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Wenn Ratten süchtig werden…

Wie wirken Drogen auf das Gehirn? Was kennzeichnet Substanzen mit Suchtpotential? Wie unterscheiden sich Individuen biologisch im Hinblick auf ihre Suchtgefährdung? Im Labor für Verhaltensbiologie der ETH Zürich wird versucht, die neurochemischen und Verhaltensgrundlagen von Sucht anhand von Tiermodellen genauer zu bestimmen..

VON CHRISTIAN HEIDBREDER UND JORAM FELDON
Abbildung 1:
Das mesolimbische Dopamin-System (VTA – Area ventralis tegmentalis)
M
issbrauch von illegalen und legalen Drogen stellt ein Problem dar, das nicht nur die Süchtigen selbst, sondern auch deren Familien und Bezugspersonen und letztlich die Gesellschaft als Ganzes betrifft. In der Schweiz gibt es etwa 30 000 Drogenabhängige, 300 000 Alkoholiker und eine Million Nikotinabhängige, die jährlich über 5 Milliarden Franken an direkten und indirekten Kosten verursachen (Schweizerische Fachstelle für Alkohol- und andere Drogenprobleme).

Es gibt viele Faktoren, die ein Individuum dazu bringen, Drogen zu konsumieren und viel-leicht schliesslich davon abhängig zu werden. Neben psychischen Faktoren (Selbstwertgefühl, Risikobereitschaft, Impulsivität, Depression), sozialen Faktoren (Freundeskreis, Familienstruktur, sozioökonomischer Status) und der Zugänglichkeit der Drogen spielen biologische Faktoren eine zentrale Rolle bei der Entstehung von Sucht.

Vorteil Tiermodel

Tiermodelle werden unter anderem dazu verwendet, das Suchtpotential pharmakologischer Substanzen zu untersuchen, auch in den frühen Phasen der Entwicklung neuer Medikamente.

Auf den ersten Blick scheint es unmöglich, das komplexe Syndrom Drogenabhängigkeit im Tier nachzubilden. Tatsächlich sind die scheinbaren Nachteile des Tiermodells jedoch seine Vorteile. Störvariablen, die bei der Untersuchung von Menschen unvermeidlich sind, können im Tiermodell ausgeschaltet werden. So hat der Forscher oder die Forscherin genaue Kontrolle über Ausmass und Verteilung des Drogenkonsums, interindividuelle Unterschiede und Entwicklungsbedingungen. Tiermodelle erlauben also, das komplexe Syndrom Drogenabhängigkeit in Teilkomponenten zu zerlegen und biologische Mechanismen zu untersuchen, die zur Sucht beitragen.

Das Belohnungszentrum

Um Ess-, Trink-, Sexualverhalten und Elternfürsorge sicherzustellen, hat die Natur diese Verhaltensweisen mit starken Belohnungseigenschaften ausgestattet. Für die Verarbeitung dieser natürlichen Verstärker ist das Belohnungs- oder Lustzentrum im Gehirn zuständig. Elektrische Stimulation direkt im Belohnungszentrum verursacht offenbar extreme Lust, die für sich allein verstärkende Eigenschaften hat. Um solche Stimulation zu erlangen, vernachlässigen Tiere Essen und Trinken bis zur Erschöpfung oder nehmen bereitwillig Schmerzen in Kauf, was die machtvollen Verstärkerqualitäten des Belohnungszentrums belegt.

Neurobiologische Untersuchungen legen nahe, dass die meisten Drogen mit Suchtpotential Schlüsselstellen im Belohnungssystem beeinflussen, das aus einem Schaltkreis von mehreren Nervenzellen besteht. Ein wichtiger Teil dieses Schaltkreises ist das mesolimbische Dopaminsystem (Abb. 1): Nervenzellen in der Area ventralis tegmentalis (AVT, VTA) aktivieren mittels Dopamin den Nucleus accumbens im Vorderhirn. Man nimmt an, dass das mesolimbische Dopaminsystem und seine weiteren Verbindungen beteiligt sind an der Verarbeitung natürlicher und drogenbezogener Belohnung und auch an der motorischen Aktivierung, die im Zusammenhang mit Drogenkonsum beobachtet wird.

