Am liebsten zu Hause

Wir möchten gesund und mobil bleiben bis ins hohe Alter. Krankheit und Abhängigkeit sind die Schreckbilder dieser Altersprojektionen. Das Leben der alten und betagten Leute spielt sich im Dazwischen ab. Fakten und Fiktionen zur Alterspflege heute.

VON ALBERT WETTSTEIN

Das Bild der Alterspflege in der Öffentlichkeit ist mehr durch Mythen als durch Realität geprägt (1): Es gebe einerseits die gesunden jungen Alten, die zu Lasten der Arbeitenden ihren Lebensgenuss maximieren, mit Generalabonnement und Flugzeug das tun, was wir in unseren Ferien gern täten, wenn uns nicht soviel Geld für die Alten abgeknüpft würde. Viagra sei dank, können sie auch noch ihre abwegige Phantasie ausleben, natürlich auch dies noch auf Kosten der Krankenkassen, die nur wegen der Mengenausweitung zuguns-ten der Betagten langsam unerschwinglich würden.

Andrerseits gebe es die senilen Alten, die an Alzheimer und anderen Gebresten leiden, von ihren Familien ins Heim abgeschoben und dort dank High-Tech-Medizin am Leben erhalten werden und ihren Tod wegen der vereinten Bemühungen des Pharma-Medico-Pflegeindustriekomplexes erst nach jahrelangem Leiden erleben dürfen.

Wünsche der Betagten

Dank vielen guten alterswissenschaftlichen Arbeiten sind die Wünsche der Betagten an die Alterspflege bekannt. Der Mehrzahl der Betagten sind vor allem drei Dinge wichtig: das Wohl ihrer Angehörigen und Freunde, die eigene körperliche und geistige Gesundheit und ihr Wohlbefinden. Dazu sind sie bereit, ihre Gewohnheiten den Empfehlungen der präventiven Geriatrie anzupassen und eine ungesunde Lebensweise (Rauchen, Bewegungsarmut, Junkfood) weitgehend zu vermeiden.

Falls sie hilfsbedürftig werden, wünschen sie sich Unterstützung im Erledigen ihrer Finanzen und des Haushaltes durch ihre Angehörigen, oder – falls diese nicht in der Nähe wohnen – von Nachbarn oder Bekannten. Deshalb ziehen auch viele Betagte nach der Pensionierung in die Nähe ihrer erwachsenen Kinder, nur eine kleine Minderheit in den warmen Süden.

Wird aus der gelegentlichen Hilfsbedürftigkeit eine eigentliche Pflegebedürftigkeit, so wünscht sich die Mehrzahl der Betagten Hilfe von professionellen Fachkräften und nicht von Familienangehörigen oder Bekannten, insbesondere von der Spitex.

An den Eintritt in ein Heim denken nicht einmal 30% der 70-Jährigen und 50% der über 85-Jährigen gedacht; auch sterben möchten über zwei Drittel der Betagten zu Hause. Sie sind viel eher, als ihre Angehörigen oder Bekannten meinen, bereit, Risiken einzugehen, wenn sie dafür weiterhin in ihrer gewohnten Umgebung – im hohen Alter meist allein – leben können.

Denn über 90% der Betagten fühlen sich – auch wenn sie allein leben – nicht oft einsam, gar 47% fühlen sich gar nie einsam. Sie investieren nicht nur Zeit in Beziehungspflege, gut ein Drittel unterstützt Kinder und Enkel auch finanziell. Entsprechend erhalten viele regelmässige Besuche, was nicht nur ihr Wohlbefinden, sondern auch ihre Gesundheit und ihren Aktivitätsgrad fördert, aber nur wenn der Besuch zum voraus angekündigt wird. Nur dank der Vorfreude und der Gewissheit, wieder besucht zu werden, können Besuche nachhaltig wirken. Spontane Besuche bei Betagten sind höchstens kurzfristig erfreulich, aber ohne andauernde Wirkung.

