Magazin der Universität Zürich Nr. 4/96

Risikosport – Suche nach Nervenkitzel

Mit Risiken setzte sich der Mensch immer schon auseinander. Sich daraus aber einen Sport zu machen, fiel ihm erst in jüngerer Zeit ein. Heute ist das Ausüben einer Risikosportart wie Gleitschirmfliegen, Wildwasserfahren oder Bergsteigen etwas ganz Alltägliches. Was aber veranlasst den Menschen, eine Risikosportart auszuüben?

VON ASTRID MEHR

[Risikosport: Bergsteigen]

Was macht eine Sportart zu einer Risikosportart? Eine Risiko-Sportart zeichnet sich durch Situationen der Unsicherheit hinsichtlich des weiteren Verlaufs und der Konsequenzen aus. Ein günstiger Ausgang bedeutet für den Menschen einen materiellen oder persönlichen Gewinn, ein ungünstiger einen Verlust oder eine Schädigung physischer oder psychischer Art. Beim Risikosport muss der mögliche Gewinn sehr gross sein, dass überhaupt die hohen Kosten, nämlich Tod oder Invalidität, in Kauf genommen werden. Es wäre aber illusorisch, ein einzelnes, allgemeingültiges Motiv für das Ausüben einer Risikosportart finden zu wollen, denn es handelt sich immer um ein ganzes Motivbündel, das bei jedem Menschen unterschiedlich zusammengesetzt ist. So sind die hier aufgeführten Motive Sensation Seeking, Suche nach Kontrolle sowie Suche nach Flow-Erlebnissen als drei wesentliche Mosaiksteine zu betrachten.

Mit kalkuliertem Risiko zum Flow-Erlebnis

Sensation Seeking

Gerade die Unsicherheit der Risikosituationen scheint den Menschen in unserer Welt der Versicherungen und der Routine herauszufordern; er scheint nach Abenteuer, nach Spannung und Dramatik zu suchen:

Jeder Mensch braucht eine gewisse Stimulierung von Körper und Geist. Fehlt ihm diese, so empfindet er Langeweile und wird des Lebens müde. Mit wachsender Stimulierung steigt sein Wohlbefinden bis zu einem optimalen Punkt an und sinkt bei weiterem Anwachsen wieder ab bis zur Angstempfindung. Das individuelle optimale Erregungsniveau hängt von der biologischen Beschaffenheit (zum Beispiel Hormonhaushalt) ab und bestimmt damit den unterschiedlichen Bedarf an Stimulierung.

Menschen mit einem sehr hohen optimalen Erregungsniveau werden Sensation Seeker genannt. Sie haben ein starkes Verlangen nach Stimulierung aller Sinne. Sie suchen ungewöhnliche Empfindungen wie den freien Fall beim Bungeejumping, das Entdecken neuer Länder oder Musikstile, tendieren zu enthemmten Aktivitäten, zu exzessiven Parties und haben eine Abneigung gegen Repetition und Monotonie.

Suche nach Kontrolle

Der Mensch toleriert ein höheres Risiko, wenn er darauf einen gewissen Einfluss nehmen oder über das Sich-darauf-Einlassen entscheiden kann. So nimmt er die ganze Gesellschaft betreffende Risiken wie Atomkraftwerke oder Kriminalität als unkontrollierbarer und schrecklicher wahr als individuelle Risiken, die meist nur den verursachenden Menschen in Gefahr bringen. Durch entsprechendes Verhalten kann der Mensch letztere beeinflussen, steht aber im Gegensatz dazu vielen der die Gesellschaft bedrohenden Gefahren machtlos gegenüber. Eine weitere Erklärung für das Ausüben von Risikosportarten könnte somit sein, dass gerade Risikoaktivitäten einen Ausgleich zum unbefriedigten Bedürfnis nach Beherrschung der Alltagsbedrohungen schaffen.

Bei den Risikosportarten wird das Risiko durch die objektiven Gefahren und den damit in Wechselwirkung stehenden subjektiven Gefahren sowie durch das Verhalten des Menschen in der Situation bestimmt. Die objektiven Gefahren gehen von den Umgebungsbedingungen aus (Wetterumsturz, Steinschlag), die subjektiven vom Menschen selbst (mangelhafte Ausrüstung, schlechte körperliche Verfassung, Selbstüberschätzung). Wählen beispielsweise BergsteigerInnen eine Route, für die sie die entsprechende Erfahrung, Kondition und Ausrüstung besitzen, und begehen sie diese zu einem objektiv günstigen Zeitpunkt, können sie die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls stark vermindern. Bis auf ein stets existentes Restrisiko kann der Mensch das Risiko, das er einzugehen bereit ist, kontrollieren.