Es gibt zwei klassische Theorien zum Suchtverhalten. Die Theorie der positiven Verstärkung postuliert, dass Drogenkonsum durch die positiven Effekte aufrechterhalten wird, die die Droge auslöst, zum Beispiel Euphorie oder angenehme Gefühlszustände. Die Theorie der negativen Verstärkung hingegen postuliert, dass der Drogenkonsum aufrechterhalten wird, weil die Droge die unangenehmen Entzugserscheinungen beseitigt. Beide Theorien sind jedoch unbefriedigend, da sie etliche Aspekte von Drogenmissbrauch nicht erklären können, wie die Abhängigkeit von Drogen ohne euphorisierende Wirkung oder von Drogen, die keine Entzugssymptome hervorrufen.

Als Alternative wurde in jüngerer Zeit die Anreiz-Sensibilisierungstheorie vorgeschlagen. Diese basiert darauf, dass Drogen die Dopaminaktivität im mesolimbischen Schaltkreis erhöhen und dass dieser Effekt mit der Zeit stärker wird. Das Dopaminsystem versieht äussere Reize und mentale Vorstellungen mit Anreizqualitäten, wodurch die Reize attraktiv werden und belohnend wirken.

Neurochemische Grundlagen

Vor allem bei chronischer (kontinuierlicher) Verabreichung von Drogen im Labor kann man auf die Dauer eine Abschwächung der Drogenwirkung (Toleranz) wahrnehmen. Die Wirkungen können mit der Zeit aber auch grösser werden. Dies beobachtet man speziell für den motorischen Aktivierungseffekt, dann, wenn Psychostimulantien (zum Beispiel Amphetamin, Kokain) wiederholt als Einzeldosis verabreicht werden. Dieses Phänomen – Sensibilisierung genannt – kann über Wochen und Monate anhalten, auch wenn keine Drogen mehr konsumiert werden.

Sensibilisierung ist wahrscheinlich mitverantwortlich für die Zwanghaftigkeit von Drogenkonsum und für die hohe Rückfallrate auch nach langer Abstinenz. Um die neurochemischen Grundlagen dieses Phänomens weiter aufzuklären, untersuchen wir mit Hilfe der In-vivo-Mikrodialyse die Beziehungen zwischen bestimmten Verhaltensweisen und der Neurotransmitteraktivität in einzelnen Hirnstrukturen. In-vivo-Mikrodialyse ist die einzige Methode, die die Messung der Neurotransmitteraktivität beim freilaufenden Tier ermöglicht.

Sensibilisierung auf Kokain

In einer ersten Serie von Experimenten (Abb. 2 links) konnten wir zeigen, dass die erstmalige Verabreichung von Kokain die motorische Aktivität erhöht. Dieser Effekt wird darauf zurückgeführt, dass Kokain die Wiederaufnahme von Dopamin aus der Synapse verhindert, indem es den Dopamintransporter blockiert. Bei Tieren mit Kokain-Vorerfahrung fällt die motorische Aktivierung deutlich grösser aus, was auf eine Sensibilisierung der motorisch aktivierenden Wirkung bei wiederholter Verabreichung von Kokain schliessen lässt. Weiter belegen unsere Ergebnisse, dass diese Sensibilisierung dauerhaft ist und mit zunehmender Dauer des Entzuges sogar zunimmt.

Gleichzeitig gelang uns mittels In-vivo-Mikrodialyse der Nachweis, dass sich die Dopaminreaktion auf Kokain mit der Zeit vergrössert (Abb. 2 rechts). Der progressive Anstieg der Dopaminreaktion könnte für das Ausmass der Verhaltenssensibilisierung verantwortlich sein und auch für dessen Dauerhaftigkeit. Dabei könnten sowohl Veränderungen der Empfindlichkeit der postsynaptischen Dopaminrezeptoren eine Rolle spielen als auch zeitabhängige Veränderungen im kokaininduzierten Dopaminüberschuss im Nucleus accumbens.

Abbildung 2:
Sensibilisierung auf Kokain: Motorische Aktivität (links) und gleichzeitig gemessene extrazelluläre Dopaminkonzentration im Nucleus accumbens (rechts).
Die Ratten wurden 5 Tage lang mit Kochsalzlösung («saline») oder Kokain (20 mg/kg i.p.) vorbehandelt und nach 22 Tagen erneut mit Kochsalzlösung oder Kokain
(20 mg/kg i.p.) behandelt.

