unimagazin Nr. 2/98

Visionen! – Visionen?

VON PETER VON MATT

Seit das Wort Utopie Konkurs gemacht hat, haben die Visionen Konjunktur. Obwohl der Unterschied zwischen Utopien und Visionen nicht ohne weiteres klar ist, erscheint die gefühlsmässige Besetzung dieser beiden Begriffe entschieden gegensätzlich. Wer heute eine Utopie anbietet, sieht sich lauter langen Gesichtern gegenüber. Wer erklärt, er habe eine Vision, gilt als gesuchter Mann.

Man ruft nach Politikern, die eine Vision haben. Eine Vision verlangt man aber auch vom ganzen Land. Wenn die Schweiz nur endlich wieder eine Vision hat, wird alles gut. Viele fordern gerade deshalb mehr Frauen in der Politik. Frauen, heisst es, haben noch Visionen. Vielleicht schafft es Pipilotti Rist.

Für den Philologen ist die Bedeutungsänderung vielgebrauchter Wörter einer der spannendsten Vorgänge in seinem ganzen Arbeitsfeld. Ein unablässiger Prozess von Sinnverschiebungen läuft vor seinen Augen ab, wobei die Agenten dieses Vorgangs sich der Sache selber kaum bewusst sind. Der Wandel ethischer und politischer Werte wird darin auf feinen Skalen empirisch fassbar. Nie ist es ein einzelner, der dieÄnderung lanciert, nie eine einzelne. Wenn die semantische Mutation erkennbar wird, ist sie längst ein kollektives Ereignis. Die Tabuisierung einst allergewöhnlichster Wörter, «Neger» zum Beispiel, und die Normalisierung einstiger Schimpfwörter, «schwul» zum Beispiel, gibt Einblicke in die Dynamik desöffentlichen Bewusstseins, die so präzis anderswo kaum zu finden sind.

Selbst anscheinend unabdingbare und neutrale Begriffe wie «Gesellschaft» verändern den Horizont ihres Sinns von Jahrzehnt zu Jahrzehnt. Und wie merkwürdig ist das, was gegenwärtig mit dem Wort «Freiheit» geschieht. Vom absoluten Schlüsselbegriff aller politischen Debatten ist es in eine seltsame Randstellung gerückt, und nur noch die Lärmquellen rechtsaussen tun so, als habe sich da nichts verändert.

Ein klangvolles Wort

Was aber ist das Magische an der Vision? Was macht das Reden von einer Vision der Schweiz, von Visionen für dieses Land, plötzlich so verlockend? Haben sich denn die Visionen in der Geschichteüberhaupt bewährt? Dass Deutschland «einen Platz an der Sonne» haben müsse, was im Klartext meinte: Kolonien, und zwar viele, war das einst nicht auch eine Vision, und hatte sie nichtüble Folgen? Und waren es nicht Visionen, megalomane, mörderische Visionen, womit Hitler die Welt ins Unheil ritt? Und war das Bild von der Schweiz als einer friedlichen, sauberen, rundum hilfsbereiten Insel mitten im wüsten Kriegstreiben der Nachbarländer nicht auch eine Vision? Und hat sie nicht mehr verdeckt als sichtbar gemacht? Waren es nicht gerade die schiefen Visionen, die die Schweiz von sich selbst und ihrer sittlichen Sendung entwarf, welche das Land in die Lage brachten, in der es heute steckt? Die Lage ungefähr jenes Mannes aus einem bekannten Witz: Er steht am Morgen auf, geht ins Bad, schaut in den Spiegel und sagt: «Kenn’ ich nicht, wasch’ ich nicht!»

So wenig es als gesichert gelten kann, dass die grossen Visionen in der Geschichte immer auch zu grossen Taten und Ereignissen geführt haben, und so schwierig es ist, die glühenden Visionäre jederzeit von freilaufenden Spinnern zu unterscheiden, so unbestreitbar ist doch das Bedürfnis nach Visionen für die Schweiz, heute, am näherrückenden Rand der Jahrtausendgrenze. Der Ruf danach ertönt so unüberhörbar, der Klang allein schon des Wortes wirkt so erweckend, dass mehr dahinter stecken muss, als sich auf Anhieb zeigt.

