unimagazin Nr. 2/98

Wir werden immer älter, aber geht es uns auch gut dabei?

Der «Sonderfall» hat ausgedient, und dies nicht erst seit den jüngsten Debatten um die Rolle der Schweiz während des Nationalsozialismus. Gefragt sind heute nationalstaatlich legitimierte, suprastaatlich eng verflochtene Modelle – und Leute, die jenseits politischer Zuschreibungen Wege und Weisen finden, diese Modelle umzusetzen.

VON GEORG KOHLER

«Orientierungslosigkeit auf der Basis noch vorhandener Reserven», das ist die Charakterisierung der psychopolitischen Verfassung der Schweiz, die ich noch vor einem halben Jahr machen zu müssen glaubte. Gefragt, ob die formellen und informellen Regulative unserer direkten Demokratie die notwendige institutionelle, ökonomische, aber auch kulturelle Modernisierung des Landes hinderten oder nicht, entgegnete ich mit der zitierten Feststellung1. So sei die Lage – konfus, aber bis auf weiteres komfortabel, und ich wollte damit zweierlei sagen: Erstens, dass es nicht primär die verfassungsmässigen Verfahren der direkten Demokratie seien, die die fällige Reform blockierten, sondern die fehlende Grundübereinstimmung der verschiedenen politischen Kräfte hinsichtlich der Leitziele, Primäraufgaben und Identitätsmerkmale unseres Staatswesens und seiner Organe; und zweitens, dass der erste Schritt zur Besserung in der Anerkennung der tiefgreifenden nationalethischen Verunsicherung und Uneinigkeit bestehe. Solange wir uns darüber nicht im klaren seien, dass – 150 Jahre nach dem Sonderbundskrieg und den Krisen vor dem Durchbruch zum Bundesstaat von 1848 – heute wieder wie damals ein fundamentaler Konflikt in der (und über die) politische(n) Kultur(en) unseres Landes herrsche, der als solcher nicht verdrängt, sondern entsprechend bearbeitet, das heisst geführt werden müsse, solange sei an eine Deblockierung der innen- und aussenpolitischen Situation der Schweiz nicht zu denken.

Selbstbewusste Koalitionen gefragt

Ein gutes halbes Jahr nach dieser pessimistischen Bemerkung hat sich erstaunlich viel bewegt. Die Debatten und vor allem die erforderlichen Mehrheiten, die es braucht, um ein neues Modell Schweiz zu entwickeln, das zu jenen veränderten Umweltbedingungen passt, die das alte Paradigma der Schweiz objektiv entmächtigt haben, diese Faktoren des Wandels fangen an Realität zu werden. Freilich auf eine Weise, die für unsere Mentalität typisch ist, nämlich pragmatisch-ergebnisorientiert und vergleichsweise undramatisch.

Die Fragen, um die es dabei geht, sind zentral für unser Selbstverständnis und können in unserer Proporzdemokratie handlungsmächtige Antworten nur finden, wenn sich gegen diejenigen, die das alte Paradigma unter allen Umständen verteidigen, stabile und selbstbewusste Koalitionen bilden.

Die Fragen sind: Wie wollen wir es mit der Neutralität halten? Wie gestalten wir unser Verhältnis zur EU? Wie definieren wir den Sinn unserer militärischen Landesverteidigung und ihres Milizsystems? Sowie: Wie reformieren, bändigen und sichern wir die Leistungen des Sozialstaates? Einige Stichworte genügen, um die aktuellen politischen Prozesse zu bezeichnen, die sich in der Auseinandersetzung mit den genannten Themen zu formieren begonnen haben.

Das «strategische Ziel» des EU-Beitritts wird immer deutlicher und vom Bundesrat (der mit Pascal Couchepin um einen überzeugten Europabefürworter ergänzt worden ist) immer nachdrücklicher vertreten. Der «Bericht Brunner» stellt – hochoffiziell – die geltenden Grundsätze der bewaffneten Neutralität zur Diskussion; in seinem Horizont wird sogar ein Nato-Beitritt zur langfristig bedenkenswerten Option. Der gleiche Bericht nötigt zur prinzipiellen Beschäftigung mit den Grenzen und den Chancen unseres Milizsystems (dieser, wie ich finde, «sozialen Goldreserve» unseres Landes).

Und schliesslich hat der vom Finanzminister initiierte «runde Tisch» zur Konzeption eines Kompromisses zwischen finanz- und sozialpolitischen Postulaten geführt, der eine für die schweizerische Regierungstätigkeit unerlässliche Koalition zwischen Rechts und Links ermöglicht.    

1989, eine Wende auch in der Schweiz

Wenn es im letzten Jahr noch so aussah, als sei die Nation durchkreuzt und gespalten von verschiedenen Polaritäten, die das eidgenössische Konkordanzdenken geradezu paralysierten, dann ist dieser Eindruck sechs Monate später entschieden zu korrigieren. Die Konturen eines parteienübergreifenden und mehrheitsfähigen Lagers von Neuerern, das dem Traditionalistenblock der Blocherpartei das Gesetz des Handelns zu entwinden vermag, sind endlich fassbar geworden.
Dafür war es ja auch höchste Zeit; das alte Paradigma ist seit zehn Jahren veraltet: Immerwährende bewaffnete Neutralität; souveräne Kleinstaatlichkeit, die innenpolitisch auf grösstmögliche direktdemokratische Bürgerbeteiligung und aussenpolitisch auf die Kombination von privatwirtschaftlicher Omnipräsenz und internationaler Unsichtbarkeit ausgerichtet ist; die Idee, ein derart extraordinärer Sonderfall zu sein, dass dessen Basiselemente ein für allemal festgelegt sein müssen – all diese Vorstellungen fixierten die selbstverständliche Grundlage unserer politischen Kultur und der auf sie aufbauenden politischen Institutionen. Sie lieferten den nationalethischen Kern des helvetischen Basiskonsens’ und die strategischen Leitlinien des bundesstaatlichen Regierungshandelns. Doch dieser Basiskonsens hat spätestens seit 1989 seine objektive Berechtigung eingebüsst. Dieses Jahr bedeutet (analog zum Jahr 1789) den Umbruch in den makrohistorischen Voraussetzungen, von deren Wirksamkeit und Geltung auch die jeweilige Form der schweizerischen Identität abhängt.

