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Im Cockpit einer Wüstenameise

Wie lösen biologische Kleincomputer komplexe Navigationsprobleme? Cataglyphis – eine Ameisenart in der Sahara mit äusserst präziser Raumorientierung – zeigt, wie es geht.

VON RÜDIGER WEHNER

L
iegt in den kleinen Gehirnen der Rosette-Stein, der Schlüssel zum Verständnis der grossen? Sind im Gehirn einer Ameise, das mit seinen wenigen hunderttausend Nervenzellen nur ein Zehntel Milligramm auf die Waage bringt, bereits jene Schaltprinzipien verwirklicht, die sich später in unseren menschlichen Gehirnen mit ihrer millionenfach höheren Zahl an Nervenzellen wiederfinden?

Der Vergleich mag provozierend und die Suche nach dem Rosette-Stein im Ameisengehirn grotesk erscheinen. Und doch: Die zell- und molekularbiologischen Mechanismen an Neuronen und Synapsen sind in beiden Gehirnen prinzipiell die gleichen. Einem Nervenimpuls auf dem Oszillographenschirm sieht man nicht an, welchem Gehirn er entstammt. Die biophysikalischen Grundlagen der Nervenerregung wurden sogar zuerst an Neuronen sogenannt «niederer» Tiere – wie Tintenfischen und Meeresschnecken – entdeckt.

Selbst auf der nächsthöheren Stufe neuronaler Integration, jener der Nervennetzwerke, treffen wir auf gleiche oder ähnliche Verschaltungsprinzipien: biologische Algorithmen, die sich wegen der kleineren Zahl und des grösseren Durchmessers der beteiligten Neuronen bei einfacher organisierten Gehirnen sogar leichter untersuchen lassen. Bliebe nur der Zweifel, ob diese evolutiv bewährten, kleinen Nervensysteme auch Integrationsleistungen vollbringen, die der (neurobiologischen) Rede wert sind.

Cataglyphis – ein Mikronavigator

Diese Zweifel verfliegen sofort, wenn man der Cataglyphis begegnet, jener Wüstenameise der Sahara, die Hunderte von Metern weit über strukturlose Sandflächen jagt und nach geglücktem Beutefang geradlinig zu ihrer unscheinbaren Nestöffnung zurückkehrt. Dabei müssen in ihrem Gehirn neurobiologische Prozesse ablaufen, die sie ständig über Richtung und Entfernung zum Start informieren.

Würde ein menschlicher Beobachter, ohne technische Hilfe, ohne Messinstrumente und Rechner in weiten Windungen über leeres Wüstengelände wandern, wäre er am Ende ausserstande, in Sekundenschnelle Richtung und Entfernung zum Ausgangspunkt anzugeben. Doch massstabgetreu verkleinert, vollbringt Cataglyphis genau diese Leistung. Der Homo sapiens müsste auf ein satellitengestütztes Geographical Positioning System (GPS) zurückgreifen oder nach dem Inertial Navigation System (INS) der Luftfahrt über doppelte Zeitintegration von Beschleunigungssignalen den direkten Kurs berechnen.

Nur, wie löst Cataglyphis das Problem? Diese Frage suchen wir mit einem multidisziplinären Ansatz aus verhaltensbiologischen Experimenten, neuroanatomischen und elektrophysiologischen Analysen, computergestützten Modellrechnungen und Robotersimulationen zu beantworten.

Mathematisch gesehen, handelt es sich bei der Cataglyphis-Strategie um eine Vektoraddition. Während des Laufes messen die Tiere ständig die eingeschlagenen Richtungen und zurückgelegten Distanzen, um dann beide Messgrössen zum Rücklaufvektor zu verrechnen. Die Navigationsarmatur im Cataglyphis-Cockpit muss daher neben anderen Kursstabilisatoren zumindest einen Kompass, einen Entfernungsmesser und einen Integrator enthalten.

