Meeresduft

VON HELEN MEIER

Solch beschwingte Tage hat er lange nicht gelebt.

Er unterlässt es, seiner alten Bekannten davon zu berichten, wartet auf seinen Geliebten, seinen Sohn oder Enkel, Freund, Vater, nie weiss er genau, wer er ist, wechselt Farbe und Gestalt, Erscheinung und Wirksamkeit. Er wartet gespannt, ob er seine Bitte erfüllen wird.

Bei der Wahl seines Berufs war ihm die künftige Möglichkeit, Geld zu verdienen, wichtig gewesen. Das anfängliche Medizinstudium musste er nach einem Jahr wegen Nichteignung aufgeben. Er wechselte in eine Bank, brach die Lehre ab, fing die Jurisprudenz an, nach vier Semestern gab er auch dieses Studium auf, ging
zur Bank zurück, zwang sich, bis zum Abschluss zu bleiben. In einer Niederlassung in London, dann in New York verbrachte er vier Jahre, kehrte in seine alte
Abteilung zurück. Er blieb ein untergeordneter Schalterbeamter. Er war zu wenig brillant, zu wenig kämpferisch oder willensstark oder wasauchimmer, er war vierzig. Wer es mit vierzig noch nicht geschafft hat, ist weg vom Fenster, der Spruch seines Vaters kam ihm in den Sinn. Die Bank verschwand in einer grösseren, er verlor die Stelle, gewann eine neue als Buchhalter in einem kleinen Gewerbebetrieb. Mit der Intensität, mit der er als Jugendlicher ein hohes Einkommen erstrebt hatte, lebte er nun mit der Tatsache seiner Grenzen. Er lebte sparsam, leistete sich die üblichen Freuden, alle zehn Jahre ein neues Auto, hie und da eine gute Mahlzeit, eine Reise, eine schöne Wohnung. Etwa um die fünfzig entdeckte er die Welt der Bücher, wurde ein leidenschaftlicher Leser und blieb es. Bücher halfen ihm über die Misere einer langweiligen Tätigkeit. Nur in seinen Träumen fanden die Abenteuer statt, die Liebe, überwältigend, berauschend, masslos, mit Leichtigkeit seine geheimsten Wünsche erahnend. Nach seiner Pensionierung fühlte er den Stachel der geheimen Selbstverachtung kaum mehr.

Ergeht es einem Machthaber gleich einer Hausfrau, einem Beamten, einem Angestellten, wenn die Zahl der mutmasslich noch verbleibenden Jahre an den Fingern abgezählt werden könnte – durchgedacht nicht, nur abgezählt, nüchtern und gefühllos abgezählt –, ist es gleichgültig, was getan oder nicht getan, was gelebt oder nicht gelebt, ob tausend Menschen umgebracht oder keiner, ob einer ein Niemand oder ein Jemand, ob einer ein Würstchen oder eine ein Tischchen – es ist vorbei, Hass, Liebe, Stellung belanglos.

In ihm aber ist noch ein Wunsch, ein hartnäckiger, der kein Traum bleiben will. Zu seiner Verwirklichung braucht er eines: Geld. Er braucht das, was an Bedeutung verloren hat. Noch ist es für seinen Wunsch nicht ganz Zeit. Er muss warten. Jeden Monat geht von seiner Pensionskasse eine kleine Summe zu seinem Guthaben über, er sieht sie hinübergehen mit zierlichen Trippelschrittchen und sich artig hinsetzen, sie trägt ein Hütchen mit blauem Schleier und roten Kirschen, eines, nach dem er sich umdrehen würde, ein Ascothütchen, wie es von einer richtigen Dame getragen wird, nicht von Trampeln, die, was auch immer sie anziehen, reizlos aussehen.
Er schweigt und wartet. In diesen beiden Zuständen, nur scheinbar passiv, entwickelt sich allerhand Köstliches. Er geniesst sein Essen ganz anders als zuvor. Nach der Wunscherfüllung wird ihm zu wenig Geld bleiben, um noch an ein Filet Rossini zu denken, zu wenig, um jemals sich wieder in eines dieser bescheiden wirkenden horrendpreisigen Restaurants zu wagen. Er geniesst seine verschiedenartigen kleinen Reisen. Das Rüttelbähnchen hat einen Schüttelrhythmus, der die Landschaft, die kleinräumige schäfchenglotzende putzige Idylle zum Kuhtanz bringt. Die Autofahrten sind durchwoben von Gefühlen des Nichtmehrlange, des Zumletztenmal. Doch kann es für ein Gefühl Erhebenderes geben? An seinem neuen Anzug hat er Freude wie nie zuvor. Er könnte der letzte sein, den er sich leisten kann. Er trägt ihn bei allen möglichen Anlässen. Er gibt auch mehr Einladungen, geizt nicht mit Auslagen für Weine und Spirituosen. Deshalb bekommt er auch mehr Gelegenheit, Leute zu besuchen. Er sitzt an fremden Tafeln und lässt es sich schmecken. Dank des Wunsches, der sein ganzes Geld verschlingt, hat sich sein Leben bereichert.

