Magazin der Universität Zürich Nr. 2/97

Dynamik des Bildes im Film

Filmbücher, theoretische wie solche, die sich an die Fan-Gemeinde richten, zeichnen sich meist durch schöne Fotos aus. Doch das Phänomen, um das es hier geht, lässt sich gerade nicht in Photogrammen stillstellen. Bewegung ist ja ein Prozess – und in seiner Dynamik für essentielle Unterschiede zwischen Fotografie und Film verantwortlich. – Die Autorin zeigt, dass das bewegte Bild mehr ist als die Summe seiner Teile: Mit der Formel «Fotografie plus Bewegung» ist der Film nicht definiert.

VON CHRISTINE N. BRINCKMANN

Zunächst ein paar grundsätzliche Bestimmungen und Differenzen. Fotografien existieren zum Beispiel als Objekte. Man kann sie in die Hand nehmen, in den eigenen Alltag integrieren, beliebig lange und immer wieder betrachten. Sie zeigen ein Sujet, das mit Hilfe eines technischen Vorgangs aus einer punktuellen Perspektive und zu einem bestimmten Augenblick aufgenommen und zu einer Komposition arretiert ist. Damit verweisen sie auf die (gewesene, inzwischen vergangene) Realität des Sujets und dokumentieren den Zeitpunkt seiner Aufnahme. Ein Realitätserlebnis vermitteln sie jedoch nicht, da ihr Objektcharakter dem entgegenwirkt.

Cary Grant oder ein Cowboy? Joan Crawford oder «Mildred Pierce»? Humphrey Bogart oder der Kapitän der «Caine»?

Film vermittelt ein Erlebnis

Auch das filmische Bild ist perspektivisch komponiert und zu einem bestimmten Zeitpunkt entstanden. Seine Perspektive ist jedoch wandelbar – revidierbar, ergänzbar –, und es beschränkt sich nicht auf den einen fixierten Moment. Die filmische Einstellung ist prozesshaft und von gewisser (nicht festgelegter) Dauer. Ausserdem wird der Film nicht als Objekt wahrgenommen. Als immaterielles, lediglich projiziertes Spiel von Licht und Schatten (oder von Farben diverser Valeurs) entzieht er sich unserem Zugriff. Scheinbar selbsttätig entfaltet er eine Illusion von hyperrealer Luminosität und überdimensionaler Klarheit, begleitet von einem Ton, der teils dem gefilmten Sujet, teils einem räumlichen Nirgendwo entspringt. Film vermittelt ein Erlebnis, das der sinnlichen Erfahrung der Wirklichkeit ähnelt, auch wenn beide unverwechselbar verschieden sind.

Verwackeltes Gesicht:
Andy Warhol, fotografiert von Duane Michals, 1966.
Bewegungsgeste.
Foto von Lester Talkington, 1950.
Bewegungsgeste.
Foto von Aaron Siskind, 1937.

Filmische Bewegung kann viele Formen annehmen. Zu unterscheiden sind zum einen die Eigenaktionen der gefilmten Objekte – seien es Lebewesen, seien es Blätter im Wind oder auch nur Licht, Farbe, die Erscheinungsweisen der Oberflächen. Zum andern die Bewegungen der Kamera, die fahren, schwenken, zoomen und damit auch unbewegte Dinge in Scheinbewegung versetzen oder bewegte in eine zweite, simultane Dynamik einbinden kann. Hinzu kommt Bewegung durch Montage. Bilder wechseln sich ab und sorgen für eine sukzessive Veränderung der visuellen Werte, für Metamorphosen, graduelle Verschiebungen oder abrupte Sprünge. Dabei liefert die fortschreitende Zeit ein Korrelat für Beschleunigung oder Stagnation und strukturiert den Rhythmus der Bewegung. Nicht umsonst verwenden fast alle Filme Musik: ein akustisches Geschehen, das Zeit messen hilft und visuelles Geschehen intensiviert.

Die Fotografie kann Bewegung thematisch und symptomatisch fassen: nervöse Ausdrucksgesten; der in der Drehung festgehaltene Tänzer; der Ball, der in der Luft «steht»; im Windstoss geblähte Wäsche. Oder auch als technisches Indiz für den Abbildungsvorgang: das verwackelte Gesicht, das schemenhaft verwischte Rennauto. Doch ohne solche Indizien kann das Foto eines bewegten Objekts auch grösste Ruhe ausströmen. Ob ein Auto fährt oder still in der Landschaft parkiert, ist dann nicht auszumachen.

