder «Porträt eines Dorfes», tauchen immer wieder ältere Menschen auf. Ist das auch eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Älterwerden?

Es stimmt, ich habe im Verlauf der letzten Jahre viele ältere Personen porträtiert. Dabei war mir immer klar, dass das auch mit meinem Älterwerden zu tun hat. Mich fasziniert nicht nur das Aussehen meines Gegenübers, sondern auch, was im Gespräch mit den zu Porträtierenden an Sorgen, an Geschichten, aber auch an Banalitäten zum Ausdruck kommt. Mich faszinieren die reichen, tragischen und freudigen Geschichten hinter den Gesichtern. Für mich ist das das beste Lebensbuch. Und da ich ein spielerischer Mensch bin, kommt dann irgendwann der Fotoapparat dazu.

In diesem Heft finden sich einige Aufnahmen von einem heute 96-jährigen Mann, Jakob Fehr, genannt Köbi. Ihn begleiten Sie seit Ende der achtziger Jahre fotografisch. Wie ist es zu dieser Arbeit gekommen?

Köbi lebte in einer Mansarde, die zu einer Wohnung gehörte, die ich in den siebziger Jahren bezog. Er wurde für meine Kinder eine Art Grossvater und für mich ein Begleiter und Freund, der nicht aus der unsteten Theaterwelt kam. Köbi hatte eine schwierige Vergangenheit, er war Verdingbub gewesen, Knecht, Fischer auf dem Zürichsee. Seine Geschichten sind für mich eine leise Lebensphilosophie geworden: dass man einfach so sein kann, wie Köbi es ist. Ich begann aufzuschreiben, was er mir erzählte. Diese Texte sind dann in mein letztes Theaterstück «Zwüsche Vögel und Fisch hockt de Liim» eingeflossen.

Was haben Sie für Zukunftspläne?

Vor allem wach bleiben und die Neugier bewahren können, auch wenn es mir mal körperlich schlechter gehen sollte. Das gibt mir erst die Kraft, von Visionen und Träumen zu reden.

Was das Fotografische betrifft, ergeben sich die Projekte. Im Rahmen der Arbeit für das «unimagazin» bin ich zum Beispiel auf die Idee gekommen, Rückenporträts von älteren Menschen zu machen (zwei von ihnen befinden sich in diesem Heft, die Red.). Gerade die Begegnungen mit Köbi geben mir einen guten Boden für diese Serie. Mit Unterbrüchen arbeite ich auch an einem Projekt über die Zürcher Weststrasse. Die Autos, die da täglich durchfahren, bilden den Sound für die Menschen, die an der Weststrasse leben. Und dann habe ich über vierzig Jahre nach dem Besuch der Kunstgewerbeschule vor kurzem das erste Mal wieder Kohle und Bleistift in die Hand genommen. Vielleicht ist das die Zukunft, das Malen.

Gespräch: Christine Tresch


unipressedienstunimagazin Nr. 3/97


unipressedienst – Pressestelle der Universität Zürich
Nicolas Jene (upd@zuv.unizh.ch)
Last update: 17.04.99