Magazin der Universität Zürich Nr. 2/97

Wörter in Bilder übersetzen?

Der tibetische Buddhismus setzt in einer Intensität wie keine andere Form des Buddhismus und wie kaum eine andere Religion Bilder zur Vermittlung tiefster religiöser Wahrheiten ein. Da diese Bilder häufig Mängel oder gar Fehler aufweisen, wenn sie mit den ihnen zugrundeliegenden Texten verglichen werden, und weil manchmal nur schriftliche Beschreibungen dieser Visualisationsbilder vorliegen, wurde am Völkerkundemuseum der Universität Zürich der Versuch unternommen, mit Hilfe neuester Computertechnologie Wortsprache in Bildsprache zu übersetzen. Der folgende Text ist ein Plädoyer für die Übersetzung in Bilder – auch in den Geisteswissenschaften.

VON MARTIN BRAUEN

Weshalb erscheint in unzähligen Büchern und Artikeln über Psychologie, Geschichte, Sprachen, Religion usw. keine einzige Zeichnung, Grafik oder Fotografie? Wie kommt es, dass angehende Wissenschafter zwar angehalten werden, mit Wörtern differenziert umzugehen, sie jedoch nie lernen, sich mit Bildern auszudrücken oder Texte in Bilder zu fassen, auch dann nicht, wenn sich eine grafische Umsetzung geradezu aufdrängt, beispielsweise bei der Beschreibung und Analyse räumlicher Gegebenheiten? Weshalb werden Bilder so selten in den diversen Wissenschaften als Ausdrucksmittel für die Darstellung von Fakten, Zusammenhängen und Erkenntnissen angewandt?

Abb. 1: (oben)
Der Kâlacakra-Kosmos von oben mit den deutlich sichtbaren 12 Windbahnen, in einer traditionellen bhutanischen Darstellung...
Abb. 2: (unten)
... und als Computerzeichnung, die auf einer massstabgetreuen Übertragung schriftlicher Überlieferungen basiert. Die beiden Darstellungen weichen nur in Details von einander ab, d.h., die Computerzeichnung bringt kaum neue Erkenntnisse, höchstens andere – korrektere – Massverhältnisse.
Abb. 3: (oben)
Auf dem Weltenberg Meru befindet sich das Kâlacakra-Mandala (hier Reproduktion eines aus Farbpulver gestreuten Mandala), dessen quadratischer Bereich aufgrund textlicher Quellen einen Palast darstellen soll...
Abb. 4: (unten)
... dessen genaues Aussehen erst in der Computer-Umsetzung erkennbar wird.

Auf diese Fragen gibt es eine einfache Antwort: Weil in der wissenschaftlichen Welt – vor allem in den Geistes- und Sozialwissenschaften – das geschriebene Wort alles gilt, das Bild jedoch nur wenig bis gar nichts. Nur das Wort sei unbestechlicher Wahrheitsvermittler – so die weitverbreitete Meinung –, das Bild gehöre einer mythischen, primitiven und vorrationalen Zeit an und sei unzuverlässig und ungenau – eine falsche Ansicht, wie die Forschung, über die hier berichtet wird, belegt.

Reiche Bildersprache des tibetischen Buddhismus

Die tibetische Version des Buddhismus arbeitet eingehend mit Meditationsmethoden, in denen Visualisationen – bildliche Schöpfungen von Gottheiten und Symbolen – eine zentrale Rolle spielen. Diese Visualisationen werden zwar bis in kleinste Details in Texten beschrieben, sie lassen sich jedoch aufgrund der geschriebenen (oder gesprochenen) Texte nur schwer in Bilder umsetzen beziehungsweise «übersetzen», da es sich dabei oftmals um sehr komplexe Gebilde handelt.

Die Tibeter selbst haben schon früh begonnen, bildliche Darstellungen solcher Visualisationen anzufertigen, doch weisen diese – trotz zum Teil meisterhaftem Können – Unzulänglichkeiten auf: Visualisationen sind Produkte des Bewusstseins, sind Geistgebilde, während die Farben und Materialien, mit denen die Visualisationen nachgebildet werden, der Welt der Materie angehören. Wie soll ein transparenter in Regenbogenfarben schillernder Körper mit herkömmlichen Materialien imitiert werden?

