Magazin der Universit?t Z?rich Nr. 3/96

System Erde in neuer Sicht

Erdbeobachtung aus dem Weltall ist zu einer weltweit koordinierten Informationserhebungsdisziplin geworden. Satellitensysteme überwachen kontinuierlich Landoberfläche, Meer und Atmosphäre und liefern globale Daten über den aktuellsten Zustand und die Dynamik der Veränderungsprozesse über das komplexe vernetzte System Erde. Insbesondere das europäische ERS-Satellitensystem hat die Umweltforschung revolutioniert.


Dreidimensionale Geländedarstellung mit aktueller Schneeverteilung im Raum Davos vom 1. Mai 1993; Blick aus Dischmatal Richtung Weissfluhjoch. Geländevisualisierung mittels synthetischen Radarbilds, erstellt aus je einer Aufnahme eines Ascending und Descending Orbits, einem Digitalen Geländemodell und einer Schneeklassifikation. Aufnahmen ERS-1 der ESA No. 9371/2655, 1.5.93, 10.10 UTC und 9378/927, 1.5.93, 21.30 UTC; DHM-25: Digitales Höhenmodell DHM-25. Copyright Bundesamt für Landestopographie; reproduziert mit Bewilligung des Bundesamtes für Landestopographie vom 18.7.96. (Herstellung: Jens Piesbergen, dipl. geogr., und Hilko Hoffmann, dipl. geogr.)


VON HAROLD HAEFNER

Unsere Erde unterliegt einem ständigen Wandel, der in den unterschiedlichsten Raum- und Zeitdimensionen abläuft. In diese Veränderungen und die Austauschprozesse zwischen den einzelnen Sphären des Systems ERDE ist der Mensch in zunehmendem Masse mit einbezogen. Er nimmt mit seinen Aktivitäten laufend stärkeren Einfluss auf die natürlichen Kreisläufe. Industrialisierung, Urbanisierung und die stetig ansteigenden Energie-, Nahrungs- und Konsumansprüche einer kontinuierlich anwachsenden Weltbevölkerung führen u. a. zu einem Anstieg von Kohlendioxid und anderen Treibhausgasen in der Atmosphäre, zum Abbau des Ozonschildes, zur Übernutzung der natürlichen Ressourcen, zur Degradation der Böden und zu enormen Belastungen und Verschmutzungen unserer Umwelt.

Menschliches (Miss-)Wirtschaften

Menschliches Handeln und (Miss) Wirtschaften tragen insbesondere zu einer unkontrollierten Zunahme der Konzentration der Treibhausgase in der Atmosphäre bei. Daraus resultiert ein allmähliches Ansteigen der durchschnittlichen globalen Temperaturen. Dieser sich zunehmend verstärkende Effekt der Erwärmung der Erdoberfläche, das damit verbundene komplexe Ursache-Wirkungs-Gefüge und die mannigfachenökologischen Auswirkungen werden heute unter dem Schlagwort «Global Change» zusammengefasst. Diese globalen Klimaänderungen beruhen auf extrem vernetzten und rückgekoppelten Wechselwirkungen zwischen Atmo-, Hydro-, Kryo-, Bio-, Pedo- und Lithosphäre. Sie beeinflussen die …kosysteme in verschiedenster Hinsicht und wirken sich letztlich auf das menschliche Leben schlechthin aus.

Viele dieser Probleme sind weltweiter Art, betreffen die gesamte Menschheit und lassen sich auch nur durch gemeinsame, umfassende Anstrengungen lösen. Entsprechende Beschlüsse und Handlungen müssen auf allen Ebenen von Politik, internationalem Recht, Wissenschaft, Entwicklungszusammenarbeit, Technologietransfer usw. getroffen und umgesetzt werden. Lösungskonzepte und Handlungsstrategien aber haben auf zuverlässigen, systematischen Datengrundlagen zu basieren, die mittels globalen Überwachungssystemen und daraus aufgebauten Datenbanken und Informationssystemen systematischüber längere Zeit hinweg erhoben werden. Nur so lassen sich zuverlässige Unterlagenüber die Dynamik der Veränderungen im raumzeitlichen Kontext gewinnen, die komplexen Ursache-Wirkungs-Beziehungen erforschen, Modelle herleiten und zukünftige Entwicklungen simulieren. Derartige weltweite Messprogramme sind darum eine unabdingbare Voraussetzung für ein vertieftes Verständnis von Umweltprozessen und -veränderungen und für das Erstellen von zuverlässigen Prognosen, Entwicklungskonzepten usw. Sie müssen international koordiniert sein, damit man vergleichbare Resultate und kompatible Datensätze erhält.

