Magazin der Universit?t Z?rich Nr. 3/96

Sinkt die Fruchtbarkeit?

Auf Chemikalien in der Umwelt kann nicht wie auf eine Zigarette oder auf ein Glas Wein einfach verzichtet werden. Wir alle sind mittlerweile chemisch belastet; am höchsten sind es jedoch die marinen Säuger und die Raubvögel. Wie steht es um unsere chemische Belastung, und was sind mögliche Folgen?

VON MARGARET SCHLUMPF UND WALTER LICHTENSTEIGER

Durch seine Tätigkeiten in Landwirtschaft und Industrie hat der Mensch eine ansehnliche Reihe von Chemikalien in die Umwelt eingebracht. Viele dieser synthetischen Substanzen sind persistent und lipophil, Eigenschaften, die es diesen Substanzen erlauben, sich rasch in Fettgeweben von Tier und Pflanzen anzureichern. So gelangen sie in die Nahrungskette und werden zu einer potentiellen Bedrohung für die Gesundheit von Mensch und Tier. Während der letzten drei Jahrzehnte galt unser Augenmerk und unsere Besorgnis in erster Linie letalen, karzinogenen oder teratogenen (Missbildungen erzeugenden) Wirkungen solcher Umweltchemikalien. In neuerer Zeit jedoch stehen plötzlich andere Mechanismen und Effekte dieser Substanzen im Vordergrund, nämlich ihre Reproduktions- und entwicklungstoxische Wirksamkeit, das heisst ihre Wirkungen auf die Reproduktion und auf die Nachkommen belasteter Elterngenerationen.

Nachhaltige Funktionsstörungen

Die Wirkungen von Chemikalien aus der Umwelt auf Entwicklungsprozesseäussern sich in nachhaltig andauernden Funktionsstörungen von Organen und Organsystemen. Gewisse Fremdsubstanzen (siehe Liste) können mit Hormonsystemen interagieren, indem sie entweder direkt in die Hormonbiosynthese oder am Hormonrezeptor angreifen. Chemikalien können aber auch die Aktivität von stoffwechselaktiven metabolisierenden Enzymen verändern, was einen rascheren Abbau von exogenen (von aussen) zugeführten, aber auch von endogenen Stoffen wie Hormonen nach sich zieht und zu veränderten Hormonspiegeln in kritischen Phasen der Entwicklung führen kann.

Ein weiteres Merkmal früher Substanzwirkungen ist die hohe Interdependenz von Wirkungen. Veränderte Hormonspiegel während kritischen Phasen der Entwicklung können nicht nur zu Störungen der direkt betroffenen hormonellen Systeme führen, sondern auch die Entstehung hormonabhängiger Immun- und Verhaltensstörungen begünstigen.

Hintergrund für die in jüngster Zeit steigende Besorgnisüber hormonell aktive Chemikalien bilden neuere epidemiologische Datenüber die Verminderung der Spermienproduktion vorab in europäischen Ländern, Zunahme von Kryptorchismus (Hodenhochstand), Hypospadie (Harnröhre mit nach unten geöffneter Rinne) und bestimmter Hodenkrebsarten beim jungen Mann, Störungen der Fertilität und Zunahme von Brustkrebs bei der Frau. Als alarmierend werden auch die Fortpflanzungsstörungen bei wildlebenden Tieren angesehen. Der Fischotter lässt sich in industriellen Gebieten Mittel- und Nordeuropas selbst in geeigneten Biotopen nicht mehr ansiedeln. Reproduktionsstörungen und Störungen des Immun- und Nervensystems (Verhalten) nehmen bei marinen Säugern, bei Reptilien und Vögeln in besorgniserregendem Masse zu.

Bei einem weiten Spektrum von Lebewesen, vom Zooplanktonüber Seesterne, Muscheln, Schnecken, Amphibien und Reptilien, Vögel und Säugetiere bis zum Menschen werden Reproduktionsstörungen mit Schadstoffbelastungen in Verbindung gebracht. Auch in der Schweiz sind viele Tierarten gefährdet (Rote Liste, 1994).