Gesamteuropäischer Prozess

Dass «die» Schweiz immer nur sein kann, was sie sein kann im Zusammenhang umfassender europäischer macht- und zivilisationspolitischer Strukturen, das lässt sich ja nicht weniger gut an den Signaturen des vormodernen helvetischen Staatenbundes zwischen 1648 und 1800 ablesen, als eben auch an denjenigen der Periode zwischen 1848 und 1989. Weil es nun aber die für die letztgenannte Zeit wesentlichen grossgeschichtlichen Bedingungen sind, die verschwinden, geriet und gerät alles ins Gleiten, was durch sie fundiert gewesen ist: die Konstruktionen einer nationalen Eigenwelt, deren Medium die orientierenden Gestalten des kollektiven Geistes, also Traditionen, mehr oder minder mythologische Selbstdeutungen, Werte usw. sind.

Das, worin diese Denkmuster insgesamt zur Darstellung gelangen, ist das «öffentliche Bewusstsein». Dessen Krisen – und so etwas wie eine offensichtliche schweizerische Bewusstseinskrise besteht in den neunziger Jahren nicht erst seit der Debatte über die Rolle unseres Landes während des «Dritten Reiches» – sind daher nichts anderes als die Reflexe jener tiefgehenden Wandlungen und Umstürze, die mit dem Ende des kalten Krieges und den seither verstärkten technisch, aber auch politisch induzierten Globalisierungsprozessen die Demokratien des Westens insgesamt zu neuen Formen transnationaler, die Grenzen der Souveränität aufhebenden Kooperationen gezwungen haben.

Was wir heute als helvetisches Identitätsproblem erleben und was hinsichtlich seiner praktischen Wirkungen bis vor weniger als vor einem Jahr als «Orientierungslosigkeit auf der Basis noch vorhandener Ressourcen» beschrieben werden musste, ist die spezifisch schweizerisch determinierte Variante eines gesamteuropäischen Vorganges; eines Vorganges, an dessen Ende neue Modelle (immer noch) nationalstaatlich legitimierter, doch zugleich suprastaatlich eng verflochtener öffentlicher Ordnung stehen, die den sozialen Zentrifugaleffekten der gegenwärtigen Zivilisationsphase die notwendigen politischen Stabilisierungsleistungen entgegenzusetzen vermögen.

Differenzierter Aufbruch

Die Re-Konstruktion der nicht-mehr-nur-nationalstaatlichen Institutionen des Politischen ist eine Sache, die in keinem europäischen Land (auch nicht in den Mitgliedern der EU) nach der gleichen Regel erfolgen kann: Die Briten bleiben in der Union, aber den Euro wollen sie (noch) nicht; Italien lernt um dieses selben Euro willen die schmerzhaften Seiten längst fälliger Budgetsanierungskuren zu ertragen; die Niederlande sind ein Promotor transnationaler Integrationen und haben es zugleich verstanden zwischen ihren Bürgern einen wirklichkeitstriftigen Sozialkontrakt zu vermitteln, der Holland zum ökonomischen Paradebeispiel des Jahrzehnts werden liess, usw. usf.

Anpassung an die Realität der Folgen von 1989 ist eine Aufgabe, die niemals gegen die besondere Mentalität, Kultur und Geschichte irgendeiner zur Nation gewordenen Gesellschaft zu machen ist – in der Schweiz nicht und anderswo genauso wenig. Aber das heisst für uns eben nicht, dass es am besten bleibt, das alte Projekt Schweiz fortzusetzen, gegen all die internen und externen Kräfte der politischen Wirklichkeit, die zu supranationalen Institutionen drängen, und unter Inkaufnahme absurder Verzeichnungen der Realität, sondern dass wir unsern eigenen Weg und eine eigene Weise finden sollten, die Merkmale, Werte und Errungenschaften unserer geschichtlichen Identität mit den Fälligkeiten einer fundamental veränderten Umwelt zu verbinden. Diese kollektive soziale Innovation ist das zentrale Thema der Eid-genossenschaft nach dem Ende der Epoche zwischen 1945 und 1989.

Doch solche Paradigmenwechsel sind ohne Konflikt nicht zu haben. Um eine prinzipielle Klärung der Mehrheits- und Machtverhältnisse wird man deshalb nicht herumkommen; und zwar so, dass die verschiedenen Polaritäten, die die politische Schweiz seit bald zehn Jahren zunehmend lähmten, letztlich auf eine Gegensätzlichkeit reduziert werden: Neuerer versus Traditionalisten. Seit diesem Frühling sind die Neinsager in die Defensive geraten. Das könnte der Anfang sein vom Ende der Blockade – der Beginn der Gegenwart der Zukunft der Schweiz.


Dr. Georg Kohler ist ordentlicher Professor für Philosophie, mit besonderer Berücksichtigung der politischen Philosophie.


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unipressedienst – Pressestelle der Universität Zürich
Nicolas Jene (upd@zuv.unizh.ch)
Last update: 30.07.98