Hier soll nur vom Kompass die Rede sein; nicht zuletzt deshalb, weil er mit einem ungewöhnlichen, für uns Menschen unsichtbaren Muster am Himmel arbeitet. Dieses Polarisationsmuster – ein Streulichtmuster der Erdatmosphäre (siehe nebenstehenden Kasten) – lässt sich als ein System leuchtender Balken beschreiben, die sich gesetzmässig um die Sonne gruppieren. Jeder Balken symbolisiert die Polarisationsrichtung des Lichts in einem Himmelspunkt.

Polarisationsanalysatoren im Auge

Wie kann Cataglyphis mit ihrem Miniaturgehirn diese komplexen und mit der Sonne wandernden Muster am Himmel als Kompass verwenden?

Und wie kann sie die «leuchtenden Balken» überhaupt wahrnehmen? Zur Lösung führt ein Blick ins Auge von Cataglyphis. Dort sind es die Sehzellen selbst, die als Polarisationsanalysatoren wirken. Die Sehpigmentmoleküle (Rhodopsine) in den Sehzellen werden nämlich immer dann maximal angeregt, wenn die Polarisationsrichtung des Lichts parallel zur Dipolachse der Moleküle schwingt.

Wie eine Kombination spektroskopischer und elektronenmikroskopischer Arbeiten zeigt, sind in jeder für polarisiertes Licht empfindlichen Sehzelle die Absorptionsachsen aller Sehpigmentmoleküle mehr oder weniger parallel in einer spezifischen Richtung angeordnet. Solche Polarisationsanalysatoren – 60 bis 70 an der Zahl – liegen am oberen Rand des Ameisenauges. Jeder dieser Analysatoren wird von einer bestimmten Polarisationsrichtung am Himmel maximal erregt.

Doch damit nicht genug: Nur jene Sehzellen, die für ultraviolettes (UV) Licht empfindlich sind und damit eine weitere Lichtqualität wahrnehmen, die wir Menschen nicht sehen können, wirken als Analysatoren. Die Grünrezeptoren, über die Cataglyphis ebenfalls verfügt, sind am Polarisationssehen nicht beteiligt. Das zeigen einerseits elektrophysiologische Messungen. Nur Ableitungen von UV-, aber nicht von Grünzellen liefern polarisationsempfindliche elektrische Signale.

Andererseits lässt sich die Bedeutung der UV-Zellen im Verhaltenstest direkt beweisen. Passt man nämlich den Cataglyphis-Augen Kontaktlinsen an, deren Farbe so gewählt ist, dass sie nur die Grün-, aber nicht die UV-Rezeptoren reizen, sind die Tiere völlig desorientiert. Tragen sie dagegen UV-Linsen, die uns Menschen schwarz erscheinen, steuern sie ihre Kurse ebenso korrekt wie die unbehandelten Kontrollen. Da die Intensität gestreuten Himmelslichts im UV-Bereich am grössten ist, hat sich das Insektengehirn mit der Wahl der UV-Rezeptoren evolutiv an die physikalischen Bedingungen der Erdatmosphäre angepasst.

Grossfeldneuronen im Gehirn

Ähnlich wie ein Ophthalmologe ins menschliche Auge, können wir Biologen mit speziellen optischen Methoden durchs Mikroskop auch ins Innere der Cataglyphis-Augen schauen und dort die Blickrichtungen der einzelnen UV-Polarisationsanalysatoren vermessen. Jeder dieser Analysatoren ist mit einem Sehfeld von 6 Grad Durchmesser auf einen bestimmten Himmelspunkt gerichtet und wird durch die dort vorherrschende Polarisationsrichtung erregt.

Eine raffinierte optische und neuronale Hemmschaltung verstärkt das Polarisationssignal und macht es blind gegenüber Änderungen der Lichtintensität. Diese «Helligkeitskonstanz» ist für Cataglyphis entscheidend; denn je nach Tageszeit und Bewölkungsgrad kann die Lichtintensität am Himmel erheblich variieren. Auch wir Menschen kennen eine ähnlich Konstanzleistung beim Sehen von Farben, ohne freilich zu wissen, wie diese Leistung neuronal zustande kommt.

