Magazin der Universität Zürich Nr. 2/97

Das Bab(b)el-Syndrom

Dass Sprache auch als Abbildung der Welt und damit als Weltbild im eigentlichen Sinne dieses Wortes aufgefasst werden kann, ist eines der grossen Themen des 20. Jahrhunderts. Dieser Gedanke impliziert, dass das Bild, das eine Sprache von der Welt macht, nicht nur das Denken einer Sprachgemeinschaft bedingt, sondern bereits die Wahrnehmung selbst beeinflusst. Sehen und Sagen, Wortwelten und Bilderwelten sind daher nicht unabhängig voneinander.

VON WOLFGANG MARX

Der Turmbau von Babel als Sinnbild menschlicher Überheblichkeit: mit irdischen Mitteln lässt sich der Himmel nicht erreichen (Bild Brueghel).

Obwohl die Telepathie in den Spekulationen der Parapsychologen einerseits und der Science-fiction-Autoren andererseits einen so selbstverständlich breiten Raum einnimmt, dass man meinen könnte, der Übergang zu einer allgemeinen Kommunikation via Gedankensprache stünde unmittelbar bevor, sind meines Wissens nie ernsthafte Versuche unternommen worden, die psycholinguistische Basis für die Möglichkeit einer derartigen Kommunikationsform zu untersuchen.

Ein wichtiger Ansatzpunkt für eine solche Untersuchung könnte die Frage nach dem Zusammenhang von Sprache und Psyche sein. Die klassische Linguistik tendiert dazu, Sprache als ein System sui generis zu betrachten und sie dementsprechend in der Forschung zu behandeln wie ein Paläontologe das Skelett eines Dinosauriers. Die immer und auf allen Feldern überforderte Psychologie ist ihr darin nur zu bereitwillig gefolgt, froh, sich die eigenen Probleme von anderen, wenn schon nicht lösen, so doch wenigstens formulieren zu lassen. Nachdem man lange Zeit auf dieser dürren Heide im Kreis herumgelaufen ist, beginnt sich allmählich die Einsicht Bahn zu brechen, dass psychische Prozesse ein integraler Bestandteil von Sprache sind. Dazu eine eindrucksvolle Illustration.

Signalhändler

In einem jener (seltenen!) Science-fiction-Romane1, die besser sind, als der Ruf des Genres, wird von Signal-Händlern berichtet, die die Milchstrasse durchstreifen auf der Suche nach intelligenten Rassen. Ziel ihrer Handelsbemühungen ist es, die Sprachen der betreffenden Lebewesen zu kaufen, in der Hoffnung, durch eine Vereinigung aller Sprachen der Galaxis eine umfassende, vollständige Beschreibung der kosmischen Realität zu gewinnen. Dass einmal nicht die Physik (Naturwissenschaft generell) als Universalschlüssel zu den Geheimnissen des Universums betrachtet wird, sondern die Sprache, ist ungewöhnlich genug – nicht nur für einen Science-fiction-Roman.

Die Grundüberlegungen der Signal-Händler lassen sich folgendermassen rekonstruieren: Jede Sprache impliziert ein Modell der Umwelt der Lebewesen, die sie sprechen, ein Modell, das jedoch begrenzt ist durch die Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten dieser Lebewesen. Wenn man nun davon ausgeht, dass über die gesamte Galaxis verstreut verschiedenartigste intelligente Lebewesen unter unterschiedlichsten Lebensbedingungen existieren, dann erscheint die Hoffnung durchaus nicht absurd, durch das Zusammenlegen aller in ihren Sprachen gespeicherten Erfahrungen eine umfassende Beschreibung der kosmischen Realität zu erhalten, ja, zu so etwas wie einer absoluten Wirklichkeit vorzustossen.

