Magazin der Universität Zürich Nr. 2/97

Lesebilder

VON ISO CAMARTIN

Im Anfang war das Bild. Jede andere Auskunft ist Theologengerede. Schliesslich sind die Augen das am weitesten vorgelagerte Stück des Gehirns. Weltwahrnehmung ist Bildwahrnehmung. Nie hat jemand zu sprechen oder zu schreiben begonnen, ohne Bilder im Kopf. Die grösste Videothek der Welt ist unser eigenes Gehirn. Bevor wir Pieps machen, sind wir von Bildern umstellt. Freilich so, dass wir diese nicht immer präsent haben und klar sehen. Auch können wir Bilder annehmen oder sie verweigern. Wir können sie vor allem verändern. Unser Kopf ist nicht nur Empfänger, sondern Arrangeur. Man könnte sagen, das Gehirn teile dem Bild einen Rang zu und bestimme, wo es zu stehen hat, in welcher Nähe zu welchen anderen Bildern. Unser Gehirn schaltet und waltet mit den visuellen Eindrücken, die uns jeweils bewegen, nach komplexen Verfahren. Für uns Laien sind diese Prozesse schwer begreifbar. Sogar die Experten sind mit ihren Erklärungskünsten hier schnell einmal am Ende ihres Lateins. Wer einmal über seine eigenen Träume nachgedacht hat, weiss, dass das Zustandekommen von Bildern nicht restlos zu klären ist.

Ein eigenartiges Bilderschaffen geschieht in uns, wenn wir zu lesen beginnen. Auf einmal werden wir beim Lesen sehend. Doch kommen diese Bilder, die sich in uns formen, wirklich aus dem Buch? Ist es nicht vielmehr so, dass wir bestimmte Wörter, auf die wir im Text stossen, mit unseren eigenen schon vorhandenen Bildern besetzen? Lösen Wörter nicht eher etwas aus, das in unserem Bilderreservoir längst da ist? Und je älter wir werden, um so mehr Bilder, zugeordnet und rangiert, finden wir in uns vor?

Demnach wäre das Lesen nicht zuletzt ein Verfahren, um Bilder in uns zu aktivieren. Um für Kenntnisse, auf die wir in Büchern zum ersten Mal stossen, geeignete Bildkulissen zu erstellen. Wir passen Ereignisse in unsere eigenen imaginären Landschaften ein. Lesend machen wir die Erfahrungen anderer Menschen mit unseren Einbildungen kompatibel.

Kafkas Leere als Schein

«Es war spät abends, als K. ankam. Das Dorf lag in tiefem Schnee. Vom Schlossberg war nichts zu sehn, Nebel und Finsternis umgaben ihn, auch nicht der schwächste Lichtschein deutete das grosse Schloss an. Lange stand K. auf der Holzbrücke, die von der Landstrasse zum Dorf führt, und blickte in die scheinbare Leere empor.» – So beginnt Kafkas Roman «Das Schloss». Keiner braucht Schloss Osek am Fuss des Erzgebirges in Nordböhmen oder das Schloss der Grafen Clam-Gallas im ebenfalls nordböhmischen Friedland – zwei der angeblichen Vorbilder für Kafkas Schloss – gesehen zu haben, um mit dieser Stelle etwas anfangen zu können.

Jeder verfügt über Bilder eines Dorfes, das im Schnee liegt, und über Bilder eines von Nebel und Dunkelheit umhüllten, auf einer Anhöhe liegenden Schlosses. Die meisten von uns werden auch keine Mühe haben, sich an eine Holzbrücke zu erinnern. Vielleicht haben wir sogar von einer Holzbrücke aus schon einmal in neblige Leere geblickt. Was die Stelle für das Thema des literarischen Sehens so bedeutsam macht, ist Kafkas Wort der «scheinbaren Leere». Nicht nur der Erzähler und seine Figur K., auch wir wissen sofort, dass die hier besprochene Dunkelheit etwas verbirgt. Die Leere ist nur Schein. Wir beginnen sie sogleich auszufüllen – mit eigenen Schlossbildern, die von der Wirklichkeit weit entfernt sein können und dennoch unerlässlich sind, um uns in die Geschichte von K. einzuweisen.