Film gibt Gegenwärtigkeit

Bewegung gibt dem Film eine Gegenwärtigkeit, die dem Foto fehlt, weil Bewegung ein zeitliches Erlebnis darstellt, bei dem Beobachter und bewegtes Objekt im gleichen Prozess synchron aufeinander bezogen sind. Und natürlich auch, weil sich tatsächlich etwas auf der Leinwand bewegt – auch wenn es nur das Licht ist. Dieser Sinneseindruck ist unabweisbar und verleiht der Projektion eine vitale Präsenz. Dadurch tritt die – für Roland Barthes entscheidende – Eigenschaft der Fotografie, auf Vergangenheit und Vergänglichkeit zu verweisen, hinter der erlebten Gegenwart des Films zurück. Zwar kann auch er nostalgisch stimmen, wenn Menschen und Situationen darin auferstehen, die es nicht mehr gibt. Doch diese Nostalgie ist eine potentielle; sozusagen ein Zusatzgefühl, das einem Film nachträglich zuwächst, von seiner Gegenwärtigkeitsdynamik aber stets überlagert wird. Nostalgie verfestigt sich ja erst mit der Kontemplation – wie das Foto sie einlädt, indem es in sich ruht. Im Film dagegen verdrängt ein Bild das andere, so dass eine zeitliche Verkettung entsteht, die prozesshaftes, dynamisches Erleben fordert.

Grundsätzlich beruht filmische Raumdarstellung auf denselben Prinzipien wie fotografische. In beiden Medien oszilliert das Bild zwischen Fläche und Tiefe, da einer zweidimensionalen Komposition zugleich eine räumliche Illusion eingeschrieben ist. Jedoch ist die Flächenwirkung in der Fotografie dominanter als im Film. Denn zu den Faktoren, die eine fotografische Tiefenillusion erzielen – Zentralperspektive, Grössenverhältnisse, Staffelung und Überlappung der Objekte, Abstufungen von Schärfe und Farbe – tritt im Film das Potential der Bewegung. Jede Figur, die sich bewegt, fungiert als Indikator, um visuelle Einschätzungen zu bestätigen und Distanzen zu definieren. Bewegt sich die Kamera, so verschieben sich Abstände und Winkel der Objekte zueinander, ändern ihre visuelle Relation. Dinge werden sichtbar, die zuvor verdeckt waren, Zwischenräume tun sich auf, Körper werden plastisch.

Jeden Augenblick ein Off eröffnen

Zugleich ändert sich das Verhältnis der Zuschauer zum gezeigten Raum. Indem man ihn mit einer Person erschliesst oder mit der Kamera erfährt, wird er imaginär betretbar. Dies um so mehr, je vielseitiger die Aspekte sind, welche die Montage eröffnet. Sie kann im Schuss/Gegenschuss-Verfahren bekunden, wie das Gelände «wirklich» beschaffen ist, bis es nach beiden Seiten real und vertraut wirkt. Auch der Raum der Fotografie ist der Vorstellung zugänglich. Doch die Anstrengung, sich in ihn hinein zu imaginieren, ist ungleich grösser; die Gegenstände scheinen gegeneinander zementiert, zu einer festen Komposition verwachsen. Die gegenwärtige Prozesshaftigkeit des Films kann jeden Augenblick ein Off eröffnen, das vorher nur zu ahnen war. Das Off des Fotos bleibt dagegen in eine unerreichbare Vergangenheit verbannt. Seine Grenzen sind versiegelt, auch wenn sein Ausschnittcharakter unverkennbar ist.

Während Bewegung im Raum vor allem sinnliche Erfahrung vermittelt und die Illusion fördert, erlaubt die Montage, als Verknüpfung verschiedener Einstellungen, auch ein assoziatives und gedankliches Vordringen. Die sukzessive Bewegung hat im Foto kein Äquivalent und ist auch durch Fotoserien nur ansatzweise herstellbar. Denn in der Serie behält jedes Element seinen Einzelcharakter, da es individuell und unterschiedlich lange betrachtet werden kann. Der diskursive Kontext, der die Serie thematisch zusammenbindet, hat eher die Funktion eines Vorschlags, und er wird meist bildextern, durch Texte gestiftet. Im Film dagegen entsteht aus der kontinuierlichen Projektion, bei der alles am selben Ort, auf derselben Leinwand Gestalt annimmt, zugleich ein inhaltliches Kontinuum.

