unimagazin Nr. 2/98

Die Familie im westeuropäischen Kleinstaat

Egal ob es um Politik, Erwerbsarbeit oder Ausbildung geht: Wie weit es Frauen bringen, hängt in der Schweiz auch davon ab, in welchem Landesteil sie leben. Ein soziales Phänomen und seine Ursachen.

VON ELISABETH BÜHLER-CONRAD

Eine systematische und umfassende Übersichtüber das Ausmass der regionalen Unterschiede in der Geschlechterungleichheit in der Schweiz fehlt bis heute. Ebensowenig vorhanden sind fundierte wissenschaftliche Studien zum Verständnis und zu den Ursachen dieses sozialen Phänomens.

Drei Beispiele aus den Bereichen Erwerbsleben, Ausbildung und Politik belegen den Sachverhalt:

1) Erwerbstätige insgesamt

2) Erwerbstätige in höheren Positionen

3) Verhältnis 2):1)

Schweiz

38,5

17,4

0,45

. . . .

Grossstadtregionen (2)

40,2

18,9

0,47

Mittelstadtregionen (2)

38,6

15,8

0,41

Kleinstadtregionen (2)

37,2

15,9

0,43

Periphere Regionen (2)

35,7

16,0

0,45

. . . .

Tessin

37,2

21,6

0,58

Westschweiz (3)

39,9

22,8

0,57

Deutschschweiz (4)

38,2

15,2

0,40

(1) Summe der sozio-professionellen Kategorien Oberstes Management, Freie Berufe und Akademische Berufe/oberes Kader
(2) Nach Martin Lendi und Hans Elsasser (1991): Raumplanung in der Schweiz, Eine Einführung, Verlag der Fachvereine, Zürich, S, 56
(3) Kantone Freiburg, Neuenburg, Waadt, Wallis, Genf, Jura
(4) Restliche Kantone
(Quelle: Bundesamt für Statistik: Harmonisierte Daten der Eidgenössischen Volkszählung 1990)

Tab.1: Frauenanteil bei den Erwerbstätigen insgesamt und Frauenanteil in Positionen mit höheren Entscheidungs- und Führungskompetenzen1 in der Schweiz

Mit dem Projekt «Geschlechterungleichheiten in den Regionen der Schweiz» soll eine Forschungslücke geschlossen werden. Über die wissenschaftliche Zielsetzung hinaus wird auch ein gleichstellungspolitisches Ziel verfolgt. Die Ergebnisse des Projektes werden zeigen, in welchen Regionen und Regionstypen den Frauen in der Schweiz – absolut gesehen und im Vergleich mit den Männern – bereits viele Handlungsmöglichkeiten in Ausbildung, Beruf, Politik und Familie offenstehen und in welchen dies noch deutlich weniger der Fall ist. Damit können Entscheidungsgrundlagen angeboten werden für die Ausarbeitung weiterer, kantons- und regionsspezifischer, gleichstellungspolitischer Instrumente.

Wahrnehmung und Ursachen

Geschlechterungleichheiten werden heute viel stärker als früher im Bewusstsein der …ffentlichkeit und der einzelnen Menschen als eine zentrale Ausprägung sozialer Ungleichheit wahrgenommen. Es besteht in unserer Gesellschaft ein weitgehender Konsens, dass systematische Diskriminierungen oder Bevorzugungen von Menschen aufgrund ihres Geschlechtes abzulehnen sind. Anzustreben ist eine Gleichstellung der Geschlechter, die jedoch nicht mit «Gleichmacherei» verwechselt werden darf.

Grundsätzlich gehe ich davon aus, dass die Unterschiede der Geschlechterungleichheit – sei es in der Erwerbsarbeit, im Ausbildungswesen, in der Politik oder in der privaten Arbeits- und Rollenteilung – sowohl durch regional unterschiedliche, vorherrschende kulturelle Leitbilder der Bevölkerung zustande kommen als auch durch regional unterschiedliche wirtschaftliche und politische Strukturen.(3) Die Bereiche Wirtschaft, Politik und Kultur sollen analytisch auseinandergehalten werden und bezüglich ihres Einflusses auf die Geschlechterungleichheiten in einem bestimmten Regionstyp genauer betrachtet werden.

Regionalwirtschaft

Der Frauenanteil in höheren beruflichen Positionen im Dienstleistungssektor und in der Landwirtschaft ist deutlich grösser als in der Industrie und im Baugewerbe (Tabelle 2, Spalte 2). Auch innerhalb des Dienstleistungssektors sind grosse Differenzen zwischen den Branchen zu verzeichnen.