Kontinuierliche Überwachung der Erdoberfläche

Der Satellitenfernerkundung kommt dabei eine zentrale Rolle zu, indem sie eine völlig neue Sicht und Informationserhebung der gesamten Erdoberfläche in kurzen Zeitintervallen von einer halben Stunde bis gut einem Monat ermöglicht. Die Fernerkundung stellt somit heute eine weltweit koordinierte Informationserhebungsdisziplin dar, die in allen Massstäben von lokal bis global und verschiedensten zeitlichen Differenzierungen eingesetzt werden kann. In Kombination mit anderen Verfahren, wie Geographische Informationssysteme, Computergraphik, Landschaftsvisualisierung, Bodenmessungen usw. lassen sich so räumliche Prozesse flächendeckend kartieren, analysieren, modellieren und simulieren, Veränderungen quantifizieren, Trends berechnen und Prognosen herleiten. Eine derartige kontinuierliche Überwachung, ein Monitoring, des aktuellsten Zustandes der Erdoberfläche ist allein mit Satellitenfernerkundung durchführbar. Kein anderes Verfahren ist imstande, globale räumliche Informationen in qualitativer und quantitativer Form zeitgerecht zu liefern. Sie hat denn auch in den letzten Jahren rasante Fortschritte gemacht, sei es bezüglich Aufnahmetechnologie, Datenklassifikation und -korrelation, Aufbau von Informationssystemen oder hinsichtlich thematischer Anwendungen.

Die Umsetzung der riesigen anfallenden Datenmengen in zuverlässige wissenschaftliche Information stellt dabei eine ganz enorme Herausforderung an die Wissenschaft dar. Am Geographischen Institut der Universität setzen sich mehrere Forschergruppen seit Jahren mit dieser Problematik systematisch auseinander. Intensiviert und ausgeweitet wurden diese Aktivitäten durch die Gründung der «Interuniversitären Partnerschaft Erdbeobachtung und Geoinformatik», an der gegenwärtig 10 Institute der ETHZ und der Universität Zürich beteiligt sind. Durch diese Zusammenarbeit lassen sich sehr viele Synergien nutzen und die Interdisziplinarität fördern.

Verständnis der Umwelt revolutioniert

Die internationalen Weltraumprogramme zur permanenten Überwachung der festen Erdoberfläche, der Ozeane und der Atmosphäre haben sich in den letzten zwanzig Jahren gewaltig entwickelt, in vielen Bereichen operationellen Status erreicht und mit ihren Ergebnissen das Verständnis unserer Umwelt praktisch revolutioniert. Die Fernerkundungstechnik basiert dabei auf einer qualitativen und quantitativen Interpretation der Interaktionen von elektromagnetischer Strahlung (reflektiertes Sonnenlicht, Wärmeemission, Mikrowellen usw.) mit den Objekten an der Erdoberfläche. Dabei kann passiv existierende Strahlung ausgenutzt oder aktiv Strahlung vom verwendeten Sensor ausgestrahlt werden. Zur Hauptsache werden drei Spektralbereiche benützt: Der photographierbare Bereich im sichtbaren (0,38 bis 0,7 µm) und nahinfraroten (0,7 bis 3,0 µm) Teil des Spektrums, das thermale Infrarot (8 bis 14 µm) und der Mikrowellenbereich (1 mm bis 30 cm).