Weitverbreitete Chemikalien aus der Umwelt mit Auswirkungen auf die Reproduktion

Pestizide

Herbizide Fungizide Insektizide Nematozide

2,4-D Benomyl §-HCH Heptachlor Synth.-Pyrethroide Aldicarb

2,4,5-T Hexachlorobenzol Carbaryl H-epoxide Toxaphen DBCP

Alachlor Mancozeb Chlordane Lindane Transnochlor

Almitrol Maneb Dicofol Methomyl

Atrazin Metiram-complex Dieldrin Methoxychlor

Metribuzin Tributylzinn Metaboliten Oxychlordan

Trifluralin Ziram Endosulfan Parathion

Industriechemikalien

Cadmium, Dioxin Blei, PCB/PBB Pentachlorphenol (PCP) Pentanonylphenol Phtalate, Styrene

Verschiedene Faktoren sind am Rückgang unserer Tierarten beteiligt, wie das Verschwinden oder die Beeinträchtigung von Lebensräumen. Feldstudien und neuere Ergebnisse der experimentellen Toxikologie jedoch deuten darauf hin, dass toxische Effekte von Umweltchemikalien sich zumeist nicht in akuter Vergiftungäussern. Viel eher sind sie charakterisiert als niedrig dosierte Langzeiteffekte, dieüber Generationen eine kontinuierliche Abnahme der Fertilität und der Lebensfähigkeit von Tierarten bewirken.

Menschliche Schadstoffbelastung?

Wir alle sind chemisch belastet. Die höchste Belastung erleiden marine Säuger wie Wale, Seehunde und die Raubvögel. Ein guter Indikator für die Schadstoffbelastung des Menschen ist die Humanmilch. In verschiedenen deutschen Bundesländern wird die Humanmilch seit Anfang der 80er Jahre regelmässig auf ihren Gehalt an verschiedenen Pestiziden und auf polychlorierte Biphenyle (PCB, industriell verwendete Chemikalien) untersucht. Mit Ausnahme von Hexachlorzyklohexan (Lindan) sind die Schädlingsbekämpfungsmittel in den meisten westlichen Industrieländern schon seit vielen Jahren verboten und zeigen eine sinkende Tendenz. Trotzdem sind ihre Konzentrationen in der Frauenmilch immer noch viel höher als in der Kuhmilch. Die täglich von einem Säugling eingenommene Menge an PCB beträgt gemäss der Zürcher Brustmilchstudie (Meyer und Sedlacek, 1993) etwa das Sechsfache des WHO-Grenzwerts für die tägliche Einnahme (Allowed daily intake). Für diese seit bald 20 Jahren verbotene Substanzgruppe zeichnet sich auch heute noch keine eindeutige Trendwende an. Hinzu kommt die hohe Belastung des Säuglings mit Dioxinen aus der Humanmilch, die Anfang der 90er Jahre in Europa rund das 40- bis maximal das 60fache der täglich von Erwachsenen eingenommenen Menge betrug (Kello, 1993).

Eine neue Generation von Fremdstoffen in der Humanmilch kündete sich 1992/93 an; erstmals sind in Frauenmilchproben der Schweiz und Deutschlands Chemikalien ganz anderer Herkunft gefunden worden: Polynitro- oder Nitromoschusverbindungen. Sie dienen als billiger und praktisch nicht abbaubarer Ersatz für das natürliche Moschus und finden weitverbreitet Verwendung als Parfümbestandteile in Wasch-, Kosmetik- und Reinigungsmitteln. Über die Toxizität dieser Verbindungen ist sehr wenig bekannt. Wir sind daran, die Entwicklungstoxizität dieser Substanz in niedrigdosierten Langzeitversuchen abzuklären und haben eine dem adulten Tier vergleichbare Induktion der Leberenzyme (vermehrte Synthese von Leberenzymen) bei erst 14 Tage alten Ratten gefunden. Die Wirkung auf die Leberenzyme der Jungtiere kommt vor allem dadurch zustande, dass das Neugeborene während zweier Wochen ausschliesslich eine sehr hoch mit diesem Parfümstoff angereicherte Rattenmilch trinkt und die Substanz dann sehr effektiv in sein Fettgewebe einlagert. Auch erwachsene Ratten lagern sehr rasch, zeit- und dosisabhängig, hohe Konzentrationen dieser fettlöslichen Substanzen ins Fettgewebe ein, wobei interessanterweise das weibliche Tier bei zeitlich und mengenmässig gleicher Belastung aus bisher unabgeklärten Gründen die fünf- bis sechsfach höhere Konzentration im Fett und in den Organen erreicht (Suter, 1996). Die starke Bioakkumulation dieser Parfümstoffe wurde in den frühen 80er Jahren in Japan bei Fischen festgestellt, merkwürdigerweise jedoch in europäischen Ländern nicht weiter berücksichtigt bis zu ihremüberraschenden Nachweis in der Humanmilch.