Tiefer im Cataglyphis-Gehirn, in einem Neuronennetzwerk, das die Neurobiologen Medulla nennen, werden die Antworten der retinalen Analysatoren gebündelt, das heisst, auf drei Typen

von Grossfeldneuronen geschaltet. Wie intrazelluläre Fluoreszenz-Markierungen zeigen, besitzen diese Pol-Neuronen riesige Dendritenfelder, mit denen sie die Signale einer grossen Zahl von Analysatoren abgreifen und ausmitteln.

Auch Verhaltensversuche belegen, dass der Polarisationskompass von Cataglyphis als Weitwinkelsystem arbeitet. Werden den Tieren im Experiment kurzfristig nur einzelne Polarisationsrichtungen am Himmel gezeigt, treten systematische Navigationsfehler auf. Je nach Tageszeit und Himmelspunkt können diese Fehler Kursabweichungen von bis zu 50° bewirken und würden Cataglyphis damit völlig in die Irre führen.

Für elektrophysiologische und optophysiologische Messungen wird Cataglyphis narkotisiert auf einer drehbaren Goniometer-Anordnung montiert.

Parallele Informationskanäle

Unter natürlichen Bedingungen ist das nicht der Fall, weil die geometrischen Eigenschaften von Himmelsmuster, Augenraster und Neuronenstruktur so aufeinander eingespielt sind, dass sich die durch kleine Himmelspunkte bedingten Fehler in fast allen Fällen ausmitteln.

Sollte in speziellen Situationen das Grossfeld-Polarisationssystem nicht genau genug funktionieren, kommt ihm ein anderes, parallel geschaltetes System zu Hilfe: das Himmelsfarbsehsystem; denn den UV-sichtigen Augen von Cataglyphis erscheint der Himmel weit farbiger als uns.

In der Tat folgt im Cataglyphis-Auge auf die polarisationsempfindliche Region am oberen Sehfeldrand ein polarisationsunempfindlicher, aber farbsensitiver Bereich. In Zusammenarbeit mit dem «Polarisationskanal» erhöht dieser «Farbkanal» die Präzision der Kurssteuerung, ist aber auch schon allein zu einer groben Kompassmessung fähig.

Für die endgültige Feineinstellung ihrer Kurse bedient sich Cataglyphis noch eines dritten Informationskanals, der wiederum auf eine bestimmte Augenregion beschränkt ist, aber nicht mit Himmels-, sondern mit Landmarken arbeitet.

Wie mit einer 360°-Weitwinkelkamera «photographiert» Cataglyphis mit ihren Komplexaugen das Horizontpanorama um den Start- und späteren Zielpunkt ihrer Reise und speichert das Bild neuronal. Später versucht sie sich dann so zu bewegen, dass sie das Erinnerungsbild immer besser mit dem aktuellen Bild zur Deckung bringt und sich damit schrittweise auf den alten Zielpunkt einpeilt.

Auch dieses System lässt sich im Experiment täuschen. Projiziert man das Landmarkenpanorama, das von einem Auge gelernt wurde, ins Sehfeld des anderen, sind die Tiere völlig desorientiert: «Interokularer Transfer» findet nicht statt.

Komplexe Globallösung

Das Navigationssystem von Cataglyphis ist also aus mehreren Modulen zusammengesetzt. Spezialisierte Informationskanäle verarbeiten Teilaspekte der visuellen Umwelt – Polarisations- und Farbmuster am Himmel, Landmarkenpanoramen auf der Erdoberfläche – und ermöglichen in ihrer Gesamtheit eine Präzision der Raumorientierung, wie man sie dem Miniaturgehirn des Insektennavigators sonst nicht zutrauen würde.

Das also ist der Trick, mit dem biologische Kleincomputer ihre komplexen Probleme lösen: durch das Zusammenspiel einer Reihe von Näherungsverfahren, die zwar im einzelnen unscharf, aber in Kombination so effizient arbeiten, dass sie dem uneingeweihten Beobachter eine komplexe Globallösung vortäuschen. Auch unser menschliches Gehirn ist aufgrund seiner evolutiven Geschichte modular angelegt und löst seine um Grössenordnungen komplexeren Probleme mit «distributiver Intelligenz».