Operationelle Erdbeobachtungs-Satellitensysteme sind im optischen Bereich der amerikanische Landsat, der seit 1972 faktisch ohne Unterbruch weltweit Aufnahmen der Landoberfläche unserer Erde erstellt, die ohne politische Restriktionen kommerziell erhältlich sind.Ähnliche Bedingungen bestehen mit dem französischen SPOT-System, in Betrieb seit 1986, dasüber ein weltweites kommerzielles Vertriebsnetz verfügt. Daneben funktionieren ebenfalls noch der japanische MESSR (seit 1987) und der indische IRS (seit 1988). Ihre Aufnahmen sind zwar gleichermassen frei zugänglich, aber es existieren bei uns keine entsprechenden Verkaufsorganisationen. Nochälteren Datums sind die amerikanischen, als Wettersatellitensysteme konzipierten NOAA- und NIMBUS-Serien (seit 1978), die zwar ein räumlich eher beschränktes, dafür aber ein zeitlich wesentlich besseres Auflösungsvermögen besitzen. Gerade für die globale Erdbeobachtung oder zur Erfassung von Naturkatastrophen können sie daher besonders nützlich sein. Auf den bemannten russischen Weltraumstationen waren und sind zumeist auch Spezialkameras in Betrieb, wie zum Beispiel die KFA-1000, die MK-4 oder die KATE-200.

Alle diese optischen Systeme haben den grossen Nachteil, dass sie die Wolken nicht durchdringen können, dass also bei Bewölkung die Erdoberfläche nicht aufgenommen werden kann. Diesem Umstand wurde mit dem von der europäischen Weltraumbehörde ESA entwickelten Satellitensystem ERS, dasüber ein Radar-Aufnahmesystem verfügt, abgeholfen. ERS-1 wurde am 16. Juli 1991 von Kourou in Französisch-Guayana aus erfolgreich gestartet, ERS-2 folgte 1995. Beide Satelliten, an deren Bau auch die Schweizer Industrie beteiligt war, sind nach wie vor funktionstüchtig. Sie haben in den wenigen Jahren ihrer Betriebsdauer die Möglichkeiten der globalen Informationsgewinnung nochmals entscheidend erweitert und bezüglich Kontinuität im Datenfluss stabilisiert. Dem muss allerdings entgegengesetzt werden, dass derartige Radardaten nur in sehr aufwendigen und komplizierten Verfahren aufzubereiten und zu interpretieren sind. Das ERS-System wird jetzt durch das japanische JERS (seit 1992) und den kanadischen RADARSAT (seit 1995) ergänzt. Damit sind nur die hauptsächlichen, auf operationelle Betriebsform zielende Systeme erwähnt. Über ihre flug-, aufnahme- und betriebstechnischen Merkmale muss auf die einschlägige Literatur verwiesen werden. Daneben gab und gibt es natürlich eine Vielzahl von experimentellen Satelliten, die in irgendeiner Weise zum Fortschritt der Technologie oder für neue Anwendungen beigetragen haben. Für die nächsten Jahre sind technologisch verbesserte Systeme mit erweitertem Aufnahmeinstrumentarium im Bau oder in der Planung, allen voran der europäische ENVISAT, wiederum mit Schweizer Beteiligung. Als Startdatum ist nach wie vor 1999 vorgesehen.

Erdbeobachtungsprogramm der ESA

Das Erdbeobachtungsprogramm der Europäischen Weltraumbehörde ESA ist auf vier Hauptziele abgestützt:

1.Überwachung von Klima und Umwelt in den unterschiedlichsten Massstäben von lokal oder regional bis global;

2.Qualitatives und quantitatives Monitoring der erneuerbaren und nicht-erneuerbaren natürlichen Ressourcen für ein nachhaltiges Management;

3.Verbesserte Serviceleistungen von weltweiten meteorologischen Daten für den täglichen Wetterdienst und die Klimaforschung;

4.Beiträge zum besseren Verständnis von Strukturen und Bewegungen der Erdkruste.

Diese hochgesteckten programmatischen Ziele umschliessen sämtliche Sphären der Erdoberfläche und die wichtigsten dazwischen ablaufenden Interaktionen. Das ERS-System hat bereits bedeutende Beiträge zum besseren Verständnis dieser Prozesse beigetragen. Besonders vielversprechend sind die Kombination von Daten verschiedener Satellitensysteme, also zum Beispiel ERS- mit Landsat-Daten, mittels der Methoden der Datenfusion. Die ständig zunehmende Dauer der Messreihen und die laufend erweiterten und verbesserten Messergebnisse ermöglichen vertiefte Einsichten, aber auch ein verstärktes Wissen um die Komplexität der Probleme.