Suche nach Flow-Erlebnissen

Die Suche nach Flow-Erlebnissen bezeichnet das Anstreben eines Gefühls, das nur in gewissen Situationen erlebt wird. Voraussetzung dafür ist eine Tätigkeit, die für den Menschen Herausforderung und Spass bedeutet. Die Anforderungen müssen klar ersichtlich sein, die Ziele eindeutig und dem menschlichen Können angepasst. In den Momenten der optimalen Ausgewogenheit von Anforderung und Können, in denen der Mensch sich stark konzentriert und seine ganze Aufmerksamkeit nur auf die Bewegung und die nächste Umgebung richtet, vergisst er Zeit, Alltagssorgen und sogar sich selbst. Er versinkt voll und ganz in der Bewegung, und die sonst recht anspruchsvolle Tätigkeit geht ihm scheinbar mühelos von der Hand, die Tätigkeit selbst ist das Ziel.

Dass RisikosportlerInnen ein recht hohes Verlangen nach Stimulierung haben, klingt plausibel. Meist betrifft dies jedoch nicht alle Lebensräume, weshalb viele nicht als typische Sensation Seeker bezeichnet werden können. Sie suchen nicht die Gefahr an sich, sondern versuchen diese zu mindern und zu meistern, um ein höheres Ziel wie ein schönes Flug- oder Gipfelerlebnis zu erfahren, aber auch, um durch die Möglichkeit der Kontrolle eine gewisse Selbstbestätigung zu erlangen. Solange die Bedrohung nicht zu gross wird und der Mensch die Kontrolle nicht verliert, wird gerade in gefahrenträchtigen Situationen die Konzentration verstärkt, und dadurch werden Flow-Erlebnisse möglich.

Es ist wohl klar ersichtlich, dass gerade beim Risikosport ein Sich-Einlassen auf Risikosituationen nicht mit riskantem Verhalten gleichgesetzt werden darf.


Literatur

Csikszentmihalyi, Mihaly. (1985). Das Flow-Erlebnis. Jenseits von Angst und Langeweile: Im Tun aufgehen. Stuttgart: Klett-Cotta.

Mehr, Astrid. (1995). Risikosport ­ Suche nach Nervenkitzel, Kontrolle oder Flow-Erlebnissen? Unveröffentlichte Lizentiatsarbeit, Philosophische Fakultät der Universität Zürich.

Trimpop, Rüdiger. (1990). The Psychology of Risk Taking Behavior. Amsterdam: North-Holland.

Zuckermann, Marvin. (1994). Behavioral Expressions and Biosocial Bases of Sensation Seeking. USA: Cambridge University Press.


Lic. Phil. I Astrid Mehr studierte Sozialpsychologie am Psychologischen Institut der Universität Zürich.


Risikosport: Bergsteigen

94 Bergsteigerinnen und 331 Bergsteiger wurden zu ihrer Soziodemographie, ihren Gewohnheiten beim Bergsteigen, zu Sensation Seeking, ihren Kontrollüberzeugungen, ihrem Wunsch nach Kontrolle sowie zu Flow-Erfahrungen beim Bergsteigen befragt.

Aus der Untersuchung resultiert, dass die typische Person, die sich dem Bergsteigen widmet, ein lediger Mann von 36 Jahren ist. Er bezeichnet das Bergsteigen als Erlebnissport. Er begann damit vor etwa 15 Jahren; heute ist es sein liebstes Hobby. Er unternimmt zwei bis drei Touren pro Monat und verbringt die Hälfte seiner Ferien mit Bergsteigen. Die Touren unternimmt er meistens in einer kleinen Gruppe bis zu vier Personen, ohne jemals einen Bergführer zu engagieren. Von den «klassischen» Arten des Bergsteigens (ohne Wandern und Sportklettern) bevorzugt er alpines Klettern und technisch anspruchsvolle Skitouren. Eisklettern schätzt er am wenigsten. Beim alpinen Klettern steigt er normalerweise eine V und maximal eine VII vor. Die Schwierigkeit seiner Touren stuft er im mittelschweren Bereich ein.

Sensation Seeking ist bei ihm mittelstark ausgeprägt. Er weist eine relativ starke internale Kontrollüberzeugung sowie relativ schwache externale Kontrollüberzeugungen auf. Er hat ein starkes Bedürfnis nach Kontrolle und ist sensibel für Flow-Erlebnisse beim Bergsteigen.

(Aus der Lizentiatsarbeit von A. Mehr, «Risikosport – Suche nach Nervenkitzel», 1995)


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Nicolas Jene (upd@zuv.unizh.ch)
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Last update: 09.07.97