Im Verlauf des Romans werden wir unsere Eigenbilder aus der Sehoptik Kafkas korrigieren, schärfen, mit konkreten Details festlegen. Wenn Kafkas Roman abbricht, sehen wir ein Schloss, wie wir noch nie eines sahen. Erst dieses Schloss wird uns die wirkliche Unheimlichkeit aller Schlösser, die uns die Wirklichkeit zu bieten hat, begreifbar machen.

Dante als grosser Bildanbieter

Einer der grössten Bildanbieter aller Zeiten war Dante. Er hat sich vorgenommen, das Los der Menschen nach ihrem Tod so zu schildern, dass wir die Sünder in der Hölle, die Büssenden auf dem Berg der Läuterung und die Seligen in den Himmelssphären sehen. Man sagt oft, es sei für Dante leicht gewesen, sich die Strafen der Bösewichter einzubilden, weil es dafür schon in seiner Zeit reiches Anschauungsmaterial in den Phantasien der Künstler und den Inventionen der Theologen gegeben habe. Unendlich viel schwieriger sei es hingegen gewesen, die gestuften Glückserfahrungen der Geretteten in den unterschiedlichen Himmeln auszumalen. Es ist schon so, dass die Qualen der Verbrecher bildkräftiger scheinen als die Glückseligkeiten der Gerechten.

Dantes Genie bestand aber gerade darin, noch für die abstraktesten philosophischen Spekulationen Bilder zu ersinnen. Spekulation kann vielerlei bedeuten. Ein Ausspähen nach Bildern; ein Einfangen von Gedanken durch Spiegelungen; ein sich Freimachen von sinnlichen Gegebenheiten zu einem kühnen Gedankenflug; Spekulation kann auch ein unseriöses Verlassen des festen Bodens zugunsten von Wunschträumen sein. Ein Abheben zum Unsichtbaren und Unfassbaren, um dieses in ein Bild zu zwingen, das unzureichend, ja verfälschend bleibt. Dante erzwingt keine Bilder für die Gedanken der Philosophen und Theologen seiner Zeit. Er lässt diese aber nach Bildern rufen. Und wenn eines nicht genügt, darf ein zweites einspringen, und dann und wann sogar ein drittes. Damit ist der Terror des Konkreten gebrochen, denn nur alle Bilder zusammen erleuchten die Gedanken, die Gefühle, die Erwartungen der Bewohner des Jenseits.

Wir als Gefangene der Bilder

Dante macht sich keine Illusionen darüber, dass Bilder uns in geradezu unvermeidlicher Art und Weise zu Gefangenen machen. Zwei Stellen aus Dantes Commedia will ich anführen, um das Phänomen unserer sehnsüchtigen Bildbefangenheit zu klären. Die erste findet sich im 28. Gesang des Purgatorio. Dieser beginnt mit der Schilderung des irdischen Paradieses auf der Spitze des Bergs der Läuterung. Der Garten, den Dante hier beschreibt, ist an sich schon eine magische Verrückung all unserer Garten-Eden-Vorstellungen. «La divina foresta spessa e viva – der dichte lebendige Gotteswald» ist mit seinen Farben, Düften, dem Wind, dem Gesang der Vögel, dem klaren Bach ein atmosphärisches Stimmungsbild der Ruhe, der Heiterkeit, des leichten und milden Glanzes, das allen Sinnen wohltut. Keine Exzesse des Glücks gibt es hier, und doch ist dieser Wald durchströmt von Wohlbehagen.

E là m'apparve, sì com'egli appare
Subitamente cosa che disvia
Per maraviglia tutto altro pensare,
Una donna soletta...

Und dort erschien mir, so wie oftmals plötzlich
Ein Bild erscheint,
das uns mit grossem Staunen
Ablenken muss von jedem andern Denken,
Allein und einsam eine Frau...