Das Polarisationsmuster des Himmels

Dem menschlichen Auge erscheint der Himmel mehr oder weniger einheitlich blau, doch der Wüstenameise Cataglyphis, einem hochspezialisierten Himmelsnavigator, leuchten dort auffällige Muster. Der Physiker nennt sie Polarisations- oder E-Vektor-Muster, weil in je-dem Himmelspunkt der elektrische (E-) Vektor der elektromagnetischen Welle Licht in einer bestimmten Richtung (der Polarisations- oder E-Vektor-Richtung) schwingt.

Ursache der Polarisationsmuster, die das gesamte Firmament grossflächig umspannen, ist die Streuung des Sonnenlichts an den Luftmolekülen der Erdatmosphäre. Folglich ändern sich die Muster mit dem Stand der Sonne, so dass zu jeder Tageszeit eine andere E-Vektor-Verteilung am Himmel steht.

Um dem menschlichen Beobachter eine – wenn auch nur schwache – Vorstellung von diesem Polarisationsphänomen zu vermitteln, habe ich im Lebensraum von Cataglyphis die gesamte Himmelshemisphäre mit einem Fischaugenobjektiv durch eine Plexiglas-Halbkugel photographiert, die mit einem Satz spezifischer Polarisationsfilter bestückt war.

In dem bei Sonnenuntergang aufgenommenen Bild markieren die Achsen der dunklen Sanduhrfiguren die jeweiligen E-Vektor-Richtungen. Schematisch und nach den Gesetzen der atmosphärischen Optik berechnet ist darunter die E-Vektor-Verteilung für zwei weitere Sonnenhöhen dargestellt.



Cataglyphis-Roboter

Von der Wetware über die Software zur Hardware – so könnte man eine transdisziplinäre Forschungsentwicklung nennen, zu der Cataglyphis den Anstoss gab. Die Modelle, die sich aus verhaltens- und neurophysiologischen Arbeiten an der Wetware des Ameisengehirns ergeben, lassen sich nicht nur am Computer simulieren, sondern auch in mobile Roboter einbauen.

So navigiert «Sahabot», ein in Zusammenarbeit mit Professor Rolf Pfeifer vom Institut für Informatik der Universität Zürich konstruierter Saha(raro)bot(er), in der nordafrikanischen Wüste nach der gleichen Strategie, nach der Cataglyphis ihre Kompassrichtung dem Polarisationsmuster des Himmels entnimmt oder nach der sie mit Hilfe von Gedächtnisbildern des Horizontpanoramas ihren Zielpunkt im Gelände anpeilt.

Weitwinkel-Sensoren, die den polarisationsempfindlichen Grossfeldneuronen im Insektengehirn nachempfunden sind, lesen die exotischen Muster am Himmel, und eine 360°-CCD-Digitalkamera photographiert und speichert die Landmarkenbilder, nach denen Sahabot später über einen Bildvergleichsalgorithmus wie Cataglyphis seine Rückkehr zum Ausgangspunkt steuert.

Doch nicht nur die Informatiker beginnen, anhand der neuronal sparsamen, aber höchst effizienten Problemlösungsstrategien biologischer Systeme neu über künstliche Intelligenz nachzudenken. Auch die Biologen nutzen die Möglichkeit, mit mobilen Robotern Rechenmodelle zu testen, die sie später im Gehirn ihrer Versuchstiere auf neue Fährten führen sollen. Wie robust verhalten sich zum Beispiel einzelne Nervennetzmodelle gegenüber Variationen der äusseren Reizsituation – des Polarisationsmusters am Himmel oder der Landmarkenkonstellationen am Boden? Unter der Wüstensonne Nordafrikas müssen Sahabot und Cataglyphis, Informatiker und Biologen ihre Härtetests bestehen.


Dr. Rüdiger Wehner ist ordentlicher Professor für Zoologie, besonders Physiologie, an der Universität Zürich.



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unipressedienst – Pressestelle der Universität Zürich
Daniel Bisig (upd@zuv.unizh.ch)
Last update: 14.10.98