Solche Daten aus der experimentellen Forschung sind wichtig für die Beurteilung möglicher Schadstoffwirkungen auf unsere Fauna. Der Rückzug der Nitromoschusverbindungen aus den Waschmitteln (Sommer, 1994) bewirkte einen prompten Rückgang der Konzentrationen auch in der Humanmilch. Seither sind neue synthetische polyzyklische Moschusduftstoffe im Kosmetik-Waschmittelhandel und prompt auch in der Humanmilch aufgetaucht.

Trotzdem sie in der Humanmilch mittlerweile respektable Werte erreicht haben, sind bis heute keine Daten zur Toxizität dieser Stoffe verfügbar.

Hormonwirksame Chemikalien

Von immer mehr Chemikalien mit Bioakkumulation wird bekannt, dass sie mit der Wirkung von Sexualhormonen interagieren. Sexualhormone spielen eine zentrale Rolle in Fortpflanzungs- und Entwicklungsprozessen. Sowohl die Entwicklung von Keimdrüsen und Keimzellen als auch jene von Fortpflanzungsverhalten und Brutpflegeverhalten hängt von der genau regulierten Einwirkung von Sexualhormonen ab, von männlichen Sexualsteroiden (Androgenen, besonders Testosteron) und weiblichen Sexualsteroiden (…strogenen, besonders Estradiol). Dabei unterscheidet man zwei Arten von Hormonwirkungen: Während der frühen Entwicklung des Organismus (Embryonal- und Fetalperiode)üben Sexualsteroide «organisierende» Wirkungen aus, das heisst, sie lenken die Entwicklung bestimmter Organe (innere undäussere Genitalorgane, Gehirn) in eine männliche oder weibliche Richtung. Diese Effekte sind irreversibel. Dementsprechend sind Störungen von Hormonwirkungen während der frühen Entwicklung besonders gravierend, da sie die Fortpflanzungsfähigkeit permanent beeinträchtigen. Im Erwachsenenalter sind die Wirkungen der Sexualsteroide «aktivierend», das heisst, die Hormone aktivieren bestimmte Funktionen (zum Beispiel Sexualverhalten) im Rahmen der in der frühen Entwicklung angelegten Organisation. Der Ablauf dieser Prozesse ist bei Wirbeltieren relativ gut bekannt. Sexualsteroide, wie wir sie bei Wirbeltieren antreffen, spielen auch bei primitiveren Tieren bei der Entwicklung der Keimdrüsen und der Produktion von Keimzellen eine Rolle.

Fremdstoffwirkungen auf Sexualhormon-Biosynthese und -Abbau: Bei verschiedenen Tierarten, vom Seesternüber Fische, Vögel bis zu Säugetieren, sindÄnderungen der Konzentration von Steroidhormonen mit Belastung durch Organochemikalien und Schwermetalle in Verbindung gebracht worden. In der Mehrzahl der Feldbeobachtungen konnte nicht völlig geklärt werden, worauf dieÄnderungen der Hormonkonzentrationen beruhten. Grundsätzlich kann entweder die Biosynthese von Steroidhormonen verändert sein, sei es infolge gestörter Regulation der Keimdrüsenfunktion durch das Zentralnervensystem oder infolge direkter Fremdstoffeffekte auf die Keimdrüsen. Fremdsubstanzen können auch den biologischen Abbau von Steroidhormonen beeinflussen.

Fremdstoffe können die Effekte von Sexualhormonen direkt imitieren oder blockieren durch ihre Wirkung an Steroidhormon-Rezeptoren. Ein weiterer Wirkungsmechanismus von Organochemikalien gewinnt zusehends an Bedeutung: Gewisse Chemikalien wirken wie weibliche oder männliche Sexualhormone oder blockieren die Wirkung von Sexualhormonen. Substanzen, die analog den weiblichen Sexualhormonen wirken, also eine östrogene Aktivität zeigen, sind recht zahlreich (siehe Tabelle); es gehören dazu o,p'-DDT, gewisse Organochlorpestizide, bestimmte polychlorierte Biphenyle (PCB; gewisse PCB oder PCB-Mischungen), einige polyzyklische, aromatische Kohlenwasserstoffe, nichtionische, oberflächenaktive Substanzen (Alkylphenole, Tween 80) und Stoffe, die in der Plastikherstellung verwendet werden (Bisphenol A, Nonylphenole). Das bekannteste Dioxin, das 2,3,7,8,-Tetrachlordibenzodioxin (TCDD), dagegen wirkt antiöstrogen. Daneben sind auch Substanzen mit androgener und antiandrogener Wirkung bekannt. Über den direkten Angriff an Hormonrezeptoren können Chemikalien dieser Art sehr wirksam in Entwicklungsprozesse eingreifen.

