Magazin der Universität Zürich Nr. 2/97

Bildwerdung durch Wandlung

Der Buddhismus stand am Anfang jenseits des Bildes; er war eine anikonische Religion und stellte zentrale Gestalten und Wesenheiten seiner Glaubenswelt durch Symbole dar: den Buddha etwa durch seine Fussabdrücke, das Rad seiner Lehre oder das über seinen Reliquien errichtete Mahnmal, den Stupa oder die Pagode. Der Religionsstifter Sakyamuni (565 bis 486 v. Chr.) entzog sich nach seinem Abschied aus dieser Welt – seinem Eingehen in die erleuchtete Vollkommenheit des Nirvana – der auf empirische Wahrnehmung diesseitiger Phänomene beschränkten Menschheit. Seinem Wesen nach wurde er als prinzipiell unanschaubar und deshalb auch nicht darstellbar gedacht, ja jeder Versuch einer bildlich-personalen Gestalt könne nur eine trügerische Verfälschung des wahren Absoluten sein, glaubte man.

VON HELMUT BRINKER

Ajigi'e, «Illustrierte Auslegung der Keimsilbe a». Detail einer Handrolle. Tusche und Farben auf Papier. H. 26,1 cm L. 687 cm. Frühes 13. Jh. Fujita Art Museum, Osaka.

«Das höchste Wahre ist ohne Bild. Gäbe es aber gar kein Bild, so gäbe es keine Möglichkeit, wodurch es sich als das Wahre zu manifestieren vermöchte», lautet gleichsam entschuldigend einer der theologischen Erklärungsversuche auf einem im Berliner Museum für Ostasiatische Kunst erhaltenen chinesischen Buddha-Bild aus Stein, das im Jahr 746 n. Chr. entstand. Erst im ausgeprägten Ritenwesen des voll entfalteten Mahayana, des «Grossen Fahrzeugs», etablierte sich der Bilderkult und gelangte rasch zu voller Blüte. Buddhistische Kultbilder dienten als anschauliche Manifestationen der in heiligen Texten ausführlich beschriebenen Wesenheiten und als Kristallisationspunkte religiöser Verehrung, oder sie galten als formale Gefässe, in denen die Gottheiten nach beseelender, gleichsam magische Lebenskraft verleihender Konsekration permanent anwesend waren oder doch zumindest während eines an sie gerichteten Rituals aktualisiert werden konnten.

«Wirkkraft der Drei Geheimnisse»

Einer der Wege zu solcher Aktualisierung, die namentlich im esoterischen Buddhismus begangen werden, führt durch die «Wirkkraft der Drei Geheimnisse», sanmitsu kaji, zum angestrebten Ziel: in letzter Konsequenz zur Einswerdung mit der Gottheit. Durch sie vermag der Gläubige sich die Wesenheit auf drei Existenzebenen oder in verschiedenen Manifestationsformen zu vergegenwärtigen: auf der Stufe des Phonetischen oder Verbalen, auf der Stufe des Mentalen und auf der Stufe des Körperlichen.

Dainichi in Gestalt seiner «Keimsilbe» a. Hängerolle. Farben und Gold auf Seide. H. 85,4 cm, B. 39,3 cm. 14. Jh. Nationalmuseum Tokyo.

 

Zuerst ruft er sich im «Mysterium des Wortes [oder des Mundes]», kumitsu, den jeder Gottheit des buddhistischen Pantheons zugeordneten mystischen Urlaut in Erinnerung, spricht diese phonetische «Samen- oder Keimsilbe», shuji, aus oder rezitiert die entsprechende magische Formel, darani, mit der sich böse Kräfte bannen und gute herbeirufen lassen. Auf der nächsten Kondensationsstufe trachtet er durch das «Mysterium des Geistes», imitsu, mit seiner Einbildungskraft den magischen «Samenlaut» zum Keimen und Wachsen zu bringen und in das zugeordnete Symbol, sanmaya (eigentlich «Vereinbarung, Übereinkunft, Konvention») zu verwandeln, in dem sich Wesen und Essenz der Gottheit in konzentrierter Form sammeln. Aus dem stellvertretenden Sinnbild entwickelt er schliesslich das figurale Abbild, songyo. Diese personale Gestalt der Wesenheit muss bis ins letzte Detail übereinstimmen mit den in heiligen Texten formulierten ikonographischen Eigenheiten oder den Merkmalen der korrekt ausgestalteten Ikone.

Der Gläubige unterstützt diesen vom «Geheimnis des Körpers», shinmitsu, bewirkten Akt der Bildwerdung durch ein mit den Händen geformtes symbolisches «Siegel», in, besser bekannt unter dem Sanskritbegriff mudra. Die «Drei Geheimnisse», sanmitsu, der mystisch-magische Urlaut, das durch meditative Schau evozierte Sinnbild und die mit dem Handgestus ausgelöste figurale Imagination einer Gottheit, bilden im esoterischen Buddhismus Grundlage und Voraussetzung zur Realisierung des Heilsziels, nämlich bereits «in dieser körperlichen Existenz zum Buddha vollendet zu werden», sokushin jobutsu. Die Umsetzung der «Keimsilbe» zum Symbol und dann zum Bild ist in Japan als tenjoho bekannt, wörtlich «Methode der Vollendung (der Gottheit) durch Wandlung».