Er wartet auf seinen Freund, seinen Geliebten, Vater, Sohn je nach Art seines Auftretens, der Weise seiner Rede, der Mächtigkeit seines Befehls oder des Zaubers, mit dem er auf ihn wirkt, und er hofft auf ihn. Wird er ihm das Geld leihen, das ihm noch fehlt, das alles Entscheidende? Wird er sich herablassen, es zu tun? Er wird es ihm zurückzahlen, sobald er wieder ein Sümmchen gespart hat, es sich wieder in Bewegung setzt mit seinem poschwenkenden Schleifschritt. Er will keine Gnade, kein Geschenk. Geschenke und Gnaden verderben die Freundschaft, mehr noch jede Liebe. Es gibt keine ewige, alles wird später nachgerechnet, aufgezählt, keine Pralinenschachtel wird vergessen, jede Rösti, die gebraten wurde, wird gespeichert, ich habe dir neunundzwanzigmal ein teures Geburtstagsgeschenk gebracht und du? Nie hast du an diesem doch wichtigen Tag deinen Geldbeutel geleert, ein Kuss ist alles, was dir Geizhals in den Sinn kam.

Der Sommer mit seinen plötzlichen Gewittern, Abkühlungen, der jäh aufbrechenden Glut, ein Sommer mit Wolkentürmen, die rasch in eine blaue Bucht zerfliessen oder eine Stadt aufbauen, ein eilend stürmischer Sommer bringt ihm seinen Wunsch, bis jetzt noch ohne genaue Einzelheiten, ohne Ausschmückung geblieben, aus dem Phantastischen in Leibesnähe. Wird er wirklich werden? Er möchte es getan haben. In seinem einmaligen Leben möchte er ein Einziges getan haben. Er beginnt alles von seinem Ende her zu betrachten. Lohnt es sich, dass er sich rächt? Lohnt es sich, dass er einen Brief schreibt? Seine Schuhe putzt? Einen Blick in den Spiegel wirft? Dass er seine schöne Hose auch anzieht, wenn ihm niemand begegnen wird? Nicht die ihn erwählende Nobelpreisträgerin in Liebeskunst, nicht Gott, die beste und schlechteste Erfindung der Menschheit. An wem will er sich rächen? Woher kommen seine Gelüste? Hat sein Freund keine? Alt an Gedanken, ist er jung. Der kann keine Hassgedanken haben, die kommen erst später. Eine Reise um die Welt ist doch keine Rache, sagt er sich. Doch, genau das ist es. Neun-undzwanzig Jahre hat er in Verbindung mit einer ängstlich Herzkranken verbracht, die sich nicht mehr bewegt. Zu Hause will sie bleiben, ein paar Schritte im Garten, ein paar um ihren Esstisch, das ist alles, was sie sich noch zutraut. Adieu, wird er sagen, ich verreise, und zwar für sehr lange. Du hast mir genug Zeit gestohlen. Ich bin genug gekrochen, einmal im Leben möchte ich König sein. Du musst dir einen andern Tröster suchen. Falls er wiederkommt, ist sie gestorben. Nein, nicht gestorben, das ist ein zu milder Ausdruck, sie ist tot. Das heisst ein Nichts. Mit Genugtuung stellt er sie sich vor. Es gelingt ihm nicht ganz, keiner kann sich ein Nichts vorstellen. Selbst Asche ist noch Erde, auf der eine Rose wächst.

Sein Wunsch nach Rache für sein Angekettetsein ist der Stamm, aus dem der Ast seines andern einzigen Wunsches wächst. Für den braucht er nicht nur seine Beweglichkeit, sondern mehr als er besitzt, mehr, als ihm möglich ist zusammenzusparen. Die geizige Neurotikerin, er wundert sich, warum er sie so lange nicht verlassen hat, schenkt ihm ja nichts. Wird nun sein Freund, sein Geliebter, sein Vater, sein Sohn – wer ist er? – ihm helfen?