Eingefrorene Bewegung.
Foto von Harold E. Edgerton, 1935.
Ausdrucksgeste.
Foto von Weegee, undatiert.
Ausdrucksgeste.
Foto von Weegee, 1942.

Das berühmte Montage-Experiment von Kuleschow (das leider nur als Legende, ohne die zugehörigen Bilder, überliefert ist) gründete auf der Hypothese, dass durch Montage verbundene Einstellungen sich gegenseitig durchdringen und für die Rezipienten verändern. Kuleschow hatte der relativ ausdrucksarmen, emotional neutralen Grossaufnahme eines aus dem Bild blickenden Mannes wahlweise verschiedene Einstellungen beigesellt: Sie zeigten entweder einen Sarg oder eine Frau in erotischer Pose oder ein spielendes Kind. Je nach Kombination nahmen die Versuchspersonen das (identische) Männergesicht als traurig, lüstern oder liebevoll-amüsiert wahr. Obschon spätere Bemühungen, das Experiment zu wiederholen, nur bedingt erfolgreich waren, ist die Tendenz der Ergebnisse nicht zu bestreiten. Filmische Montage bewirkt eine enge Verbindung der Aufnahmen, aus der das Publikum einen inhaltlichen Zusammenhang konstruiert. Dabei legt der lineare zeitliche Fortschritt vor allem eine kausale Verknüpfung nahe.

Siegeszug der filmischen Fiktion

Zeitliche Gegenwärtigkeit, räumliche Illusion, kausale Verknüpfung: Sie alle sind der Darstellung von Fiktionen förderlich. Denn hier geht es ebenfalls um illusionäres Erleben, das sich prozesshaft entwickelt, und es geht um Reaktionen und Gegenreaktionen, Kausalketten von Ereignissen oder Verhaltensweisen. Kein Wunder also, dass die filmische Fiktion, der Spielfilm, einen Siegeszug antreten konnte.

Verschiedene Faktoren spielen hier eine Rolle. Bewegung im Raum, als elementarste Stufe, führt zur Individuierung der Figuren. Sobald eine Figur sich im Film regt, löst sie sich vom Hintergrund ab und wird zur Hauptsache: Für die Zuschauer ein Signal, ihr Intentionen zuzuschreiben, sie zu beseelen. Auffälliger allerdings ist das sich wandelnde Verhalten der Personen, ihre Mimik, Gestik und Körpersprache, die eine Dynamik der Gefühle beinhalten. Film vermag auch durch Kamerabewegung Emotionen zu erzeugen, indem er Rhythmen vorgibt, mentale und motorische Erregung auslöst oder Empfindungen der fiktionalen Personen simuliert. Mit den Mitteln der Montage ist es überdies möglich, Bilder zu Gesichtern in Beziehung zu setzen. Dies nicht nur als Wahrnehmungsinhalte (wie in Kuleschows Experiment), sondern ebenso als Assoziationen, Erinnerungen, Vorstellungen, die das Innenleben einer Figur erschliessen helfen. Dies trägt dazu bei, dass die Personen nicht als fotografierte Schauspieler aufgefasst werden, sondern im Zuge der Handlung ein figürliches Eigenleben akkumulieren, das sie zum fiktionalen Erlebniszentrum werden lässt. Der imaginäre Sprung vom Äusseren ins Innere der Figur macht ja die Fiktion aus ­ neben der narrativen Entwicklung, der kausalen, linearen Verkettung (die auch im dokumentarischen Geschehen ihren Platz hat).

Gibt es fiktionale Fotos? Vielleicht – aber meistens akzentuiert das Standfoto die Schauspieler stärker als die Figuren, die sie darstellen. Eine charakteristische Verschiebung, über die man weiter nachdenken könnte.


Literatur

Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie (La chambre clair, 1980). Frankfurt a. M. 1989.

Hans Beller (Hg.), Handbuch der Filmmontage. Praxis und Prinzipien des Filmschnitts. München 1993.

Walter Dadek, Das Filmmedium. Zur Begründung einer Allgemeinen Filmtheorie. München/Basel, 1968.

Christian Metz, «Zum Realitätseindruck im Kino» («A propos de l'impression de réalité du cinéma», 1965). In: ders., Semiologie des Films. München 1972.


Dr. Christine N. Brinckmann ist ordentliche Professorin für Filmwissenschaft am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich.


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Last update: 20.07.97