Abb. 5:
Bei einer Verschiebung des Standortes in Abb.2 und damit einer Veränderung des Blickwinkels werden die Vorteile der 3-D-Computerzeichnung offensichtlich: Sie erlaubt eine detaillierte räumliche Betrachtung von einem beliebigen Punkt.

Erst bei dieser Ansicht wird deutlich, weshalb in den Texten geschrieben steht, die 12 Windkreise (Bahnen der Planeten, siehe auch Abb. 1 und 2) in den sechs verschiedenen Farben würden einen Schirm um den zentralen Weltenberg Meru bilden.

Die schirmartige Anordnung der 12 Kreise, die auf keinem uns bekannten tibetischen Bild belegt ist, ergab sich durch folgende textlich überlieferte Parameter: Durchmesser der einzelnen Kreise, höchster und niedrigster Punkt jeden Kreises und Anzahl Kreise, die um den Weltenberg angeordnet sind.

Viele wissenschaftliche Publikationen scheinen auf den ersten Blick die reiche Bilderwelt des tibetischen Buddhismus gebührend zu berücksichtigen. Bei einer genaueren Analyse dieser Bücher stellt man jedoch fest, dass in ihnen die tibetischen Bilder zwar bis in kleinste Details beschrieben werden – welche Figuren zu sehen sind, welche Embleme diese halten, welche Farben sie aufweisen usw. Aber nur in äusserst seltenen Fällen wird in ihnen die Struktur, die «Grammatik» der tibetischen visuellen Codes, analysiert und aufgezeigt, dass den tibetischen Bildern ein spezifisches Weltbild und eine eigene Perspektive zugrunde liegen.

Mit Computer Bilder übersetzen

In den vergangenen Jahren habe ich zusammen mit Computerfachleuten begonnen, die Bilderwelt des tibetischen Buddhismus zu dekodieren und Bildbeschreibungen in wissenschaftliche Bilder zu übersetzen. Konkreter Forschungsgegenstand waren tibetische schriftliche und mündliche Beschreibungen sowie traditionelle Bilder aus der Tradition des Kâlacakra-Tantra.

Bei einem Vergleich der schriftlichen tibetischen Quellen mit tibetischen und westlichen Bildumsetzungen derselben Inhalte stellte ich viele Diskrepanzen und «Übersetzungsfehler» fest. Zudem fiel auf, wie schwierig, ja oftmals unmöglich es war, nach dem Lesen einer Beschreibung eines komplexen räumlichen Gebildes dieses effektiv vor sich zu sehen, es zu visualisieren. Aus diesem Grunde beschlossen wir, die schriftlichen und zum Teil mündlichen Beschreibungen des Mandala und des Kosmos gemäss der Kâlacakra-Tradition mit Hilfe eines CAD1-Programms, das dreidimensionales Zeichnen erlaubte, mit dem Computer aufzuzeichnen.

Abb. 6:
Computerzeichnung des Mandalapalastes, der durch eine durchsichtige Vajra-Schutzglocke von der Aussenwelt abgeschirmt wird.
Abb. 7:
Der Palast aus einer anderen Perspektive. Erkennbar sind die gemäss Texten in Regenbogenfarben schillernden durchsichtigen Wände, welche oben feine filigrane Verzierungen aufweisen.

Das Resultat waren massstabgetreue Modelle des Kosmos und des Mandalapalastes. Modelle, welche den sprachlichen Beschreibungen bei weitem überlegen waren: Die vielen Teilbilder in Form von unzähligen Detailinformationen bezüglich Grösse, Abstand, Form von Linien, Flächen und Körpern fokussierten sich zu einem äusserst facettenreichen Gesamtbild, das nach Belieben – und gleichsam auf Tastendruck – wieder in eine Vielzahl beliebiger Teilbilder zerlegt werden konnte.