Eingeübtes Verhalten

Auffällig ist die Differenz zwischen emotionaler und inhaltlicher Aufladung des Wortes. Wo Visionen gefordert werden, ist von der Sache, die geschaut und gesichtet werden soll, weit weniger die Rede als von der Ausstrahlung, die man sich davon verspricht. Ist es der alte Überdruss am schweizerischen Pragmatismus, der sich da wieder einmal regt? Der Pragmatismus ist die Erfolgsformel der Schweiz, und er musste seit je bezahlt werden mit Glanzlosigkeit.

Ein langsamer Staat, der von mühsam ausgehandelten Kompromissen lebt, vorsichtig, gelegentlich bauernschlau, misstrauisch gegen alles Grosszügige, gewillt, in jeden Wein Wasser zu giessen und grundsätzlich mit der kleinsten Kelle anzurichten, ein Staat, der es geschafft hat, immer mit einem blauen Auge davonzukommen und dafür noch etwas Schmerzensgeld zu kassieren, er hat von Natur aus Mühe mit grossartigen Entwürfen. Aber dass er damit Mühe hat, macht ihm auch wieder Mühe. Man kommt sich dabei so unansehnlich vor. Also sucht man erneut einen Kompromiss. Man möchte weiterfahren wie bisher, denn eine Erfolgsformel wechselt man nicht wie Hemd und Krawatte, aber ein paar Visionen als Dekoration könnten nicht schaden.

Das ist eine denkbare Deutung für das auffällige Bedürfnis. Sie ist nicht unrealistisch, aber sie ist auch hämisch. Sie unterstellt dem politischen Empfinden des Landes einen grundsätzlichen Widerstand gegen Aufbruch und Erneuerung, zusammen mit dem Versuch, diese Haltung kosmetisch zu kaschieren – Visionen als Make-up auf den Runzeln der Helvetia. Diese bösartige Auslegung müsste ihrerseits erst bewiesen werden.

Die Zeiten, da die routinemässigen Schweizbeschimpfungen zur intellektuellen Folklore im Inland gehörten, sind vorbei. Seit diese Kritik zu einem weltweiten Ereignis geworden ist, hat sich das Bewusstsein im Lande selbst verändert. Das politische Denken, das im Nachkrieg, im Kalten Krieg, in den Zeiten der waffenstarrenden Blöcke weithin zu Routine und Reflex verkommen war, erscheint heute als ein Feld schwieriger Aufgaben ohne vorgefertigte Lösungen. Unter dem Druck der Geschichte haben die Reflexe der Reflexion Platz gemacht. Die Schweiz hat es schwerer, und sie ist darüber ernster geworden.

Eine überholte Metapher

In diesem Zusammenhang muss der Ruf nach Visionen gesehen werden. Er ist ein Symptom für einen krisenhaften Zustand, der, von der Universität aus betrachtet, alle Fakultäten angeht. Tatsächlich steckt dahinter ein tiefer Zweifel an der Tauglichkeit des altgewohnten helvetischen Pragmatismus in der heutigen weltpolitischen Situation. Der Zweifel entspringt aber diesmal nicht dem Überdruss am glanzlosen Handwerk der Demokratie, am wenig heroischen Streit um Tunnelvarianten und Mehrwertsteuerprozente. Er ist keine neue Abwandlung jenes «Unbehagens im Kleinstaat», das Karl Schmid einst für eine Generationenfolge von schweizerischen Intellektuellen diagnostiziert hat. Vielmehr zeigt sich darin ein akutes Bedürfnis nach der grundsätzlichen Verortung der Schweiz im Prozess der europäischen und der Weltgeschichte.

Die Insel-Metapher hat ausgedient. Sie hat ihre Orientierungsfunktion verloren. Als ihre eigene Negation allerdings ist sie weiterhin wirksam: das Land, das keine Insel mehr ist, sieht sich in einem Strom dahintreiben, von dem es nichts weiss – woher er kommt nicht und wohin er zieht nicht.

