Magazin der Universit?t Z?rich Nr. 3/96

Netzverdichtung:
Trends in der Einheitszivilisation

Noch zur Goethe-Zeit und weit darüber hinaus bis tief ins 19. Jahrhundert hinein war, von marginalen technischen Sonderfällen abgesehen, vom literarischen Briefwechsel über kaufmännische Bestellungs- und Verrechnungsvorgänge bis hin zum militärischen Befehl jeder raumüberwindende kommunikative Akt an Boten, an die Kutsche und dann an die Eisenbahn gebunden. Demgegenüber ist in den elektronisierten Kommunikationsnetzen, die sich von den Verkehrsnetzen abgelöst haben, die Kommunikation vom Faktor Zeit in der Raumüberwindung unabhängig geworden.

VON HERMANN LÜBBE

Aus der Perspektive eines geisteswissenschaftlichen Bearbeiters von Archivmaterialien mag der Wegfall des Zeitfaktors in der kommunikativen Raumüberwindung als einigermassen bedeutungslos erscheinen. Aus der Perspektive eines Hermeneuten unter den klassischen Philologen, der an seinem heimischen Arbeitsplatz die gesamte griechische Literatur inzwischen auf Disketten verfügbar hält, sieht das in angemessener Einschätzung ersparter Bibliotheksgänge schon ganz anders aus, und für die heute zumal in den Wirtschaftswissenschaften thematisierten Globalisierungsvorgänge gilt ohnehin, dass sie die von Raumüberwindungszeit unabhängig gewordene, an politische Grenzen nicht mehr rückgebundene Informationüber Geldmärkte und sonstige Märkte zur Voraussetzung hat.

Kulturrevolutionäre Wirkungen

Man darf die Vermutung riskieren, dass der Vorgang der technischen Ablösung der Kommunikationsnetze von den Verkehrsnetzen kulturrevolutionäre Auswirkungen haben wird, die in ihren Dimensionen den Wirkungen des Übergangs zur drucktechnischen Herstellung von Büchern nicht nachsteht. Wir befinden uns insoweit erst am Anfang einer Entwicklung, die falsch einschätzt, wer sie, wie die traditionelle Kulturkritik, vorwiegend nach der Banalität der kulturellen Gehalte beurteilt, die den Grossteil des Programmangebots unserer Massenmedien füllen. Interessanter ist es demgegenüber, sich mit kulturellen und politischen Folgewirkungen fortschreitender Netzverdichtung bekanntzumachen, die alles andere als banal sind undüberdies kulturkritische Reflexionen gar nicht nahelegen.

Als wichtigste kulturelle und politische Folgewirkung fortschreitender Netzverdichtung könnten sich ihre Dezentralisierungseffekte erweisen. Dassüber Netzverdichtungsvorgänge die Zentralität in der Organisation moderner Gesellschaften abnimmt, wird noch immer in vielen Ohrenüberraschend klingen. Dieser Überraschungseffekt beruht auf unserer elementaren historischen Erfahrung mit der Rationalität der Bildung von Zentren, die wir an der Geschichte unserer grossen Metropolen ablesen können. Die elementare Rationalität der Zentren besteht, netztechnisch gesehen, in der Minimalisierung der Zahl fälliger Verbindungen,über die man von einem Ort zu jedem beliebigen anderen Ort gelangen kann, durch Auszeichnung eines Ortes, der auf dem Weg zu beliebigen anderen Orten unvermeidlicherweise umwegshalber passiert werden muss. Der Kreuzungspunkt aller Umwege ist das, was wir ein Zentrum nennen wollen. Im mathematischen Idealfall ist dann die Zahl der nötigen Wege nicht grösser als die Zahl der Plätze, die es mit ihrer Hilfe zu verbinden galt. In Aufnahme und Abwandlung einer uns allen geläufigen metonymischen Redeweise heisst das: Alle Wege führen nach Rom, und jeder Weg anderswohin führtüber Rom.

Die Pragmatik der skizzierten Beziehungsverhältnisse ist von elementarer Wucht ökonomisch und militärisch, administrativ und kulturell. Noch im Eisenbahnsystem des 19. Jahrhunderts spiegelt sich diese Wucht Zürich zwischen Winterthur und Bern, Chur und Basel, München zwischen Salzburg und Augsburg, Lindau und Ingolstadt.

Die Frage muss jetzt lauten: Wäre denn diese so sinnfällige Vorzugslage der Zentren, nachdem sie sich einmal gebildet haben, jemals einzuholen? Man bleibt in Beantwortung dieser Frage realistisch, wenn man zunächst konstatiert: Inüberschaubaren Zeiträumen undüberdies in sehr relevanten Lebensbeziehungen wird sich die Vorzugslage der Zentren erhalten. Nichtsdestoweniger ist inzwischen erkennbar, dass es mächtig wirkende gegenläufige Trends gibt. Sie resultieren aus den kulturell grossräumig homogenisierenden Wirkungen netzverdichtungsabhängig positionsindifferenter Zugänglichkeit von Gütern und Informationen.