Alterspflege heute

Wie sieht nun die Realität aus in der heutigen Alterspflege? Hat sie sich den Wünschen der Betroffenen entsprechend entwickelt? Obwohl 21% der über 70-Jährigen sich gesund fühlen, leiden 99,6% unter mindestens einer Krankheit, 95% sogar unter einer objektiv mittelschweren Krankheit, davon 27% unter einem psychischen Leiden, meist Depression oder Demenz. Dabei sind einzelne depressive Symptome oder isolierte kognitive Störungen (vor allem Gedächtnisschwäche) mindestens doppelt so häufig wie die klar definierten eigentlichen psychischen Krankheiten.

Trotz dieser mit zunehmendem Alter immer häufigeren Krankheiten bleibt das Wohlbefinden der Betagten mit dem Älterwerden praktisch konstant und die Lebenszufriedenheiten dank ausgeprägten Copingstrategien erhalten. Diese beinhalten nicht einfach Verdrängen oder Nicht-wahr-haben-Wollen, sondern sind meist sehr bewusste kognitive Strategien wie der Vergleich mit früher oder mit anderen. Dies gilt auch für Demenzkranke, deren Wohlbefinden sich nicht signifikant von dem der kognitiv Gesunden unterscheidet.

Dass sich Betagte vermehrt einem gesunden Lebensstil zuwenden, zeigt hochsignifikante Wirkung: betagte Nichtrauchende, sich regelmässig bewegende Normalgewichtige leben zwar auch etwas länger, vor allem aber halbiert sich ihr Risiko, pflegebedürftig zu werden, und Behinderungen treten sieben Jahre später auf.

Das heisst, gesunder Lebensstil und gute medizinische Versorgung erhöhen nicht nur die Lebenserwartung, sondern verkürzen noch viel ausgeprägter die Lebensphase in chronischer Krankheit. Es kommt also zu einer starken Kompression der Morbidität im letzten Lebensabschnitt. Zurzeit sind Frauen vor ihrem Tod durchschnittlich zwei Jahre, Männer ein Jahr lang in mindestens einem Bereich des täglichen Lebens vor ihrem Tod auf Pflege angewiesen, ungeachtet dessen, ob sie mit sechzig oder mit neunzig Jahren sterben.

Dennoch ist Hilfsbedürftigkeit weit mehr von Alter, Geschlecht und sozialen Faktoren (Finanzen, Bildung, Umfeld) bestimmt (zu 51% der erklärten Varianz) als durch Krankheiten (zu 34% der erklärten Varianz). Die geklärte Varianz der körperlichen Krankheiten Betagter ihrerseits wird zu zwei Drittel durch Fehlmedikation oder Nebenwirkung von Medikamenten bestimmt und nur zu einem Siebtel durch die klassischen Risikofaktoren für Kreislauferkrankungen.

Die hohe Bedeutung der Medikationsfehler und Nebenwirkungen erstaunt nicht in Anbetracht der geringen Bedeutung, die der spezialisierten Altersmedizin im deutschsprachigen Raum zukommt. In randomisierten kontrollierten Studien ist mehrfach die Überlegenheit von geriatrischen Abteilungen beziehungsweise von geriatrischem Patientenassessment nachgewiesen worden ist: Es darf mit bis zu einem Viertel weniger Pflegeheimplazierungen und mit entsprechend geringeren Gesundheitskosten gerechnet werden, wenn multimorbide geriatrische Akutpatienten auf Geriatrieabteilungen betreut und rehabilitiert werden. Auch präventive Hausbesuche durch geriatrisch geschulte Gesundheitsschwestern sind kosteneffektiv und verhindern oft das Auftreten von Pflegebedürftigkeit oder schieben es hinaus. Diese Befunde konnten auch in der Schweiz bestätigt werden. Dennoch bleibt die geriatrische Versorgung in der Deutschschweiz nach wie vor sehr lückenhaft – auch in Zürich, wo die Geriatrie im Lehrkörper der Medizinischen Fakultät ebenso fehlt wie die Gerontologie an der Philosophischen Fakultät.