Neuerungen und Verbesserungenüber das System ERDE haben ERS-1 und -2 vorab im grossräumigen detaillierten Überwachen des Ozean-Atmosphäre-Systems, in der Bestimmung des Wellenspektrums, der Ableitung des Windfeldes (Geschwindigkeit und Richtung), der Lokalisierung tropischer Wirbelstürme und der Messung ihrer Intensitäten sowie in der Verfolgung von Frontensystemenüber dem Meer gebracht. Zusammen mit der Meereis-Überwachung, auch während der Polarnacht, kann damit direkte Hilfe bei der Schiffsrouten-Planung geboten und so nicht nur die Sicherheit verbessert, sondern ebenso erheblich zur Zeit- und Energieeinsparung beigetragen werden. Aber nicht allein die raumzeitlichen Veränderungen der Eisdecken, sondern ebenso die in den grossen Eismassen der Erde, den Polarkappen, Inlandvereisungen und Gletschern ablaufenden Prozesse, ihr Wachsen oder Schrumpfen, lassen sich präzise messen und langfristig dokumentieren. Damit kann eine weitere massgebliche Komponente für Klimaveränderungen erfasst werden. Die kurz- und längerfristigen Bewegungen der Meeresoberfläche und die Messung der Oberflächentemperaturen wiederum lassen Rückschlüsse auf Meeresströmungen, Wärmetransport und Wasseraustausch zu. Hochpräzise Höhenmessungen von Veränderungen der Topographie der Erdoberfläche erfolgen mittels einer neuen Messtechnik, der SAR-Interferometrie, die nur mit Radarsystemen aus Flugzeugen oder Satelliten erfolgen kann. Es lassen sich auf diese Weise digitale Geländemodelle mit einer Genauigkeit im Meterbereich weltweit erstellen, Verschiebungen der Erdkruste im Zentimeter-Bereich festhalten oder Aufwölbungen im Umfeld aktiver Vulkane erfassen.

Sinnvolles, nachhaltiges Umweltmanagement

Erdbeobachtung aus dem Weltraum nimmt heute eine Schlüsselfunktion im Verständnis der Umweltprozesse und -veränderungen sowohl im globalen als auch regionalen Massstab ein. Auf der wissenschaftlichen Ebene trägt sie damit ganz wesentlich zum besseren Verständnis der Interaktionen zwischen den verschiedenen Elementen der Erde als einem integralen System bei und zeigt auf, wo und wie wir unser Verhaltenändern müssen, wo menschliches Handeln unerlässlich ist, um eine Umweltkatastrophe abzuwenden. Nur mit radikalen Massnahmen lässt sich die Globalerwärmung einigermassen in Schranken halten. Gleichermassen bedeutungsvoll sind die aus diesen wissenschaftlichen Erkenntnissen abzuleitenden praktischen Anwendungen für ein sinnvolles, nachhaltiges Management unserer natürlichen Ressourcen und zum Schutze unserer Umwelt. Damit bekommt die Satellitenfernerkundung auch eine immer zunehmend wichtige Marktposition.

Die Zukunft der Menschheit hängt aber nicht allein davon ab, dass wir die heute im komplexen System ERDE ablaufenden Prozesse immer besser erfassen, verstehen und begreifen lernen, sondern dass wir die sich daraus ergebenden Konsequenzen auch ziehen, die notwendigen Entscheidungen treffen und die entsprechenden Handlungen für langfristige, nachhaltige Lösungen vornehmen.


Dr. Harold Haefner ist ordentlicher Professor am Geographischen Institut der Universität Zürich.


unipressedienst uniz?rich-Magazin


unipressedienst Pressestelle der Universität Zürich
Felix Mäder (fmaeder@zuv.unizh.ch)
http://www.unizh.ch/upd/magazin/3-96/
Last update: 3.10.1996