Mystische «Keimsilben»

«Keimsilben» oder shuji signalisieren im metaphysischen Sinne die Heilswahrheit als Prinzip und Ursprung des Seins. Sie sind die «Samen» des Absoluten, zugleich Keimzellen und Nährboden für die mystische Identifikation des Gläubigen mit der Gottheit. Jeder Buddha, Bodhisattva oder jede andere Wesenheit in ihrer Totalität, ja alles Existierende – sei es dem materiellen, dem geistigen oder sogar dem transzendenten Bereich zugehörig – lässt sich nach Anschauung des esoterischen Buddhismus auf der Ebene des Lautlichen auf eine Ursilbe reduzieren. Wenn diese mystischen «Keimsilben» von der Stufe des Lautlichen auf die der anschaulichen Wahrnehmung überführt werden sollen, müssen sie geschrieben werden, und dazu bedient man sich eines speziellen, meist nur von Priestern und Eingeweihten beherrschten Typus der indischen Brahmi-Schrift, siddham genannt. Das Sanskrit-Wort wird im Japanischen mit shittan transkribiert und bedeutet wörtlich «Erfolg, Vollendung». Die mit breitem, flachem Pinsel ausgeführten, isolierten und in der gewöhnlichen Sprache bedeutungslosen Silben, wie etwa a-vi-ra-hum-kham, leiten in ihrer Entrückung von der profanen Kommunikationsebene auf eine mystische Stufe erleuchtender Heilsessenz über. In äusserst konzentrierter Form und in Übereinstimmung des Phonetischen mit dem Visuellen führen die shuji die Anwesenheit der Gottheiten vor Augen, in diesem Fall der «Fünf Buddhas Esoterischen Wissens», gochi nyorai. Ohne den Umweg über das figurale Bild vermag der Gläubige ganz unmittelbar die Wesensgleichheit zwischen der im geschriebenen Zeichen gegenwärtigen Gottheit und seinem Selbst zu realisieren.

Ursprung des Buddha-Worts: a

Wie ein mittelalterlicher japanischer Maler sich diesen Prozess vorstellte, sehen wir in einem Abschnitt einer Handrolle aus dem 13. Jahrhundert im Fujita Art Museum, Osaka. Ein elegant gekleideter, in tiefe Meditation versunkener Aristokrat bringt in seinem Innern auf einem Lotossockel und von einem kreisrunden Nimbus umschlossen den Laut a zur Entfaltung, der silberne Doppelstrahlen in alle vier Himmelsrichtungen aussendet. Der Vokal a, der nicht nur in unserem Alphabet am Anfang steht, sondern auch in allen indischen Schriftsystemen, gilt als der Ursprung des Buddha-Worts, gleichsam als «Mutterschoss» aller Schriftzeichen. Er repräsentiert insbesondere das absolut anfanglose Sein des ungeborenen und unerschaffenen kosmischen Ur- oder All-Buddhas, des «Grossen Ringsumher Leuchtenden», wie sein Sanskrit-Name Maha-Vairocana wörtlich übersetzt lautet. Auch die sino-japanische Übertragung Dainichi, «Grosse Sonne», trägt diesem universalistischen Erleuchtungsprinzip Rechnung.

«Mandala der Mutterschoss-Sphäre»

Dainichi thront als gekrönter Weltenherrscher inmitten des «Man.d.alas der Mutterschoss-Sphäre», Taizokai mandara, auf den Blättern einer achtblättrigen Lotosblüte, umgeben von den Buddhas, die den vier Kardinalhimmelsrichtungen zugeordnet sind, und von den vier wichtigsten Bodhisattvas. Ein vielfältiges, um die Zahl Fünf gruppiertes Entsprechungssystem verweist auf die fünf kosmischen Elemente als konstituierende Faktoren der Existenz, auf die fünf Grundfarben, in denen die Man.d.alas in der Regel gemalt sind, auf die fünf Kreise oder Vitalitätszentren, die der Meditierende im Innern seines Körpers zu aktivieren hat, die fünf fundamentalen Hand-«Siegel» oder mudras, die fünf Sinne, die fünf Geschmäcker und manche andere Fünfer-Konstellation. Letztlich basiert die Konzeption des Man.d.alas auf der kosmologischen Vorstellung von der Welt als einem heiligen Bezirk oder einer nach geometrischen Prinzipien aufgebauten Stadt, mit einem Tempel- oder Palastberg im Zentrum, der axis mundi, mit einer quadratischen, gegen die Aussenwelt abschirmenden Umwallung und mit Toren in allen vier Himmelsrichtungen. In einer so gegliederten geometrischen Grundstruktur können die einzelnen Gottheiten des buddhistischen Pantheons sowohl in personalen sakralen Konfigurationen als auch durch ihre stellvertretenden Symbole und durch abstrakte phonetische Elemente in siddham-Zeichen, durch ihre «Samenlaute» oder «Keimsilben», vergegenwärtigt werden.

