Magazin der Universität Zürich Nr. 2/97

Ansichten eines virtuell geöffneten Schädels

Die Neuroradiologie befasst sich mit dem Zentralnervensystem und seinen Sinnesorganen. Zur Diagnostik bedient sie sich bildgebender Verfahren, vornehmlich der Magnetresonanztomographie. Behandlungen werden mit von peripher über den Gefässweg bis ins Schädelinnere vorgeschobenen Kathetern und speziellen Techniken durchgeführt. Neben klinischen Aufgaben ist die Neuroradiologie als selbständige neurowissenschaftliche Disziplin an der Erforschung der anatomisch-funktionellen Organisation des Gehirns beteiligt.

VON WERNER WICHMANN

Mit Hilfe bildgebender Verfahren ortet der Neuroradiologe Krankheiten des Gehirns, des Rückenmarks sowie der Sinnesorgane und beschreibt sie in ihren vielfältigen Eigenschaften. Zur diagnostischen Aufgabe ist in den letzten 20 Jahren eine therapeutische hinzugekommen. Dabei steht die Neuroradiologie in täglicher, intensiver Interaktion mit ihren klinischen neurowissenschaftlichen Nachbardiziplinen: der Neurologie, der Neurochirurgie, der Oto-Rhino-Laryngologie, der Augenheilkunde, der Neurotraumatologie, der Neuropathologie und anderen. Mit ihrer einmaligen Möglichkeit, das lebende Gehirn abzubilden und indirekt Funktionszustände des Gehirns sichtbar zu machen, nimmt die Neuroradiologie auch vielfältige Forschungsaufgaben wahr.

Geprägt wurde der Begriff «Neuroradiologie» 1914 vom österreichischen Neurologen Arthur Schüller, den man den «weltbekannten Begründer und Altmeister der Schädelröntgenologie» nannte. Bis vor rund 20 Jahren blieb das neuroradiologische Instrumentarium auf Techniken beschränkt, die wegen ihrer Invasivität nicht ohne Risiko waren und keineswegs alle Läsionen darstellen konnten. Mit der Einführung der Computertomographie in den Jahren nach 1973 ist es erstmals möglich geworden, ohne invasive Manipulationen normales und krankhaft verändertes Hirngewebe beim Lebenden direkt darzustellen. Ein Jahrzehnt später kam die Magnetresonanztomographie hinzu, mit der sich noch empfindlicher als mit der Computertomographie Weichteilveränderungen und anatomische Details unterscheiden lassen.

Realistisch wirkende dreidimensionale Ansichten

Mit modernen Bildnachverarbeitungsprogrammen lassen sich heute aus Magnetresonanzdaten realistisch wirkende dreidimensionale Ansichten am virtuell eröffneten Schädel generieren (Abbildung 1).

Abb. 1:
Sicht von oben auf das durch Hirnwindungen und Hirnfurchen gebildete Relief, wie es sich darstellt, wenn durch Segmentierung die schützende knöcherne Schädelkapsel und die harten Hirnhäute, die normalerweise den Blick versperren, mittels Bildnachverarbeitung «weggezaubert» sind.

Links, wenige Zentimeter neben der Mittellinie erscheint umschrieben eine Hirnwindung, wulstartig durch einen Hirntumor aufgetrieben. Dieser Tumor liegt unmittelbar im sogenannten Gyrus präzentralis, der die Willkürmotorik der gegenüberliegenden Körperseite steuert. Mit Hilfe solch virtuell durchgespielten Szenarien anatomisch-funktioneller Zuordnungen lassen sich zu erwartende postoperative Ausfälle präzis einschätzen.

Anatomisch-funktionelle Organisation

Mit die interessantesten neurowissenschaftlichen Fragen sind die nach der anatomisch-funktionellen Organisation des Gehirns. Mit der funktionellen Magnetresonanz (MR) lassen sich neuerdings auch Epiphänomene (Unterschiede der regionalen Blut-Oxygenierung), die neuronale Aktvitäten begleiten, im Bild darstellen.

Die funktionelle Magnetresonanztomographie wird heute auch neben der Forschung bei der präoperativen Abklärung eingesetzt (Abbildung 2).

Abb. 2:
Ein funktionelles MR-Bild nach visueller Stimulation bei einem Patienten mit einem grossen bösartigen Hirntumor im rechten Hinterhauptslappen (traditionell sind die Seiten bei Schnittbildern immer gespiegelt abgebildet). Da der Tumor und das ihn umgebende Gewebe vermehrt Wasser eingelagert haben, erscheinen sie als dunkleres Areal. Während in der gesunden linken Sehrinde eine kräftige Aktivität (rotes Feld) zu erkennen ist, fehlt diese auf der Seite des Tumors bis auf einen winzigen Rest. Mit Hilfe solcher Untersuchungen lässt sich unter anderem erkennen, welche Bezirke noch Restfunktionen aufweisen. Sofern diese Stellen nicht stärker vom Tumor durchwachsen sind, wird man versuchen, sie bei der Operation zu schonen.

Interventionelle Neuroradiologie

Parallel zu den neuroradiologisch diagnostischen Innovationen (CT und MR) hat sich zu Beginn der siebziger Jahre eine interventionelle Neuroradiologie entwickelt und damit das Fach auch zu einem therapeutischen erweitert. Als Alternative zur Operation besteht heute die Möglichkeit, ohne den Schädel zu öffnen durch Punktion in der Leiste mit Kathetern den Weg durch die Blutgefässe bis ins Schädelinnere zu nehmen und zum Beispiel ein Aneurysma zu verschliessen. Hierbei handelt es sich um eine kleine, ballonartige Gefässwandaussackung am Gefässkranz an der Schädelbasis, die platzen und dann zu einer Hirnblutung führen kann. Bei der Behandlung wird das Aneurysma mit einem Knäuel aus dünnem Platindraht, der durch den Katheter vorgeschoben wird, ausgefüllt. Durch kurzzeitiges Anlegen einer niedrigen Spannung provoziert man anschliessend die Bildung eines Thrombus und löst mittels Elektrolyse den Draht vom Träger.


Dr. Werner Wichmann ist Privatdozent für das Gebiet der Medizinischen Radiologie, speziell Neuroradiologie, am Departement Medizinische Radiologie des Universitätsspitals Zürich.


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Last update: 20.07.97