Magazin der Universität Zürich Nr. 4/95

Religiöse Wege und Irrwege

«Halten die Weltreligionen, was sie versprechen», fragt Georg Schmid (gschmid@theol.unizh.ch), Titularprofessor für allgemeine Religionsgeschichte an der Universität Zürich, im Untertitel seines kürzlich erschienenen Buches «Zwischen Wahn und Sinn». Eine Frage, der sich angesichts der religiösen Irrungen und Wirrungen, die unsere Zeit prägen, zweifellos nachzugehen lohnt.

Buchumschlag Georg Schmid: «Zwischen Wahn und Sinn. Halten die Weltreligionen, was sie versprechen?» Solothurn, Düsseldorf: Benziger, 1995; 271 Seiten; Fr. 42.80.

Die Moderne war unter anderem durch einen weitgehenden Verlust spiritueller Heimat gekennzeichnet. Der grelle Lichtstrahl der Vernunft suchte auch die hinterste Ecke dessen auszuleuchten, was man Seele nennt, mit dem Ziel, sie ein für allemal von mystischem Schrott zu entrümpeln. Ein Unterfangen, dem nie Erfolg beschieden war und das sich in der Postmoderne gar ins Gegenteil zu verkehren droht. Es scheint, als ob ein Urbedürfnis des Menschen, losgelöst aus einer sozial-kulturellen Einbettung, unversehens zu wuchern begänne und mitunter groteske Formen annähme. Natürlich gab es sie schon immer, die religiösen Fanatiker, Gurus, Sekten, selbsternannte Erlöser und Wohltäter der Menschheit. Doch nie zuvor waren die Kommunikationsmöglichkeiten und damit ihre Reichweite so grenzenlos. Dasselbe gilt möglicherweise für die Aufnahmebereitschaft ihrer potentiellen Jünger.

Differenzierte und vorurteilslose Annäherung

Die Massenmedien haben sich des Phänomens dankbar angenommen. Ob kritsch oder sensationalistisch ­ sie verbreiten die frohen und unfrohen Botschaften tagtäglich, dabei in erster Linie Geschichten verkaufend. Und auch wo «aufklärerisches Engagement» auszumachen ist, trägt dieses meist wenig zur Erhellung und noch weniger zum Verschwinden der kritisierten Erscheinungen bei, da es sich in erster Linie in der Kultivierung von Feindbildern gefällt. Georg Schmids Ansatz ist ein ganz anderer, und sein Buch bietet tatsächlich etwas, was der sogenannt kritische Journalismus oft vermissen lässt: Eine differenzierte und vorurteilsfreie Annäherung an die verschiedenen Formen religiösen Lebens und Erlebens. Ein solcher Ansatz mündet nicht in eine verwaschene Toleranz, im Gegenteil. Aber im Gegensatz zu normativer Ablehnung alles «Sektenhaften» wird der Gegenstand der Kritik zunächst in Ruhe betrachtet und zu verstehen versucht, wodurch er sich gewissermassen selbst enthüllt.

Weltreligion ist wahnanfällig

Damit ist vor allem der erste Teil des Titels von Schmids Buch angesprochen, der religiöse Wahn. Er wird im allgemeinen Bewegungen mit sektenhaften Zügen zugeordnet, ist aber, wie der Autor zeigt, als Potenz auch den Weltreligionen inhärent. «Weltreligion ist wahnanfällig», diagnostiziert Schmid, und er fasst die Kennzeichen religiösen Wahns zusammen: Das Ersetzen von Dialog durch Monolog, von Reflexion durch Repetition, von Gemeinschaft durch Einheit, von Ich und Welt durch Meister und Wahrheit. Kurz: «Wahn ersetzt Begegnung durch Suggestion und Projektion.» Religiöser Wahn ist für ihn allerdings nur der Schatten, den das Licht wirft, das dem Menschen durch die Weltreligionen geschenkt wird. Was sie dem Suchenden versprechen, ist direkt erlebte persönliche Wahrheit. «Unmittelbarkeit zu erleben und damit die tiefste persönliche Bestimmung des Menschen zu entdecken und zu entfalten, ist das eigentliche Anliegen aller Weltreligionen, zugleich ihr tiefster Sinn und ihr gefährlichstes Geschenk. Denn zutiefst persönlich erlebte Wahrheit kann wie keine andere Wahrheit in religiösen Wahn entgleiten.»

Der Autor, das wird im Verlauf der Lektüre deutlich, schöpft aus einem reichen Fundus religionsgeschichtlicher Kenntnis und praktischer Erfahrung. Er skizziert zum einen die Voraussetzungen weltreligiöser Bewegungen, macht die Einzigartigkeit der einzelnen Weltreligionen deutlich, äussert sich differenziert und aufschlussreich zu Themen wie Mystik, Sekten, Guru-Wahn und Teufelswahn. Andererseits scheut er sich nicht, dezidiert Stellung zu beziehen ­ «Wenn das Erleuchtung ist, was diese Erleuchteten uns anbieten, dann gnade uns Gott» ­ und durchaus praktische Ratschläge zu geben. (Das Kapitel «Wie begegne ich religiösem Wahn?» wäre insbesondere «kritischen» Medienschaffenden wärmstens ans Herz zu legen.)

Kein religionsgeschichtliches Fast food

Schmids Buch ist ­ wohl bewusst so konzipiert ­ kein theologisches oder religionsgeschichtliches Fast food. Es verlangt den Lesern eine ständige Auseinandersetzung mit den vermittelten Inhalten ab, da der Autor für seine thesenhaft formulierten Aussagen eine offene Terminologie verwendet, die zu einem kreativen Ausfüllen von Leerstellen zwingt. Eine Qualität, die das Buch mit seinem Gegenstand teilt: «Gerade diese Unfähigkeit, perfekte, ewig gültige Einsicht zu vermitteln, macht Weltreligion zur kreativsten Form menschlicher Spiritualität.»
Bruno Kesseli


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Felix Mäder (fmaeder@zuv.unizh.ch)
Last update: 22-FEB-96