Die meisten Substanzen zeichnen sich zusätzlich durch eine gute Fettlöslichkeit aus und können deshalb alle Gebiete des Körpers, auch das Gehirn, gut erreichen. Sie werden im Gegensatz zu den natürlichen Steroidhormonen durch die spezifischen Hormon-Transporteiweisse des Blutes kaum gebunden und werden auch auf anderen Wegen abgebaut als die Steroidhormone. Damit sind sie regulierenden Eingriffen des Organismus weitgehend entzogen.

Eine Fremdstoffeinwirkung kann auch die Zahl oder die Bindungseigenschaften von Rezeptoren für Steroidhormone beeinflussen. DieÄnderung der Bindungseigenschaften des Progesteronrezeptors bei Nerzweibchen wurde mit der verminderten Fertilität dieser Tiere nach PCB-Exposition in Verbindung gebracht.

Störung der sexuellen Differenzierung

Aus der hormonellen Aktivität der erwähnten Chemikalien lassen sich Störungen der sexuellen Differenzierung, das heisst der Ausbildung männlicher oder weiblicher Charakteristika bei Organen, deren Entwicklung von Sexualorganen beeinflusst wird (besonders Fortpflanzungsorgane und Gehirn), erklären. Auch die Abnahme der Spermienproduktion scheint auf einer Interaktion mit hormonellen Regulationsprozessen während der frühen Entwicklung zu beruhen. Als man die Datenüber die Abnahme der Spermienzahl beim Mann (Spermien in Ejakulaten von Samenspendern) genau analysierte, zeigte sich, dass nur nach 1950 geborene Männer betroffen waren. Dies ist die erste Generation, die während der vorgeburtlichen Entwicklung in der Gebärmutter modernen Organochlorchemikalien wie DDT und PCB ausgesetzt war. Sharpe stellt die Hypothese auf, dass der Rückgang der Spermienzahl sowie die Zunahme von zwei anderen Störungen, deren Häufigkeit im gleichen Zeitraum zugenommen hat (Kryptorchismus und Hodenkrebs), die Folge einesöstrogenähnlichen Effektes während der frühen Entwicklung sein könnten.


Literatur

Rote Liste der gefährdeten Tierarten in der Schweiz, herausgegeben vom Bundesamt für Umwelt, Wald und Landschaft, Bern, 1994

Kello, D. (1993) in: Humanmilch, Daten zur Belastung mit PCB, Dioxinen, Pestiziden und Moschusxylol, Eds. M. Schlumpf und W. Lichtensteiger, Kind und Umwelt, Zürich

Meyer und Sedlacek (1993) in: Humanmilch ibid.

Sharpe, R. (1996) in: Sinkt die Fertilität? Daten zur Wirkung von Umweltchemikalien auf Fortpflanzungsprozesse bei Mensch, Wirbeltieren und wirbellosen Tieren, eds. M. Schlumpf. W. Lichtensteiger, Kind und Umwelt, Zürich,

Schlumpf M., Lichtensteiger, W. (1996) in: Sinkt die Fertilität? Ibid.

Suter, Regine, Developmental Toxicity of the synthetic fragrance musk xylene in rats, Diss., in prep., 1996


Zu diesem Artikel ist soeben auch ein ausführliches Buch der beiden Autoren erschienen: «Sinkt die Fertilität?», Daten zur Wirkung von Umweltchemikalien auf die Fortpflanzungsprozesse bei Mensch, Wirbeltieren und wirbellosen Tieren.

Herausgegeben von M. Schlumpf und W. Lichtensteiger; Verlag Kind und Umwelt, Band 4; Preis Fr. 10. ; es ist zu beziehen bei M. Schlumpf und W. Lichtensteiger, Pharmakologisches Institut, Universität Zürich, Winterthurerstrasse 190, CH-8057 Zürich,
Tel. 257 59 12, Fax 257 57 08.


Dr. Margaret Schlumpf (schlumpm@pharma.unizh.ch) ist Privatdozentin und Oberassistentin, und Dr. Walter Lichtensteiger (lichtens@pharma.unizh.ch) ist ausserordentlicher Professor am Institut für Pharmakologie der Universität Zürich.


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Felix Mäder (fmaeder@zuv.unizh.ch)
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Last update: 3.10.1996