Das letzte Lebensjahr

Sehr gut ausgebaut dagegen sind Langzeitinstitutionen für Betagte, die Alters- und Pflegeheime, letztere werden in Zürich Krankenheime genannt. Insgesamt leben in der Schweiz ungefähr 7% der Betagten und 11 bis 18% der Hochbetagten über 80-Jährigen in Heimen. Der Anteil Pflegebedürftiger reduzierte sich von 1979 bis 1984 um 8 bis 10% bei den jungen Betagten und um 5 bis 6% bei den Hochbetagten.

Die überwiegende Zahl hilfsbedürftiger Betagter erhält Hilfe durch Angehörige und Bekannte. Im letzten Lebensjahr betrifft dies – unabhängig vom Sterbealter – 94% der Männer und 92% der Frauen, während nur 36% der Männer und 40% der Frauen im letzten Lebensjahr Spitexhilfe und 16% der Männer und 22% der Frauen andere bezahlte Haushalthilfen erhalten.

Die Spitalverweildauer in den letzten 52 Lebenswochen sinkt von durchschnittlich 6 Wochen bei den 65- bis 69-Jährigen auf 21/2 Wochen bei den über 90-Jährigen, während die Heimaufenthaltsdauer von 2 auf 22 Wochen ansteigt. Mit zunehmendem Sterbealter verschieben sich also die Gesundheitskosten markant vom Akutspital in den Langzeitinstitutionsbereich und bleiben im ambulanten Bereich konstant.

Die Tendenz, Betagte bei Erkrankung eher zu hospitalisieren, reduziert deren Mortalität nicht. Die Hospitalisierungshäufigkeit wird dabei vor allem durch das vorhandene Angebot an Spitalbetten bestimmt; dasselbe gilt für den Sterbeort. Patienten sterben unabhängig von ihrem früher geäusserten Wunsch, zu Hause sterben zu wollen, vor allem dann im Spital, wenn viele Spitalbetten zur Verfügung stehen. Höhere Spitexinvestitionen verhindern ebensowenig eine hohe Spital-Sterberate, wie sie Pflegeheimplazierungen verhindern, ein Befund, der auch für Zürich nachzuweisen ist.

Hingegen hat sich der Charakter der Pflegeheime markant verändert, seit die Wartefrist bis zum Eintritt stark gesunken ist: Ein Viertel der Neueintretenden sind Hospizpatienten, sie leiden an unheilbaren, zum Tode führenden Krankheiten und werden palliativ, ohne technische Medizin, aber mit guter Behandlung allfälliger subjektiver Befindensstörungen wie Schmerzen oder Atemnot in den letzten Tagen und Wochen ihres Lebens begleitet. Ein weiteres Viertel der Eingetretenen kann nach Wochen bis Monaten aktivierender und reaktivierender Pflege und gegebenenfalls Ergo- und Physiotherapie wieder nach Hause entlassen werden. Nur für die Hälfte der Patienten bleibt das Krankenheim ein Ort, an dem sie längere Zeit leben und gepflegt werden.

Auch bei diesen echten Langzeitpatienten ist der Alltag nicht medizintechnisch geprägt, es wird nur sehr selten High-Tech-Medizin eingesetzt. Auf lebensverlängernde Massnahmen wird verzichtet, wenn immer der Patient oder seine Familie dies wünschen. So kann die grosse Mehrheit der Heimbewohner in der Schweiz schliesslich ihrem Wunsch gemäss in der ihnen vertrauten Umgebung ohne stärkere Medizintechnik palliativ gut betreut im Heim selbst sterben.


FUSSNOTE

1) Die Broschüre «Mythen und Realitäten des Alters» kann beim Sektretariat des Zentrums für Gerontologie der Universität Zürich, Rämistrasse 74, 8001 Zürich, zum Preis von 20 Franken bezogen werden.


PD Dr. med. Albert Wettstein ist Co-Leiter des Zentrums für Gerontologie an der Universität Zürich und Chefarzt Stadtärztlicher Dienst Zürich.

unipressedienstunimagazin Nr. 3/97


unipressedienst – Pressestelle der Universität Zürich
Nicolas Jene (upd@zuv.unizh.ch)
Last update: 17.04.99