Magazin der Universität Zürich Nr. 3/97

A la recherche du plan perdu

Drehstuhl (24735 Byte)Modernes computergesteuertes System für neurophysiologische Untersuchungen; ein entsprechender Drehstuhl für Menschen wird demnächst in Zürich in Betrieb genommen.

Die Erforschung des menschlichen Gehirns, des komplexesten Systems auf unserem Planeten, gleicht der eines unbekannten Kontinents: erst umsegeln, dann den Karawanenstrassen folgen, Karten anlegen, die Sprache der Eingeborenen lernen. In unserer Zusammenarbeit über die Wechselwirkung zwischen dem Sehsystem, dem Bewegungssinn und den Augenbewegungen folgen wir einer dieser Karawanenstrassen, die uns an viele wichtige Strukturen des Zentralnervensystems führt.

Das Auge ist ein ausgezeichnetes und «intelligentes» optisches System, das aber aus anatomischen Gründen seine ganze weitere Informationsverarbeitung dem Zentralnervensystem überlassen muss. Unsere Arbeit verfolgt zwei Hauptinteressen: zum einen ist dies die Verarbeitung von optischer Information im Hirnstamm, welche die Stabilisierung in der Umwelt ermöglicht und die bei Kopfdrehungen mit denselben Koordinaten arbeitet wie die Bogengänge im Innenohr, die das Gleichgewichtsorgan bilden; zum anderen beschäftigen wir uns mit den raschen Augenbewegungen, Sakkaden genannt, mit denen der Mensch das Gebiet der höchsten Auflösung auf der Netzhaut, die Fovea, und damit auch seine Aufmerksamkeit auf wichtiges richtet. Das Listingsche Gesetz besagt, dass alle willkürlichen Drehachsen des Auges in einer Ebene liegen. Mathematisch und psychophysisch analysiert wurde das Gesetz im neunzehnten Jahrhundert von Helmholtz. Heute versucht ein kleiner Kreis von mathematisch-physikalisch interessierten Neurowissenschaftern, zu denen auch wir gehören, die neuronale Anwendung der Synergie zwischen den drei Systemen, die das Sehsystem, der Bewegungssinn und die Augenbewegungen sind, zu verstehen und damit herauszufinden, wie Drehungen im Raum, also nicht miteinander vertauschbare Gruppenoperationen im Gehirn dargestellt werden.

Um die Bewegungen des Auges zu verstehen, müssen wir beim Auge selbst anfangen. Der kugelförmige Augapfel kann von sechs Muskeln um diejenigen Achsen gedreht werden, die bei ausgleichenden Bewegungen beliebig und bei Sakkaden in der Listingschen Ebene liegen. Die Motoneuronen, welche die Information vom Gehirn zu den Augenmuskeln senden, sind die einzigen Vermittler der Gehirnaktivität am Ende der von uns untersuchten Karawanenstrasse. Neurologen müssen Störungen der motorischen Kontrolle verstehen, um möglicherweise krankhafte Prozesse im Gehirn erkennen und heilen zu können. Die Messung der Aktivität der Motoneurone gibt uns wichtige Aufschlüsse über die Kontrolle der Augenbewegungen.

Tief im Inneren des unbekannten Kontinents namens Gehirn befindet sich eine Struktur, die von den Anatomen poetisch «Vierhügelplatte» genannt wird und die als «Tectum» bei niederen Tieren höchste Entscheidungskompetenz hat. Hier liegen die neuronalen Karten des Sehsystems und der Sakkaden übereinander. Hier werden beide Funktionen mit anderen sensorischen Modalitäten, wie dem Hören und dem Tasten, und motorischen Programmen des Kopfes und des Arms koordiniert. Mit der in unserem Laboratorium verfügbaren Technik, alle Freiheitsgrade der Augenrotation mit optischen Flussmustern und Rotation um beliebige Achsen relativ zum Kopf und zur Schwerkraft zu korrelieren, konnten wir das Koordinatensystem der Umwandlung vom fovealen Sehen zum sakkadischen «Ergreifen» beim Primaten bestimmen. Dies ist ein Kreuzungspunkt in der Erforschung des unbekannten Kontinents. Wir treffen hier, wie Stanley an den Victoria-Fällen («Doctor Livingstone, I presume»), Kollegen, die auf anderen Wegen das Gehirn durchqueren.

Klaus Hepp


Das Team: Professor Volker Henn, Neurologische Klinik und Poliklinik, Universitätsspital Zürich, und Professor Klaus Hepp, Institut für Theoretische Physik, ETH Zürich, arbeiten seit 20 Jahren an einem gemeinsamen Projekt über das Zusammenspiel von Sehsystem und motorischem System im Gehirn.


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unipressedienst – Pressestelle der Universität Zürich
Nicolas Jene (upd@zuv.unizh.ch)
Last update: 09.01.98