Magazin der Universität Zürich Nr. 3/96

Gefühle, Silhouetten, Einsamkeit: Comics lesen

Die Mitglieder jeder Generation erwachen als lesende Wesen inmitten einer Stilwelt zeitgenössischer Medien, und in diesen Medien sind dementsprechend wichtige Teile ihrer Erinnerung kodiert1. Als ich lesen lernte, war die deutsche Ausgabe der Micky Maus vier Jahre alt. Die Serie «Tim und Struppi» erschien im selben Jahrzehnt nach und nach auf deutsch. Vieles, was ich über die Welt und die Menschen weiss, verdanke ich dem Tim von Hergé und dem Donald Duck von Carl Barks. Dass Erfahrungen mit Medien sich auch zwischen den Generationen übertragen, darum geht es in der folgenden Begebenheit.

Der sechsjährige Sohn sass in der Küche auf dem Schoss des Vaters. Man war vor einer Weile mit der Geschichte von Tim, Tschang und dem Yeti2 fertiggeworden und stärkte sich nun, hungrig von den geteilten Strapazen, mit einem Imbiss. Da holte die Familie ein, was ein Kritiker später so beschreiben sollte: «Allein das letzte Bild – der Yeti blickt der mit Tschang wegziehenden Karawane nach und bleibt allein zurück – ist das emotionalste Bild, das Hergé je gezeichnet hat.»3

Wieviel Macht und Ohnmacht ist mit der Fähigkeit des Lesens verbunden.
 

Plötzlich versiegte nämlich des Knaben sonst so reicher Redestrom. Er wurde ganz still, versuchte erfolglos etwas zu sagen und brach dann in Tränen aus. Seine Mutter eilte besorgt herbei. Das Augenwasser strömte in Bächen über sein Gesicht, und die Kommunikation war schwierig. «Der Yeti ist so allein», verstanden die Eltern schliesslich. Der Knabe mied fortan diesen einen Band, die anderen aber betrachtete er unzählige Male. Bald wird er sie allein lesen können, und dann wird sich für ihn die Frage von Tim in Tibet in neuer Weise stellen.

Allein wie der Yeti

Der Vater seinerseits hatte an Donald Duck erfahren, wieviel Macht und Ohnmacht mit der Fähigkeit des Lesens verbunden ist. «Guten Abént!» las er im Frühjahr 1955 wieder und wieder laut vor sich hin – er muss wie eine zerkratzte Grammophonplatte getönt haben. Es gelang ihm einfach nicht, den Sinn dieser klangvollen Silben zu finden. Was war «Abént»? Etwas wie Advent? Die Worte standen an einer dramatischen Stelle von Donald Duck und der Goldene Helm4 und wurden dort gesprochen von der dunklen Silhouette des schurkischen Justizrats Wendig, der neben Donald ebenfalls hinter dem goldenen Wikingerhelm Olafs des Blauen her war. (Wie Tim in Tibet spielt übrigens auch Donald Duck und der Goldene Helm vor einer Kulisse aus Kälte und Eis.)

Der Vater wohnte damals in einem Kinderheim. Er fühlte sich so alleine wie der Yeti, und am schlimmsten waren die Zeiten der verordneten Mittagsruhe. Er lag auf seinem Bett, starrte an die Decke und hatte Heimweh. Was den Sohn viele Jahrzehnte später zum Weinen brachte, war also nicht nur das Zurückgelassenwerden des Yetis, noch die in Biographien erwähnte Depression des Zeichners Hergé, sondern auch das unbewusste Bedürfnis des Vaters, dem Sohn beim Erzählen mitzuteilen, wer er, der Vater, sei – es liess ihn wohl mehr Pathos in die Schilderung des Schlusses legen, als es die Geschichte und das zarte Alter des Sohnes rechtfertigten.

Im Kinderheim hatte der Vater irgendwann die Leiterin schüchtern gefragt, ob es vielleicht erlaubt sei, über Mittag zu lesen...? Aber sicher, hiess es. Von diesem Tag an war er abhängig. Fluchtliteratur jeder Art half ihm immer wieder dabei, die alltäglichen Schwierigkeiten soweit zu verdecken, dass er davon Abstand gewinnen konnte. Nach der Zeit, die es brauchte, die Kurzgeschichte oder den Comicband zu lesen, fühlte er sich meist wieder stark genug, es mit der Realität aufzunehmen.

«You are not alone...»

Während den frühen Jahren einer Sucht ist man weder Kenner noch Geniesser. Erst später ging dem Vater auf (und er fand sich darin durch die Sekundärliteratur bestätigt), welch geniales Stilmittel die kleinen Silhouetten der Ducks vor dem Himmel von Entenhausen sind, die Carl Barks von Zeit zu Zeit in seine Bildergeschichten einbaute. Was sie ausdrücken, ist nicht so leicht zu sagen. Eine grosse Distanzierung, ein Abstandnehmen von den Verwicklungen der Geschichte und ein Verweisen auf das Universum, von dem Entenhausen ebenso ein Partikel ist wie Zürich oder Amden (dort stand das Kinderheim). Die Silhouette ist das Resultat eines gottähnlichen Blicks aus weiter Ferne auf Donald, Tick, Trick und Track, Onkel Dagobert, Gustav Gans, Daisy und all die andern. Der Silhouette entspräche in der Musik vielleicht ein vorsichtig eingesetzter Echo-Effekt. Der Blick aus der Ferne bedeutet: «You are not alone / Ich lese euch.»

. . . Übergang zu Traumbildern

Nicht nur bei Missmut und Attacken von Lebensangst, auch bei physischer Erschöpfung sind Comics diejenige Form von Gedrucktem, die das müde Auge gerade noch erträgt. Wenn sich der Blick beim Lesen von Romanen überkreuzt und die Zeilen sich in verwirrender Weise übereinanderschieben, ist es Zeit, noch einmal zum Bücherregal zu gehen und einen Comicband auszuwählen, als endgültig letzte Lektüre für die Nacht.

Zufrieden folgen die Augen den erzählenden Bildern von links nach rechts, von links nach rechts, bis diese Bilder uns von selber entgegenzuströmen scheinen, von rechts nach links, um schlussendlich überzugehen in die Folge der Traumbilder.

Guten Abént.

Dieter Sträuli


Literatur

1 Kodiert vielleicht im Sinne von Freuds «Deckerinnerungen». Freud, S. (1899a). Über Deckerinnerungen. In Freud, S. (1977), Gesammelte Werke, Bd. 1, Frankfurt: Fischer, 531­554.

2 Hergé. (1960). Tintin au Tibet. Paris: Casterman.

3 Gasser, C. (1997). Prädikat: Wertvoll. Kleine Apologie eines unterschätzten Genres. Du, 3/1997, 20.

4 Barks, C. (1954). Donald Duck und der Goldene Helm. Micky-Maus-Sonderheft Nr. 18., Sept. 1954.


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Last update: 20.07.97