(V. 37–40)

Die Erscheinung einer Frau. Wir erfahren später, dass sie Metelda heisst. Eine Lichtgestalt. Sie bewegt sich elegant und leicht wie eine Tänzerin über den Blumenteppich des irdischen Paradieses. Sie beeindruckt den staunenden Dante durch Anmut und durch ein offenes Lächeln. Dieser erkennt, dass die Erscheinung ihn ablenkt, eigentlich: ihn aus den Bahnen all seiner Gedanken herauswirft. Disviare per maraviglia – vom Weg abkommen durch ein Erscheinungswunder, durch einen Blickfang. Das ist es, was Bilder der Schönheit – und wohl auch solche des Schreckens –, die plötzlich vor unserem Auge erscheinen, bei uns bewirken. Dante spricht die Schöne an:

«Deh bella donna, che ai raggi d'amore
Ti scaldi, s'io vo' credere ai sembianti,
Che soglion esser testimon del cuore,
Vegnati in voglia di trarreti avanti.»

«O schöne Frau, die in der Liebe Strahlen
Sich wärmt,
wenn ich dem Anschein glauben möchte,
Der oftmals Zeugnis gibt
vom Stand des Herzens,
Du wollest freundlich etwas näher treten.»
(V. 43–46)

Sembiante bedeutet: Gesicht, Antlitz, aber auch Aussehen und Erscheinung. Das freundlich-strahlende Gesicht Meteldas liest Dante als Zeugnis ihrer wohlwollenden Gesinnung. Man darf die Stelle aber auch etwas kühner deuten. Sie könnte lauten: Komm näher, du schöne, von Liebe durchwärmte Frau – sofern man deiner Erscheinung trauen darf, die doch auch ein Zeichen für deine Gesinnung sein muss. – Ganz sicher ist sich Dante ja nicht, dass das Bild der freundlichen Schönheit nicht trügt. So schwebt er in Ungewissheit, wie ihr Lächeln letztlich zu deuten sei. Metelda ist nicht nur real schön. Erst Dantes Sehnsucht macht sie unwiderstehlich schön. Das ist das Verhängnis solcher Erscheinungen: dass wir uns in ihnen täuschen können.

Dante hat Glück. Er ist im irdischen Paradies, wo es keine Täuschungen und Enttäuschungen mehr gibt. Metelda ist das erste Aufleuchten jener Schönheit, die dann in Beatrice sich ganz entfalten wird. Vorahnung einer absoluten Schönheit, auf deren Spur Dante war und die in ihrer Vollkommenheit den Liebenden immer auch beschämt. Beatrices Schönheit ist eine des Abstands. Die Schönheit Meteldas die der lockenden Nähe. Ein Bild zwar nur, maraviglia, sembiante, apparizione. Die Interpreten streiten darüber, ob Dante mit dieser Metelda eine Person zeichnen wollte, die je gelebt hat. Oder ob sie nicht viel eher als Allegorie einer Schönheit zu deuten ist, die nicht erschreckend in ihrer Perfektion, sondern sanft in ihrer Anziehung ist. Gerade so, wie sie der Stimmung des irdischen Paradieses angemessen sein könnte.

Bilder verhüllen im Zeigen

Eine zweite ungewöhnliche Bildstelle ist im 22. Gesang des Paradiso zu finden. Wir sind im Saturnhimmel. Dante, jetzt unter Führung Beatrices, begegnet dem Heiligen Benedikt, der seine getreuen Mönche lobt, aber auch den Verfall seines Ordens beklagt. Da Dante spürt, dass er noch nicht vollkommen sieht und begreift, wendet er sich an den Gründer der abendländischen Mönchtums mit dieser Bitte:

Ed io a lui: «L'affetto che dimostri
Meco parlando, e la buona sembianza
Ch'io veggio e noto in tutti gli ardor vostri,
Così m'ha dilatata mia fidanza,
Come il sol fa la rosa, quando aperta
Tanto divien quant' ell' ha di possanza.
Però ti prego, e tu padre m'accerta
S'io posso prender tanta grazia, ch'io
Ti veggia con immagine scoperta.»