Kopfjagd

Das ethisch problematische Moment des Handels liegt darin, dass die Händler sich nicht damit begnügen, im Austausch gegen ihre überlegenen Technologien Wörterbücher und Grammatiken zu erhalten, sondern dass sie darauf bestehen, die zugehörigen Gehirne (einschliesslich der Sinnesorgane) geborener Sprecher dieser Sprache mitzukaufen. (Dass der Handel schliesslich scheitert und es zu einer für die Signal-Händler katastrophalen Auseinandersetzung kommt, liegt übrigens nicht daran, dass die «menschliche» Seite nicht willens oder fähig gewesen wäre, dergleichen zu liefern...) Diese Kopfjagd erscheint auf den ersten Blick vielleicht wie eine perverse Marotte, ist aber bei genauerem Zusehen nur folgerichtig; denn eine Sprache kann man nicht verstehen ohne den zugehörigen Kopf, in dem Sprache wirksam wird.

An dieser Stelle zeigt sich, wie zutreffend der Begriff des Signal-Handels gewählt ist. Bereits zu Beginn unseres Jahrhunderts hat der russische Nobelpreisträger Iwan Pawlow die Sprache als ein «zweites Signalsystem» bezeichnet, womit er zum Ausdruck bringen wollte, dass die Wörter der Sprache an sich keine Bedeutung enthalten, sondern dass sie lediglich als auslösende Signale wirken, im Rahmen der behavioristischen Sprachpsychologie sagte man später «cues» (Hinweisreize) dazu, die im Kopf des Hörers bestimmte psychische Reaktionen auslösen.

Gehirnhandel

Die Bedeutung eines Wortes ist somit kein Merkmal, das diesem anhaftet wie anderen Objekten Farbe oder Form. Das Wort trägt keine Bedeutung, es signalisiert Bedeutung. Diese ist also auch nicht am Wort selber zu gewinnen, sondern allein vermittelt durch den psychischen Prozess, der durch ein Sprachsignal im Kopf eines Menschen ausgelöst wird. Dass der Signal-Handel damit zugleich zum Gehirnhandel werden muss, ist nur die grausige Konsequenz dieser Überlegungen.

Telepathische Kommunikation

Dass psychische Prozesse ein integraler Bestandteil von Sprache sind, ist jedoch nur die eine Seite der Medaille, umgekehrt gilt in gleicher Weise, dass Sprache integraler Bestandteil psychischer Prozesse ist. Vor diesem Hintergrund soll jetzt die Frage nach der Möglichkeit einer wechselseitigen telepathischen Kommunikation diskutiert werden.

Zu den positiven Erwartungen, die sich an eine solche Möglichkeit knüpfen, gehört vor allem die Hoffnung, dass es auf diesem Wege zu einem besseren Verständnis zwischen den Menschen kommen müsste und damit auch zu einem Abbau von Vorurteilen und Hass. Jeder Mensch, so ist die Prämisse dieser Überlegungen, jeder Mensch lebt gewissermassen hinter einer linguistischen Wand, durch die nur schwache und missverständliche Signale nach aussen gelangen.

Die Sprache ist eine schwerfällige und im Kern inadäquate Methode der Kommunikation, durch die der Mensch seine Gedanken und Gefühle nur unvollkommen und verzerrt übermitteln kann. Viele Feinheiten des Denkens und Fühlens gehen durch die Grobheit der Sprache verloren. Unmittelbarer Austausch der Gedanken selber aber könnte einen solchen Informationsverlust verhindern, ja, es wäre sogar denkbar, dass Menschen, die sonst durch die Barrieren verschiedener Sprachen voneinander getrennt sind, über die Gedankensprache direkt miteinander kommunizieren könnten.