Verhaltenssensibilisierung auf Kokain und Angst

Klinische Studien am Menschen haben gezeigt, dass Kokainsensibilisierung eng verbunden ist mit paranoiden Erfahrungen und intensiver Angst, die bis zu Panikattacken reichen kann. Neuere Studien mit Positron-Emissions-Tomographie (PET) ergaben, dass bei Patienten mit Panikattacken die Aktivität in einem Teil des Präfrontalkortex (linker vorderer Cortex cingularis, LVCC) gegenüber Kontrollpersonen vermindert ist. Auch bei Depression, die oft zusammen mit Panikattacken auftritt, ist die Aktivität im LVCC proportional zum Schweregrad der Symptome vermindert. Neueste Daten aus dem Labor für Verhaltensbiologie belegen, dass Sensibilisierung mit einer Verminderung der Serotoninaktivität im LVCC verbunden ist.

Daher kann man vermuten, dass Verhaltenssensibilisierung auch bei Ratten mit erhöhter Angst einhergeht. Um diese Hypothese zu überprüfen, haben wir folgende Methode verwendet: In einem Testkäfig werden Ratten einem Ton ausgesetzt und erhalten gleichzeitig einen leichten Schock. Nach fünf Tagen Behandlung mit Kokain oder Kochsalz wird am dritten Entzugstag gemessen, wie lange die Ratten nach dem Ton (ohne Schock) bewegungslos im Testkäfig verharren («conditioned freezing», Abb. 3 links). Mit Kokain vorbehandelte Ratten blieben länger bewegungslos, das heisst, sie zeigten mehr gelernte Angst, als die Kontrolltiere (Abb. 3 rechts).



Abbildung 3:
Computersystem zur Messung
von gelernter Angst («conditioned freezing», rechts) und Angstsensibilisierung auf Kokain im Vergleich zu Kochsalz («saline», links).

Perspektiven

Die Untersuchungen am Tiermodell belegen Veränderungen im Verhalten, wie sie auch beim Menschen nach Drogenkonsum beobachtet werden, und gleichzeitig Veränderungen in der Neurotransmitteraktivität, die möglicherweise erlauben, die Entstehung von Sucht besser zu verstehen.

Verhaltensneurochemie ist ein relativ neuer Ansatz. Viele der untersuchten Verhaltensweisen sind sehr komplex, und es ist schwierig, genau festzustellen, wie die einzelnen Komponenten zur Gesamtaktivität einzelner Neurotransmitter beitragen, die zudem meist über einen grösseren Zeitraum gemittelt wurde. Um diese Zusammenhänge genau zu bestimmen, sind weitere Untersuchungen notwendig, wobei ein breiteres Spektrum von Verhaltensweisen berücksichtigt werden muss.


Glossar

Neurotransmitter:
Chemischer Stoff, der von einer Nervenzelle in die Synapse zur nächsten ausgeschüttet wird, dort an Rezeptoren bindet und so die nachfolgende Zelle aktiviert oder hemmt. Anschliessend wird der Neurotransmitter wieder freigegeben und abgebaut oder mit Transportern in die Ursprungszelle aufgenommen.
Dopamin: Neurotransmitter; unter anderem wichtig für Verstärkerqualitäten (Anreiz) von Reizen
Serotonin: Neurotransmitter; verminderte Aktivität unter anderem bei Depression und Angst.
In-vivo-Mikrodialyse: Mit einer dünnen Kanüle, die in bestimmte Gehirnregionen implantiert wird, wird kontinuierlich Flüssigkeit ausserhalb der Nervenzellen abgesaugt (und wieder ersetzt, eventuell auch mit Neurotransmittern) und chemisch auf Neurotransmitter analysiert.
Verstärker: Reiz (Nahrung, Streicheln, Vorstellungen; Schmerz), der durch seine positiven, belohnenden oder negativen, bestrafenden Eigenschaften das Verhalten beeinflusst. Verhalten, das zu positiven Konsequenzen führt, wird häufiger; Verhalten, das zu negativen Konsequenzen führt, wird seltener.

Dr. Christian Heidbreder ist Mitarbeiter am Toxikologischen Institut der ETH.
Dr. Joram Feldon ist Professor für Verhaltensbiologie und Funktionelle Toxikologie an der ETH Zürich.
Übersetzung aus dem Englischen und Bearbeitung: Dr. Ilse Höfer.



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unipressedienst – Pressestelle der Universität Zürich
Daniel Bisig (upd@zuv.unizh.ch)
Last update: 14.10.98