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Vom Wissen des Hirns

VON HEINI RINGGER UND MARTINA MÄRKI
Editorial Bild (16069 Bytes)Der Anfang erzählt sich – schon komplex genug – noch einfach. Die einen stossen sich ab, die andern ziehen sich an. Jede Zelle weiss, mit wem sie in Verbindung treten soll. Alles läuft präzis nach einem genetischen Bauplan ab. Abertausende von Nervenzellen wachsen und verbinden sich miteinander. Am Ende zählt das komplexeste Gebilde des menschlichen Körpers rund hundert Milliarden Nervenzellen mit Billionen von Kontaktstellen – fast unerschöpfliche Kombinationsmöglichkeiten und Verbindungen.

Mit diesem Vorwissen kommt unser Hirn zur Welt. Das neugeborene Kind verfügt bereits über alle grundlegenden «Schaltkreise». Jene Verbindungen zwischen den Hirnstellen, die sämtliche Funktionen unseres Körpers steuern, die wir in unserem Leben brauchen. Indes: Die Hirnentwicklung ist zum Zeitpunkt der Geburt nicht abgeschlossen. Bis in die Pubertät hinein vollziehen sich – beeinflusst von Erfahrung und Erleben – noch strukturelle Veränderungen. Und danach? Bestimmen die erworbenen Hirnstrukturen nun unser ganzes Leben? Keineswegs, sagen Hirnforscher. Die Lernfähigkeit und das Erinnerungsvermögen des Hirns nimmt mit dem Älterwerden kaum ab. Je mehr wir unser Hirn aktiv erhalten, desto lebendiger bleiben wir im Geist.

Trotz beeindruckenden Fortschritten ist das Wissen vom Hirn noch bescheiden. Niemand weiss, wie Hirn und Bewusstsein funktionieren. Zwischen Neurowissenschaftern und Geisteswissenschaftern ist deswegen eine Debatte entbrannt. Jeder Wissenschaftszweig beschreibt das Bewusstsein jeweils innerhalb seines Systems. Brückenschläge zwischen empirischen Daten und zum Beispiel psychischen Phänomenen sind noch recht fragil. Zur Erklärung des Bewusstseins muss man nach Ansicht von Neurowissenschaftern die Neurobiologie des Hirns verstehen lernen. Geisteswissenschaftern ist dagegen die Sprache als Äusserung des Geistes Grundlage zur Erklärung des Bewusstseins. Zweifellos hinterlässt der Geist materiell seine Spuren im Hirn, auch wenn er sich nicht materiell greifen, höchstens begreifen lässt.

Wie auch dieser Disput ausgehen mag, eine «explanatorische Lücke», etwas Unerklärbares wird es wohl immer geben. Höchst beeindruckend ist das gewonnene Wissen in den Neurowissenschaften trotzdem. Die Neurowissenschaften haben in den letzten zehn Jahren mehr Fortschritte erzielt als während des ganzen letzten Jahrhunderts. Mit neuen bildgebenden Verfahren lässt sich das lebendige Hirn untersuchen, um zu verstehen, wie das Hirn funktioniert. Hirn- und Nervenerkrankungen lassen sich dadurch besser behandeln. Das weite Spektrum der Erkrankungen ist einem kaum bewusst: Parkinson, Alzheimer, multiple Sklerose, Epilepsie, Schizophrenie, Depression, Autismus, Suchtkrankheiten sind alles Krankheiten des Nervensystems.

Fast scheint das neuronale Netzwerk unseres Hirns mit seinen unzähligen Verbindungen dem neugegründeten Kompetenzzentrum für Neurowissenschaften der Universität und der ETH Zürich als Muster gedient zu haben: Mit rund siebzig Forschergruppen, die sich mit Neurowissenschaften und verwandten Gebieten befassen, sucht der Forschungsplatz Zürich weltweit seinesgleichen.

Vom Stand der derzeitigen Forschung sowie den Perspektiven und Zielen des Zentrums, das diesen Oktober offiziell eröffnet wird, ist im vorliegenden Magazin die Rede. Von eindrucksvollen Ergebnissen wird berichtet. Zum Beispiel gelang es, Nervenfasern rückenmarksverletzter Ratten zu regenerieren und die Tiere wieder zum Laufen zu bringen – Forschungen, in die Paraplegiker grosse Hoffnungen setzen. Für eine auf geschwächte Nervenbahnen zurückzuführende Erbkrankheit (CMT) konnte man pränatale und postnatale Diagnosemethoden auf der Basis molekulargenetischer Tests entwickeln, die den Patienten heikle Nervenbiopsien ersparen. Komplexe Syndrome wie Angst, Alzheimer, Schizophrenie und Sucht werden aufgrund neuer neurowissenschaftlicher Grundlagenforschung in ihren biophysiologischen Aspekten besser verstanden – ein wichtiger Schritt zu verbesserten und neuen Therapien. Neuroinformatiker übertragen – auf dem Weg zum Silizium-Auge – unsere Fähigkeit zu sehen auf einen Computer. Nicht minder faszinierend ist die Erforschung des Ameisenhirns, das äusserst komplexe Leistungen vollbringt. Und das sind nur einige herausgegriffene Beispiele.
Hirnforscher vermögen heute fast lückenlos auf reduktionistische Art und Weise Analyseketten zwischen Hirnleistungen und den zugrundeliegenden molekularen Prozessen herzustellen. Das ist neu in der Geschichte der Neurowissenschaften. Doch unser Hirn und damit unser Leben lassen sich nicht auf ein vom Forschenden losgelöstes Objekt reduzieren. Unser Hirn ist immer auch Subjekt: Es empfindet, nimmt wahr, denkt, erlebt, schweigt und erzählt. Es erzählt aus tausendundeiner Welt mit und manchmal auch ohne Anfang und Ende.

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unipressedienst – Pressestelle der Universität Zürich
Daniel Bisig (upd@zuv.unizh.ch)
Last update: 14.10.98