Und ich zu ihm: «Die Liebe, die in Worten
Du mir gezeigt, und euer gütig Antlitz,
Das ich in allem eurem Glühen sehe,
Hat mein Vertrauen also aufgeschlossen,
Wie Sonnenschein die Rose, wenn sie offen
So gross geworden, als sie irgend konnte.
Drum bitt ich dich, o Vater, und du wollest
Mir sagen, ob ich soviel Gnade finde,
Dass ich dein Bildnis offen schauen möge.»
(V. 52–60)

Die Seelen der Gerechten sind leuchtende Kugeln. Kommen sie näher, erkennt man ihr Gesicht. Wie hier bei Benedikt, dessen Antlitz glüht. Dante gewinnt Mut und Vertrauen im Gespräch mit dem Heiligen. Er beschreibt dies mit einem Bild. Offen sei sein Zutrauen im Angesicht des Heiligen wie eine Rose, die sich unter dem Strahl der Sonne so weit öffnete, wie sie es nur vermag. Jetzt hat er den Mut, das Wichtigste zu erbitten. Er will das Antlitz des Heiligen offen sehen, als immagine scoperta. Das heisst als aufgedecktes, unverschleiertes und unverschlüsseltes Bild. Denn das Leuchten ist ja nur das Bild der Seligkeit, nicht die Seligkeit des Heiligen selbst. Dante möchte unverhüllte Seligkeit erblicken, er will hinter die Bildfläche treten, um ihr Wesen, nicht bloss ihre Erscheinung zu fassen. Der Heilige gibt ihm Antwort. Es sei hier im Saturnhimmel noch nicht der richtige Ort dafür. Erst die «ultima spera», die letzte Himmelssphäre, das Empyreum, sei der Ort, wo sich die Wünsche ganz erfüllen. «Ivi è perfetta, matura, intera / Ciascuna disianza – Dort ist ganz rein und reif und ganz vollkommen / ein jeder Wunsch.»

Jedes Bild bleibt ein verkleideter Wunsch. Bilder verhüllen auch immer etwas dadurch, dass sie es zeigen. Sie sind nicht die Realität, sie zeigen sie nur. Bilder sind eine Art Schutzmantel, der das nackte Wesen einhüllt. Erst am Ende, im obersten Licht- und Transparenzraum, fallen die Bildhüllen weg. Was ist und gilt, wird am Ende bildlos da sein. So jedenfalls sieht es der gläubige Dante.

Eigene Welt neu bebildern

Bildlos können Leser nicht sein. Denn sie sind unterwegs und dort noch nicht angelangt, wo man nichts als das, was ohnehin ist, braucht. Immer noch ist es eines ihrer grössten Abenteuer, sich von Dante die Lesebilder vorgeben zu lassen. Im Grunde jedoch ist jedes Buch ein mögliches Bildabenteuer. Man darf sich die Bilderreise gewiss auch leichter machen als mit Dantes Commedia. Wer einem Bildmagier unseres Jahrhunderts begegnen will, lese Italo Calvinos «Le città invisibili – Die unsichtbaren Städte», ein Buch, das vor 25 Jahren erschienen ist.

In diesem Werk ist das phantastische Bilderschaffen Programm. Kublai Kan, Kaiser eines Weltreiches, mächtig, müde und melancholisch in der Vorahnung, dass sein grosses Imperium über kurz oder lang zerfallen wird, lässt sich von Marco Polo Städte schildern, die dieser auf seinen Reisen besucht hat. Marco Polo berichtet dem Kaiser nichts über die besonderen und die alltäglichen Dinge, die er auf seinen Streifzügen durch die östlichen Reiche antraf. Er erfindet Städte, traumhaft schöne Wunschstädte, die man nicht aufsuchen kann, die aber das Ungenügen an der Wirklichkeit entwerfen und die Sehnsucht erkunden darf. Calvino, Marco Polos «Il Milione» lesend, macht nur das etwas perfekter und raffinierter, was jeder Leser mit einem ihn lockenden Buch tun kann: sich die eigene Welt neu bebildern.

Wenn die Lesebilder bei uns einmal ausbleiben, zerfallen die Bilder in unserm Kopf wie die Städte im Reich des Kublai Kan.


Dr. Iso Camartin ist ordentlicher Professor für rätoromanische Literatur und Kultur an der ETHZ und an der Universität Zürich.


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Last update: 20.07.97