Das ist nicht nur ein politisches Problem. Das ist, wenn auch versteckt und uneingestanden, eine Konfrontation mit fundamentalen Fragen der Geschichtstheorie und Geschichtsphilosophie. Nun graust es aber der Schweiz seit je vor aller Philosophie. Das reine, strenge Denken ist verdächtig. Es gilt als Luxus. Man fragt hierzulande nicht nach den letzten Gründen der Dinge, sondern nach dem Preis und der Qualität. Kennt man diese, kann man sich die letzten Gründe sparen. Seit sich uns aber die feste Insel unter den Füssen aufgelöst hat wie ein Eisberg, der in warme Meere treibt, seit wir das Empfinden nicht mehr abwehren können, in riesigen Gewässern mitzuschwimmen, ohne klaren Blick auf den Polarstern und die Dioskuren, sehen wir uns vor einige jener radikalen Fragen gestellt, die wir gewohnt waren, achselzuckend den Grüblern zuüberlassen.

Die notwendige Reflexion

Der Prozess der Weltgeschichte, was ist er, wie verläuft er, wo endet er? Steht er unter dem Primat der Vernunft, die langsam, aber unaufhaltsam alles verbessert, den Hunger beseitigt, die Krankheiten ausrottet, die Kriege eingrenzt, die Unentwickelten entwickelt und die Ungeschulten schult? Die alte Überzeugung der Aufklärung von einer grundsätzlichen Perfektibilität des Planeten und seiner Bewohner bestimmt noch immer das Konzept der Uno, aber ist sie Wahrheit oder Illusion?

Die Philosophen haben sich inzwischen von allen wissenschaftlich beweisbaren Grundregeln der Weltgeschichte verabschiedet. Dennoch können auch sie nicht absehen von den Fakten der planetarisch fortschreitenden Modernisierung, die auf den vier Ebenen der Entzauberung, der Verwissenschaftlichung, der Industrialisierung und der Demokratisierung verläuft.

Ist das, was sich heute Globalisierung nennt und als schubhafte Beschleunigung dieser Modernisierung erscheint, eine Episode oder ein irreversibler Vorgang? Falls sie irreversibel ist, gibt es also doch welthistorische Gesetzmässigkeiten? Falls sie Episode sein kann, geht man dann nicht besser auf Distanz dazu? Anderseits verläuft die Entzauberung der Welt, die Beseitigung des Glaubens an eine transzendente Wirklichkeit und ihre geheimnisvolle Anwesenheit im Diesseitigen, offenbar gar nicht so gradlinig, wie die Theoretiker der Modernisierung es lange Zeit sehen wollten. Die fundamentalistischen Bewegungen geben weltweit Gegensteuer und greifen damit auch in die Prozesse der Verwissenschaftlichung und Demokratisierung ein. Läuft alles im Kreis, oder steht es unter einem fernen Ziel?

Auf ihrer schmelzenden Insel sieht sich die Schweiz mit den Fragen nach dem, was die Weltgeschichte im Tiefsten bewegt, in dem Masse konfrontiert, in dem sie diesem bewegten Ganzen zunehmend ausgeliefert ist. Das wirft sie in ein Dilemma zwischen Pragmatismus und grundsätzlicher Reflexion, zwischen alltäglicher Problemlösung und reinem, strengem Denken. Der Ruf nach Visionen für das Land ist nichts anderes als der Versuch, dieses Dilemma zuüberwinden.

Das Verführerische allein schon am Wort «Vision» beruht auf dem Versprechen eines zugleich sachbezogenen und doch der kühnen Idee entsprungenen Entwurfs. Ob es so etwas gibt, ist schwer zu sagen. Vielleicht ist der Wunsch wichtiger als die Erfüllung. Fest steht auf jeden Fall, dass sich jene Spielart des helvetischen Pragmatismus, die stolz darauf ist, nichtüber den Tellerrand hinauszusehen, totgelaufen hat. Auch die ausgepichten Macher kommen um das reine, strenge Denken nicht mehr herum.


Dr. Peter von Matt ist ordentlicher Professor für neuere deutsche Literatur (Deutsches Seminar).


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unipressedienst – Pressestelle der Universität Zürich
Nicolas Jene (upd@zuv.unizh.ch)
Last update: 30.07.98