Diese Argumentation erweckt den Eindruck, als hätten wir jenseits der Sprache ein äusserst differenziertes Innenleben, das dann in einem sekundären Prozess erst zum Zwecke der Kommunikation mit anderen in Sprache umgesetzt werden müsste. Sprache wird in dieser Sichtweise reduziert auf ein Medium der Kommunikation. Nun liegt darin sicher eine zentrale Funktion der Sprache, Mittel zur Verständigung mit anderen zu sein, jedoch erschöpft sich die Rolle der Sprache nicht darin. Schon Herder hat in seiner berühmten Schrift über den Ursprung der Sprache darauf hingewiesen, dass Sprache wichtigstes Werkzeug und Medium des Denkens ist. Der direkte Umgang mit den Objekten der Aussenwelt wird im Denken ersetzt durch den stellvertretenden Umgang mit Symbolen. Auf diese Weise wird ein mentales Probehandeln möglich, wo direktes Agieren zeitraubend, gefährlich oder gar unmöglich wäre, weil die Objekte, um die es geht, momentan oder dauerhaft nicht verfügbar sind. Diese Möglichkeit des inneren Probehandelns emanzipiert den Menschen von der Abhängigkeit vom unmittelbar Gegebenen.

Sprache und Denken

Wenn Sprache auf diese Weise Medium des Denkens ist, erscheint es unsinnig, zu behaupten, dass Gedanken an sich bestehen könnten und erst in einem zweiten Schritt in Sprache umgesetzt würden. Die sprachliche Form ist ein integraler Bestandteil des Gedankens selber, der weder vernachlässigt noch gar einfach abgezogen werden könnte. Das Argument, die Sprache sei unzulänglich, weil sie die subtilen Feinheiten des Denkens nicht angemessen wiedergeben könne, dieses Argument erweist sich jetzt als unhaltbar. Es ist wohl in den meisten Fällen eher umgekehrt so, dass das Denken nicht annähernd die Subtilität und Differenziertheit erreicht, die die Sprache zulassen würde. Wenn wir also Schwierigkeiten im Denken und in der Verständigung mit anderen haben, dann wohl kaum wegen der Sprache, sondern weit eher trotz der Sprache.

Aus der Tatsache, dass Sprache integraler Bestandteil des Denkens ist, lässt sich ohne Schwierigkeiten folgern, dass Gedankenlesen nicht ein Ausschalten oder Umgehen der Sprache bedeuten kann. Gedankenlesen und Gedankensprache, wenn immer sie möglich sein sollten, würden lediglich zu einer Vermeidung des akustischen Kanals führen. Damit wäre, wenn wir einmal von möglichen Störungen in diesem akustischen Kanal absehen, keines der Probleme menschlicher Kommunikation gelöst.

Die Notwendigkeit, die eigenen Gedanken klar zu artikulieren, um sie anderen nachvollziehbar zu machen, bleibt bestehen – und auch die Notwendigkeit, sich dabei der Sprache oder eines anderen Repräsentationssystems zu bedienen. (Ein geübter Schachspieler ist beispielsweise in der Lage, direkt in Figurenkonstellationen zu denken.) Telepathie kann uns von der Gedankenarbeit nicht befreien; denn Unklarheiten in einem Kopf können wiederum nur zu Unklarheiten in einem anderen Kopf führen.

Gedankensprache gehört ins Reich der Fantasie

Wenn Gedanken zum überwiegenden Teil in sprachlich artikulierter Form existieren, versteht es sich ganz nebenbei, dass Sprecher verschiedener Sprachen nicht einfach per Telepathie die Sprachbarriere überwinden können. Die universelle Gedankensprache, mit deren Hilfe alle intelligenten Lebewesen des Kosmos ohne Schwierigkeiten miteinander kommunizieren könnten, immer vorausgesetzt, sie treffen jemals aufeinander, diese universelle Gedankensprache gehört ins Reich der Fantasy, nicht in das der Science-fiction.


Literatur

1 Ian Watson: Das Babel-Syndrom. München: Heyne 1983.


Dr. Wolfgang Marx ist ordentlicher Professor an der Abteilung Allgemeine Psychologie der Universität Zürich.


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Last update: 20.07.97