Noch macht der vergangene Regen die Luft frisch, der Sommer legt sich spät, aber prächtig an. Sein Wunsch findet nun eine Formulierung: Er will um die Welt gelockt sein. Keine Reise, die er mühsam mit schweisstreibenden Vorarbeiten zurechtbiegen muss. Routenwahl, Flüge, Abfahrtszeiten, Ankunftsmöglichkeiten, Erstklasshotels, Stadtbesichtigung, Theater, Meeresduft, einfach so das übliche, Fidschi-Inseln, Feuerland, Bucht von Kos, Galapagos, Totempfahl, alles wird ihm dargeboten werden ohne sein Bemühn, überall wird er das Wohlvorbereitete antreffen, den Mercedes mit Chauffeur, verbeugende Rücken, das Lächeln der Begrüssung, Champagner, an jedem Ort ein Seidenbett. Die Amerikanerin, die sich ihre Kaffeemaschine auf den Mount Everest schleppen liess, ist ihm ähnlich. Was wünschen Sie heute, Sir? Einen Ruhetag oder Aufregung der Sinne? Einen himmlischen Fisch, einen Mangopapayareis, eine kolumbianische Paella? Ja, und noch mehr, ich wünsche freudigst erwartet zu werden, bedient. Er hat eine Agentur gefunden, die solche Reisen vermittelt, natürlich zu einem höllischen Preis. Alle nur möglichen Wünsche sind auf Listen gesammelt. Es gibt auch eine Weltpauschale, von Tag zu Tag zu Nacht die vollkommene Überraschung, von Westen nach Westen, von der Arktis zur Antarktis, auf den Ozeanen ohne Übel.

Sein Geliebter, sein Vater enttäuscht ihn nicht. Ohne ihn wäre er nicht geboren, nicht überlebensfähig. Wie könnte er anders, die Liebenwürdigkeit selbst, leiht er ihm genau das, was ihm zur Buchung noch fehlt. Hast du mit dem Arzt gesprochen? fragt der Freundliche. Ach so, Tropenkrankheit, Cholera, Typhus, Pest. Was noch? sagt der Geliebte. Vor diesen Mücken, Ratten, Abwässern, Aborten bewahrt mich mein Arrangement, und keine Andersrassige wird mich je verführen. Bist du noch da? fragt er. Ja, warum nicht, sagt der Geliebte. Ich habe gemeint, du seist schon gegangen, sagt er. Weisst du, Malaria, wiegende Dschungelfieberträume, sprechende Paradiesschlangen, gutmütige Gorillas, die mich als alten Verwandten beäugen, Träume, in denen mir begriffsstutzigem Lieblingsschüler eine Sinfonie gespielt, Fiebernächte, Liebesfieberträume sind schliesslich besser als ein Schädel ohne Füllung und Kacke im Laken.

Der Geliebte hilft ihm packen, rät ihm, was er unbedingt mitzunehmen hat, fährt ihn durch den frühen Spätsommer zum Flughafen. Sie umarmen sich zärtlich. Du wirst viel erfahren, sagt er ebenso zärtlich, kehre gut zurück, adieu, adieu!

Wo ist der Gepäckträger? Der sollte laut Vertrag am Ende der Rolltreppe warten. Er stellt sich in die Reihe der Leute, treibt in der Masse durch einen Gang, bemerkt, dass er sich im falschen Trakt befindet, zum Terminal B muss er. Dort wird der rote Teppich liegen, der wurde schliesslich bezahlt und versprochen. Hallende Schritte wecken ihn aus seiner Versunkenheit. Ein Livrierter entwindet ihm höflich den Mantel, legt ihn neben die Herzkranke, greift sich an die Mütze, nickt, verschwindet in einen Seitengang. Der andere Träger wendet sich um, bitte, sagt er, deutet auf die Griffe. Schön, dich wiederzusehen, sagt die Frau, um ihre breitverzogenen Lippen Zufriedenheit, wann ist der Abflug? Er geht im Gleichschritt mit dem Vordermann. Die Leute weichen zur Seite. Alte Selbstverachtung lässt ihn zittern. Mit einem Ruck bringt er den Mann zum Stehen, stellt die Bahre hin, rennt. Irgendwohin, gleichwohin, mit der Bahn, nach Saanenmöser, nach Lützelflüh! Das Lächeln seines Geliebten, seines einzigen Sohnes auch noch zu ertragen, ginge über seine Kraft.


Helen Meier, 1929 in Mels geboren, arbeitete bis 1987 als Sonderklassenlehrerin. 1984 veröffentlichte sie ihren ersten Geschichtenband «Trockenwiese». Seither sind im Zürcher Ammann Verlag von ihr zahlreiche Erzählungen und Romane erschienen, zuletzt die Geschichten «Letzte Warnung», 1996.


unipressedienstunimagazin Nr. 3/97


unipressedienst – Pressestelle der Universität Zürich
Nicolas Jene (upd@zuv.unizh.ch)
Last update: 17.04.99