Stadt und Land homogenisieren sich

Dieüber Jahrtausende hin unsere Kultur prägende Differenz von Stadt und Land löst sich auf. Die Maturandenquote ist inzwischen räumlich nahezu ausgeglichen. Universitäten sind fastüberallüber Pendlerentfernungen zugänglich. Die Qualität der wissenschaftlichen Bibliotheken im Teutoburger Wald oder auf dem Bodanrück steht derjenigen der grossen Metropolen nicht nach, und einzig als …rter der grossen Sammlungen der Informationsrelikte und sonstigen Kostbarkeiten aus vormodernen Zivilisationsepochen verbleibt den Metropolen ihr Vorrang. Die Avantgardekunst hingegen schätzt es längst, sich an den Stätten ihrer Entstehung zu musealisieren. Reproduktionstechniken präsentieren uns in der bildenden Kunst die Bestände der Klassik zu Haus besser ausgeleuchtet als im Original, dasüberdies ständig von Museumsbesuchermassen bedrängt ist. Das Konsumgüterniveau ist ohnehin ausgeglichen, das heisst Personen, die wir auf der Strasse oder im Flugzeug als Ländler zu identifizieren vermöchten, dürfen als zivilisatorische Evolutionsrelikte gelten.

Im temporalen Aspekt der Sache erklären die insoweit skizzierten netzverdichtungsabhängigen kulturellen Homogenisierungsvorgänge die auffälligen Tendenzen der Musealisierung unserer alten Metropolen. Dreissig Prozent aller Touristen, so sagt die Statistik, sind Städtetouristen. Zu diesen Anteilen brechen die Urlauber nicht zu den Meeresstränden oder in die Gebirge auf, sondern nach Paris oder Rom, London oder Wien. Die Architektur in den Zentren dieser alten Städte ist natürlich längstüberwiegend denkmalgeschützte Architektur. Und das ist es eben: Die Einzigartigkeit der Metropolen, die der moderne Städtetourist aufsucht, ist nicht mehr die Einzigartigkeit in der Zugänglichkeit aktueller Zivilisationsgüter. Es ist vielmehr die Einzigartigkeit eines städtebaulichen Reliktensembles, für das es in der modernen Zivilisation einÄquivalent nicht mehr geben wird.

Hauptstadt Europas wäre sinnlos

Hauptstädte lassen sich als neue heute nicht mehr bauen. Das ist nicht ein Problem versagender städtebaulicher Phantasie. Es ist ein Problem der zentralitätsauflösenden, grossräumigen Verdichtung zivilisatorischer Beziehungsgeflechte. Eine Hauptstadt Europas wäre architektonisch schlechterdings nicht mehr konzipierbar, weil sie sinnlos wäre. Zu dieser Lage passt es, dass die Kommission der Europäischen Union den Sitz in Brüssel hat, das Parlament aber in Strassburg und den Gerichtshof in Luxemburg, während der Rat zwischen Birmingham oder Hannover, Maastricht oder Korfu pendelt.

Die nationalen Regierungen, gewiss, werden in der Hauptstadt angelobt, und dort auch gibt der Staatschef seinen Neujahrsempfang fürs diplomatische Corps. Das ist rituell korrekt, und selbst noch in der Medienberichterstattungüber diese Ereignisse verlangt das Publikum die symbolische Präsenz eines hauptstädtischen Ambientes. Aber wo findet man das in der sich dezentralisierenden modernen Welt? Am ehesten noch in architektonischen Relikten, die gerade deswegen, weil sie aktuelle Funktionen nicht mehr erfüllen, sich für Zwecke der symbolischen Repräsentanz des Gemeinwesens hervorragend eignen die Schlösser und hohen Treppen, die Kuppeln und Säulengänge unserer Herkunftsstädte.

Dieöffentliche Meinung hingegen, von deren Bewegung der Stimmenfluss in den Wahlgängen und damit die herrschenden Mehrheitsverhältnisse abhängig sind, hat keinen Sitz im Raum und die Praxis der Politik im Bemühen,öffentliche Meinung zu stabilisieren oder zu wenden, ebensowenig. Dieöffentliche Meinung ist eine ortsungebunden wirksame Grösse, und geschlossene Netze gewährleisten technisch diese Omnipräsenz.

Zur Europäisierung gehört Regionalismus

Wahr ist, dass der Vorgang der Netzverdichtung rasch Züge einer Einheitszivilisationüber herkunftsgeschichtlich höchst disparat geprägte Räume legt. Aber just das verschafft der Diskrepanz zwischen dem, was wir in der modernen Zivilisation grossräumig alle miteinander teilen, und denjenigen Lebensweisen und Orientierungen, in denen wir uns kraft unterschiedlicher Herkunft gerade voneinander unterscheiden, wie nie zuvor Auffälligkeit, und entsprechend ist die in kulturkritischer Absicht so genannte Einheitszivilisation in Wahrheit eine Zivilisation des reflexiv intensivierten Willens zur Konservierung unserer Herkunftsbesonderheiten. Während wir unsüber den Globus hin geschäftlich oder akademisch in einem zumeist freilich recht rudimentären Englisch zu verständigen pflegen, revitalisieren sich zugleich unsere residualen kleinen Sprachen und Dialekte. Politisch heisst das: Zur Europäisierung gehört der Regionalismus, und während für das Recht zum Krieg bereits die Legitimität eines Beschlusses des Weltsicherheitsrates unentbehrlich zu sein scheint, vervielfältigt sich kraft völkerrechtlich gewährleisteten Selbstbestimmungsrechts zugleich die Zahl souveräner Völkerrechtssubjekte. Und so in allem: Einheit macht Vielheit virulent, und die grossräumigen Abhängigkeiten von evolutionär gleichzeitigen Zivilisationselementen evozieren den Willen zur Selbstbehauptung ungleichzeitiger Herkunftsprägungen.


Dr. Hermann Lübbe ist Honorarprofessor der Universität Zürich.


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Felix Mäder (fmaeder@zuv.unizh.ch)
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Last update: 27.9.1996