Während im Detailhandel, im Gastgewerbe und im Ausbildungswesen Frauen mehr als einen Drittel aller beruflichen Positionen mit höheren Entscheidungs- und Führungskompetenzen bekleiden, sind es im Bausektor nur gerade 10%.

1) Erwerbstätige insgesamt 2) Erwerbstätige in höheren Positionen 3 )Verhältnis 2):1)

Sektoren:

Landwirtschaft

29,0

18,3

0,63

Industrie und Bau

22,0

7,5

0,34

Dienstleistungen

48,5

20,5

0,42

Ausgewählte Branchen des Dienstleistungssektors:

Detailhandel

62,4

34,3 0,55
Gastgewerbe

55,7

35,6 0,64
Banken

43,0

10,0 0,23
Bildungswesen

56,0

34,1

0,61

Gesundheitswesen

75,5

25,9

0,34

…ffentliche Verwaltung

32,3

14,6

0,45

(Quelle: Bundesamt für Statistik: Eidgenössische Volkszählung 1990)

Tab. 2: Frauenanteil bei den Erwerbstätigen insgesamt und Frauenanteil in Positionen mit höheren Entscheidungs- und Führungskompetenzen in verschiedenen Wirtschaftssektoren und Branchen in der Schweiz

Die eingangs erwähnten grösseren Frauenanteile in beruflich höheren Funktionen in der Westschweiz und im Kanton Tessin können deshalb in einer ersten Annäherung mit der deutlich grösseren Bedeutung des Dienstleistungssektors in der Westschweiz und im Kanton Tessin in Beziehung gebracht werden.(4)
Die höheren Frauenanteile in den alpinen Fremdenverkehrsregionen Oberengadin, Davos, Arosa, Surselva und Berner Oberland (vgl. Karte) liessen sich dann analog auf die grosse Bedeutung des Gastgewerbes in diesen Regionen zurückführen. Und es erstaunt auch nicht weiter, dass gerade der wichtige Bankenstandort Zürich nicht zu den Regionen mit höheren Frauenanteilen in Führungspositionen gehört, da die Banken nach wie vor ausgesprochene «Männerbastionen» darstellen.(5)
Im weiteren Forschungsverlauf wird es darum gehen, den Einfluss regionaler Wirtschaftsstrukturen auf das Geschlechterverhältnis im Erwerbsleben mit Hilfe der Resultate der eidgenössischen Betriebszählungen noch genauer und umfassender abzuklären.

Politisch-institutionelle Rahmenbedingungen

Zahlreiche jüngere Untersuchungen haben auf die grosse Bedeutung der wohlfahrtsstaatlichen Rahmenbedingungen für die Geschlechterverhältnisse in der Gesellschaft aufmerksam gemacht.(6) Über die Gleichstellungsgesetzgebung, die Steuergesetzgebung, die Regelungen bezüglich Mutterschafts- und Elternurlaub oder die staatlichen Infrastrukturangebote in der familienexternen Kinderbetreuung übt der Staat einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Rollenteilung der Geschlechter in Familie, Beruf und Politik aus. In der Frauen- und Geschlechterforschung ist heute praktisch unbestritten, dass Staaten des Typs «Sozialdemokratischer Wohlfahrtsstaat» (Dänemark, Schweden, Norwegen, Finnland) in bezug auf die Gleichstellung der Geschlechter eine Vorbildfunktion innehaben.(7)

Innerhalb der Schweiz mit ihrer föderalistischen Staatsform weisen die Kantone, aber auch die Gemeinden bedeutende politische Handlungsspielräume auf, die es ihnen erlauben, die Gleichstellung der Geschlechter in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen stärker oder schwächer zu fördern. Unter dieser Perspektive spielt auch die Frauenvertretung in den politischen Behörden eine wichtige Rolle.

Mit Hilfe der verfügbaren statistischen Unterlagen (zum Beispiel eidgenössische und kantonale Wahlresultate, Vergleich kantonaler Regelungen) soll nun eine umfassende Übersichtüber die regionalen Unterschiede in den gleichstellungsrelevanten politisch-institutionellen Rahmenbedingungen geschaffen werden.