«Mandala der Diamant-Sphäre»

Das antithetisch konstruierte Pendant zum Taizokai mandara ist das «Mandala der Diamant- oder Vajra-Sphäre», Kongokai mandara. Dieses kosmische Diagramm weist keine in sich geschlossene Struktur auf und entfaltet sich daher auch nicht synchron aus dem Zentrum heraus wie das Taizokai mandara, sondern es gliedert sich in neun Felder – als «Versammlungen» der Gottheiten bezeichnet –, die der gläubige Betrachter linear nacheinander in einer logisch deduktiven Folge durchschreitet. Im Kongokai mandara nehmen zu einem guten Teil Symbole und Embleme den Platz der Gottheiten ein. Zwei der «Versammlungen» bestehen ausschliesslich aus stellvertretenden Symbolen, die personalen Kultbildern gleich auf einem Lotossockel und von einem züngelnden Flammennimbus umfangen vor rotem Hintergrund auf kreisrunde weisse «Mondscheiben», gachirin, projiziert erscheinen.

Mandala der Mutterschoss-Sphäre. Detail einer Hängerolle. Farben und Gold auf Seide.H. 185,3 cm, B. 163,2 cm. 9. Jh. Toji, Kyoto. Mandala der Diamant- oder Vajra-Sphäre. Detail einer Hängerolle. Farben und Gold auf Seide. H. 186,2 cm, B. 163,4 cm. 9. Jh. Toji, Kyoto.
       
Mandala der Mutterschoss-Sphäre in «Keimsilben». Detail einer Hängerolle. Kolorierter Holzplattendruck auf Papier. H. 70 cm, B. 58,4 cm. 16./17. Jh. Toji, Kyoto.    

Die zweifellos bedeutendste Version der «Man.d.alas der beiden Sphären», Ryokai mandara, stammt aus der Mitte des 9. Jahrhunderts. Die beiden monumentalen, mit prächtigen Farben auf Seide gemalten Hängerollen sind in einem der wichtigsten Zentren des esoterischen Buddhismus Japans erhalten geblieben, dem Toji in Kyoto.

Visualisation des Schriftzeichens a

Die «Visualisation des Schriftzeichens a», ajikan, besitzt im esoterischen Buddhismus einen hohen Stellenwert, weil sie der Vergegenwärtigung des Ur-Buddhas Dainichi gilt. Unter Rezitation der «Fünf Magischen Bannsilben» a-vi-ra-hum-kham., und dem feierlichen Ablegen der «Fünf Grossen Gelübde» sowie reinigenden und den Geist zu erleuchtender Schau anregenden rituellen Handlungen richtet der Gläubige seinen Blick auf eine Hängerolle, auf der in isolierter Kondensation das Zeichen a in der eigenwillig markanten siddham-Schrift erscheint. Aufgerichtet auf einem doppelten Lotossockel steht es vor einer golden leuchtenden Kreisscheibe, und diese dient – den vollrunden «Mondkreis» suggerierend – für die meisten Visualisationen als meditativer Grund und als Projektionsfläche.

Auf der Aji mandara-Hängerolle im Nationalmuseum Tokyo aus dem 14. Jahrhundert trägt ein dreispitziger vajra die beiden Lotossockel. Er ist Symbol für das unzerstörbare Absolute, für Dainichi, und heisst auf Japanisch kongo. Ursprünglich mag er in den Händen des vedischen indischen Gotts Indra eine magische Waffe, ein Donnerkeil oder Blitzbündel, gewesen sein. Im esoterischen Buddhismus Ostasiens wurde er – vor allem dank seiner sprichwörtlichen Unzerstörbarkeit und alles durchschneidenden Härte mit dem Diamant verglichen – zu einem unverzichtbaren Kultgerät, das die unwiderstehliche uranfängliche Buddha-Natur verkörpert.

Wie eine Gottheit auf einem würdevollen Vajra- und Doppellotosthron nimmt das im Zentrum der Lautmystik stehende Zeichen a den Platz einer personalen Kultfigur ein. Es erfüllt damit die Stellvertretungsfunktion für das in meditativer Schau zu visualisierende und für das zur Identifikation des Selbst gereifte lautlich-schriftliche Urbild des kosmischen All-Buddhas Vairocana. Seine Bildwerdung durch Wandlung entspricht letztlich der individuellen Vergegenwärtigung des Absoluten im Geheimnis des Körpers und lässt den Gläubigen in der mystischen Vereinigung mit dem visualisierten Buddha die eigene «Vollendung zum Buddha in diesem seinem Körper erfahren», sokushin jobutsu.


Dr. Helmut Brinker (hbrinker@khist.unizh.ch) ist ordentlicher Professor für Kunstgeschichte Ostasiens am Kunstgeschichtlichen Seminar der Universität Zürich.


unipressedienst unizürich-Magazin


unipressedienst – Pressestelle der Universität Zürich
Nicolas Jene (
upd@zuv.unizh.ch)
http://www.unizh.ch/upd/magazin/2-97/
Last update: 20.07.97