Ein weiterer wesentlicher Vorteil der Umwandlung in 3-D-Computerbilder bestand darin, dass die Bilder zum Teil zu neuen Erkenntnissen und Informationen führten, die aufgrund der Texte nicht zu erkennen waren. Dies war vor allem dann der Fall, wenn die in den Texten erwähnten Korrelationen zwischen Kosmos, Mensch und Mandalapalast analysiert wurden und sich plötzlich neue, in den Texten nicht beschriebene Korrelationen ergaben (siehe Abbildungen 8 und 9), oder wenn ein in den Texten nicht erwähnter Blickwinkel gewählt wurde.

Verfeinerung der Bildübersetzung

Die anfängliche Umsetzung in Bilder durch die Firma Rocad in Bern wies Mängel auf, da die damalige Software nur eine Art Skizzen, nämlich das Zeichnen von Drahtmodellen, erlaubte. In einer zweiten Phase bearbeitete Peter Hassler die Daten der ersten Generation mit Hilfe des Autodesk-3-D-Studios (Ausgabe 3.0) sowie einigen weiteren graphischen Programmen weiter: Den einzelnen Objekten ordneten wir Farben, Helligkeit und Sättigung, Grad der Transparenz und einige weitere Parameter zu, schufen eine virtuelle Beleuchtung in Form mehrerer Lichtquellen und positionierten eine – ebenfalls virtuelle – Kamera in diesem fiktiven Kosmos.

In einem dritten Schritt wurden diese neuen Daten für eine Computeranimation aufgearbeitet, wodurch die räumlichen Relationen im Kosmos, zwischen Kosmos und Mandala sowie innerhalb des Mandalapalastes besser als durch eine gesprochene oder geschriebene Beschreibung erfasst werden konnten.

Abb. 8: Computerzeichnung (Schnitt durch Mandalapalast) der ersten Generation...

Die Animation2 zeigt zuerst den Kâlacakra-Kosmos von oben. Deutlich sichtbar sind die 12 Windbahnen, auf denen sich die Planeten bewegen (Abbildungen 1, 2, 5). Die Kamera bzw. die betrachtende Person bewegt sich dann kreisförmig um den Kosmos (Abbildung 5), nähert sich dem Süd-Kontinent Jambudvîpa, wo sie landet, nach oben zu den Planetenbahnen schaut und dann dem Berg Meru entlang nach oben steigt, über den Bergrand hinaus bis genau über die Mitte des Berges Meru. Mit grosser Geschwindigkeit nähert sich die Kamera dem Mittelpunkt der runden Bergoberfläche, wo das Kâlacakra-Mandala liegt (Abbildung 3). Aus dem zweidimensionalen Mandala wächst der dreidimensionale Mandalapalast empor und um diesen herum eine durchsichtige Vajra-Schutzglocke (Abbildung 6). Während sich der Palast um seine eigene Achse dreht, werden nacheinander ein Mensch und ein Modell des Kâlacakra-Kosmos in der Palastmitte eingeblendet, die Korrelationen zwischen Mensch (innerem Mandala), Universum (äusserem Mandala) und Mandalapalast aufzeigend (Abbildung 9).

Weder Worte noch Bilder

Am Schluss nähert man sich auf der virtuellen Reise durch den Kosmos dem Palast und gelangt über den Körper- und den Sprachbereich ins Zentrum im Geistbereich des Palastes, wo Kâlacakra und Visvamata stehen, die sich am Schluss auflösen – in die eigenschaftslose Leere, wo weder Worte noch Bilder existieren...


Fussnoten

1 Computer Aided Design

2 Der Videofilm «Kâlacakra-Mandala» (von Martin Brauen und Peter Hassler) wird ab Herbst 1997 erhältlich sein.


Dr. Martin Brauen (brauen@vmz.unizh.ch) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Leiter der Abteilung Tibet/Himalaja/Ferner Osten am Völkerkundemuseum der Universität Zürich.


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Last update: 20.07.97