Magazin der Universität Zürich Nr. 4/96

Wendezeit – Bewegung ist mehr als Sport

Was nennen wir eigentlich «Sport»? Sport ist Bewegung. Keine Frage! Doch Bewegung ist mehr als Sport! Was soll das bedeuten? Ganz einfach: Sportwissenschaft ist Teil der Bewegungswissenschaft und nicht umgekehrt. Wendezeit!

VON ARTURO HOTZ

Mit dem Hinweis auf eine Wende wird klar darauf hingewiesen, dass soeben noch Gültiges im Wandel begriffen ist, Neues sich abzeichnet, vielleicht sogar Besseres, zumindest aber anderes, dieses jedoch mit Hoffnungen verknüpft wird. Dies hat schon Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799), das Göttinger Genie der Wendezeit in der Aufklärung, zum Werden im Wenden gesagt: «Ich weiss nicht, ob es besser wäre, wenn es anders würde, weiss nur, dass es anders werden müsste, wenn es gut werden sollte.» Genauso im Sport. Auch in der Sportwissenschaft. Es muss anders werden, es muss sich wenden!


«L'essentiel est invisible pour les yeux, on ne voit qu'avec le coeur.» Oder anders herum: Die Leistung ist sichtbar, also kann sie nicht das Wesentliche sein.

Dass Sport mehr ist als Leistungssport, wissen im Grunde viele, auch wenn die meisten Medien wenig darüber berichten oder es schlicht nicht kapieren. Wozu auch? Sport ist Geschäft. Und Leistungssport erst recht. Wettkämpfe bestreiten, war einst Inbegriff – und so das Höchste – des Sporttreibens. Heute ist Leistungssport nurmehr eine Möglichkeit unter anderen, wenn auch – daher die Medienpräsenz – die spektakulärste. Was ins Auge springt, muss nicht immer mehr sein. Sport ist nicht Leistungssport: Bewegung ist mehr als Sport!

Was wendet sich denn?

Wendezeit im Sport. Was wendet sich denn? Augenfällig ist beispielsweise die Wende im didaktisch-methodischen Bereich, die Wende beim Lernen und Lehren. Da waren doch und sind Generationen von Sportlehrerinnen und Trainern überzeugt gewesen, dass das «Vormachen» einer bestimmten Technik, das Zeigen des Sollbildes, die räumlichen Vorgaben und die entsprechenden Korrekturen das Entscheidende beim Techniktraining sind. Heute sind sich die Fachleute diesbezüglich nicht mehr so sicher, ob es tatsächlich noch so sein sollte. Ihre Erfahrungen jedenfalls zeigen in eine andere Richtung: Langsam werden die Grenzen der Aussensicht und der Sprache erkannt. Die Wende von der Aussen- zur Innensicht.

Der Mensch nimmt sehr vieles seiner Mitwelt mit den Augen wahr. Was gesehen werden kann, scheint konkret, fass- und überprüfbar. Jeder weiss dann, wovon die Rede ist: Mit der rechten Hüfte fünf Zentimeter weiter nach vorn, das Knie etwas mehr gebeugt und den Ellbogen etwas mehr nach links ausdrehen! Wer aber beim Tennisaufschlag schon Zentimeterkorrekturen auszuführen hatte und dabei, weil der Erfolg schliesslich doch ausblieb, beinahe verzweifelte, weiss um die Grenzen, um die Beschränktheit der Sprache. Diese oft bittere Erkenntnis hat auch der «Kleine Prinz» (von Antoine de Saint-Exupéry) gemacht und philosophisch zusammengefasst: «L'essentiel est invisible pour les yeux, on ne voit qu'avec le cœur.» Wie aber soll das «mit dem Herzen Erkannte» weitergegeben, wie darüber diskutiert werden? Oder anders herum: Die Leistung ist sichtbar, also kann sie nicht das Wesentliche sein, also muss es etwas geben, was mehr ist als Leistungssport: Bewegung ist mehr als Sport!

Mit mehr Gefühl

In diesen Grenzbereichen häufen sich die Ratschläge der Art: «Versuch es noch einmal, aber mit mehr Gefühl!» Worum es hier geht, nämlich um die Differenzierung des Feelings, ist zwar nicht neu, doch vielleicht richtiger, weil angemessener. In den zwanziger Jahren hat davon schon der Skipionier Josef Dahinden (1898–1993) geschrieben. Doch wer der Zeit voraus ist, braucht Geduld, bis dass das Blatt sich wendet.

Wendezeit! Vor allem in «sensiblen» Sportarten – wie zum Beispiel im Golf – ist das Bedürfnis nach mehr Wissen in diesen bisher meist unerforschten und mit naturwissenschaftlichen Methoden kaum erforschbaren Bereichen markant gestiegen.

Wendezeit im Sport. Von den Naturwissenschaften zu den Humanwissenschaften. Auch diese Wende ist erfreulich, denn dadurch zeichnet sich auch eine Art «Humanisierung des Leistungssports» ab. Und jede Humanisierung ist ein Abweichen vom Leistungsprinzip: Bewegung ist mehr als Sport!

Orientierung am Menschen

Mit dem bisher fraglos unumstrittenen Satz: «Bewegungslehre ist ein wichtiges Teilgebiet der Sportwissenschaft (...)» leitet der Tübinger Hochschullehrer Ulrich Göhner den ersten Teil seiner «Einführung in die Bewegungslehre des Sports» ein (Schorndorf 1992; 9).

Wendezeit: In absehbarer Zeit muss die Orientierung der Bewegungslehre anders als bisher, das heisst weniger sportzentriert, ausgerichtet sein: Seitdem der ursprüngliche Stellenwert und die Funktion des Leistungssports in unserem gesellschaftsbezogenen Denken aus mannigfachen Gründen deutlich an Bedeutung verloren hat, werden sich die Bewegungswissenschafter/innen weniger einschränkend als in den vergangenen dreissig Jahren auf den Sport konzentrieren, sondern bestrebt sein müssen, sich im Fächerkanon der Hochschulen breiter abzustützen, das heisst sich im humanwissenschaftlichen Fächerangebot vernetzter zu integrieren.

Sportübergreifend und interdisziplinär

Was heisst das? Die «Bewegung» – als Forschungsgegenstand – ist nicht, und war es im Grunde genommen auch nie, eine ausschliessliche Domäne des Sports. Sich mit der menschlichen Bewegung multidisziplinär und, wenn immer möglich, auch interdisziplinär auseinanderzusetzen, wäre im Bereich der Humanwissenschaften eine faszinierende Herausforderung und ein längst naheliegendes fächerübergreifendes Thema, das es vermehrt und gezielter in Ausbildungslehrgängen aufzugreifen gilt.

Wendezeit: Gelingt es in diesem Sinne, die Bewegungswissenschaften sportübergreifend und interdisziplinär zu reflektieren, dann wird eine Einführung in die Bewegungslehre künftig wohl eher wie folgt beginnen: «Die Sportwissenschaft ist – im Hinblick auf das Ergründen und Erkennen bewegungsrelevanter Funktionen und Zusammenhänge – ein facettenreiches Teilgebiet der Bewegungswissenschaft.»

Wendezeit: Bewegungswissenschaft ist mehr als Sportwissenschaft!


Dr. Arturo Hotz (ist Professor für Sportwissenschaften an der Universität Göttingen und nimmt an der ETHZ Lehraufträge für Bewegungs- und Trainingslehre wahr.


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Last update: 09.07.97