Kulturelle Leitbilder

Wirtschaftsstruktur, politisch-institutionelle Rahmenbedingungen sowie weitere bisher nicht angeprochene Institutionen (zum Beispiel das Ausbildungssystem eines Landes) sind ohne Zweifel von zentraler Bedeutung für die Gleichstellung von Frauen und Männern. In diesen Institutionen sind gesellschaftliche Machtbeziehungen verankert und Optionen und Restriktionen für soziales Handeln festgelegt. Trotzdem sind die Geschlechterverhältnisse in einer Gesellschaft nicht einfach Reflexe institutioneller Rahmenbedingungen. Traditionen, Werte und Normen üben auf die Handlungsweise der einzelnen Gesellschaftsmitglieder ebenfalls einen grossen Einfluss aus. Solche Traditionen, Werte und Normen existieren in jeder Gesellschaft auch in bezug auf eine angemessene und wünschbare Rollen- und Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern. Diese «geschlechterkulturellen Leitbilder» (8) können von Land zu Land und von Region zu Region variieren, und sie verändern sich auch im Laufe der Zeit.

Regionale Unterschiede in den geschlechterkulturellen Leitbildern innerhalb der Schweiz manifestieren sich beispielsweise in den eingangs erwähnten unterschiedlichen Abstimmungsergebnissenüber gleichstellungsrelevante Sachverhalte. Sie sollen genauso wie vorhandene Meinungsumfragen zur Rollenteilung und zum Rollenverständnis der Geschlechter systematisch erfasst und nach Möglichkeit regional differenziert ausgewertet werden.

Kulturelle Leitbilder, politisch-institutionelle Rahmenbedingen und wirtschaftsstrukturelle Faktoren können zwar theoretisch auseinandergehalten werden, sie beeinflussen sich in Wirklichkeit jedoch gegenseitig stark. Regionale Differenzen der Geschlechterverhältnisse müssen deshalb grundsätzlich als das Ergebnis eines ausgesprochen komplexen, vielschichtigen und rückgekoppelten Zusammenspiels unterschiedlicher Einflussfaktoren und unter Einbezug historischer Entwicklungen interpretiert werden.


Forschungsverbund «Soziale Ungleichheiten»

Das Projekt «Geschlechterungleichheiten in den Regionen der Schweiz» ist eines von vier Forschungsprojekten, die im Schwerpunktprogramm «Zukunft Schweiz» innerhalb des interdisziplinären Forschungsverbundes «Soziale Ungleichheiten» durchgeführt werden. Alle Projekte dieses Verbundes befassen sich mit der Erscheinungsweise, der Dynamik und den Konsequenzen sozialer Ungleichheit. Sie sollen aber auch eine allgemeine Analyse von Ungleichheitsstrukturen und ihren Folgen.


Literatur

  1. Bundesamt für Statistik (1995a): Maturitäten 1993. Bern; Bundesamt für Statistik (1995b): Hochschulabschlüsse 1993. Bern
  2. Schuler, Martin et al.: Strukturatlas der Schweiz. Zürich 1985
  3. Bühler, Elisabeth: Economy, State or Culture? Explanations for the Regional Variations in Gender Inequality in Swiss Employment. European Urban and Regional Studies, 5 (1), 27–39, 1998
  4. Erwerbstätige im Dienstleistungssektor in Prozent aller Erwerbstätigen: Deutschschweiz: 61,5, französischsprachige Schweiz: 68,0, Tessin: 72,5 (Quelle: Bundesamt für Statistik: Eidgenössische Volkszählung 1990)
  5. Mez, Johanna und Bühler, Elisabeth: Functional and spatial segregation in the Swiss financial sector: pink-collar ghetto and male bastion. Environment and Planning A, 30, (im Druck)
  6. vgl. Fussnote 3
  7. Bühler, Elisabeth; Maurer, Elisabeth; Wyler, Silvia: Deregulierung und Chancengleichheit – neue Herausforderung an Staat und Gesellschaft. vdf Verlag, Zürich (erscheint im Herbst 1998)
  8. Der Begriff stammt von Birgit Pfau-Effinger, einer deutschen Soziologin, welche der ländervergleichenden Geschlechterforschung in jüngster Zeit starke Impulse vermittelt hat.

Dr. Elisabeth Bühler-Conrad (http://www.geo.unizh.ch/~buehler/) ist Lehrbeauftragte am Geographischen Institut.


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unipressedienst – Pressestelle der Universität Zürich
Nicolas Jene (upd@zuv.unizh.ch)
Last update: 30.07.98