Die Diagnostik von Sachwissen

Wissenschaft und Weltpresse, Datenbanken und Druckerzeugnisse – die Gesellschaft wird täglich mit einer neuen Flut von Informationen zugedeckt. Mit jeder Woge schwillt auch der Hilfeschrei nach Experten an, die wenigstens Teile dieser Datenmenge überschauen, erklären und nutzbar machen sollen. Ein Bildungsauftrag an die Zukunft, für den es neues Know-how braucht.

VON DAMIAN LÄGE UND SANDRA DAUB

Der Bildungsauftrag an eine gar nicht mehr so ferne Zukunft wird darin liegen, gesundes schulisches Allgemeinwissen in einem lebenslangen Lernprozess mit sehr spezifischen Fähigkeiten und Fertigkeiten zu verbinden. Nur auf diesem Weg kann ein ökonomisches Zusammenwirken in einem hochgradig arbeitsteiligen Global village gelingen; das Zauberwort dazu heisst «Expertise».

Zu den Wissenschaften, die bereits heute die Grundlagen künftiger Ausbildungssysteme erarbeiten, zählen Pädagogik, Psychologie und (neuerdings) auch Informatik. Auf ihre je spezifische Art arbeiten sie an Programmen, mit denen sie diesem Zukunftsauftrag gerecht zu werden hoffen.

Gemeinsam ist diesen Disziplinen mit ihren vielfachen inhaltlichen und methodischen Ausdifferenzierungen das anzugehende Doppelproblem: Zum einen ist bislang noch nicht hinreichend exakt entschlüsselt worden, was Expertenwissen eigentlich von dem eines Nichtexperten qualitativ unterscheidet. Zum anderen tappt man bislang im dunkeln, wenn es um die optimale Auswahl von Lerninhalten geht, um aus einem Laien möglichst effizient einen Experten zu machen.

Bewährte Instrumente

Um diese beiden gleichermassen fundamentalen Fragen beantworten zu können, müssen bessere Wege zur Diagnostik individuellen Wissens gefunden werden. Nicht so schwierig ist dies bei der Erforschung von Vorgehensstrategien und Schlussfolgerungsregeln. Hier kann die Expertenforschung auf beträchtliche Erfolge verweisen.

Und auch in der Diagnostik der Lernenden verfügt man mit Textaufgaben, wie sie uns allen aus dem Mathematik- und Physikunterricht noch bestens vertraut sind, über ein altbewährtes Instrument. Mit wenigen, geschickt ausgewählten Aufgaben kann das Repertoire einer Person an Vorgehens-, Transformations- und Entscheidungsregeln vollständig ausgelotet werden.

Ganz anders sieht dies leider bei der Diagnostik von Sachwissen aus. Geht es um all die lästigen, aber für die Expertise bitter notwendigen einzelnen Fakten, so müsste man nach und nach den gesamten Wissensbestand eines Faches in Tausenden von Fragen abtesten. Nur so wäre herauszufinden, was eine Person nun genau weiss und was nicht.

Das ist ein unmöglicher oder zumindest doch unzumutbarer Aufwand. Daher verlegt sich der Lehrer in Situationen, in denen er nur wissen möchte, wie viele und welche ungefähren Anteile des Gesamtwissens sein Schüler beherrscht, auf das Mittel der Stichprobe: er wählt einige wenige der vielen möglichen Fragen aus und vertraut darauf, mit dieser kleinen Auswahl einen repräsentativen Teil des Gesamtwissens zu erfassen.

Diese Stichproben-Methode ist ein probates Mittel, solange Wissen als genereller Kennwert, als Schulnote etwa, taxiert wird. Weder in der Expertenforschung noch in einer lernorientierten Wissensdiagnostik hilft ein solcher Kennwert aber weiter; man will es schon ein wenig genauer wissen – und muss trotzdem die Diagnose innert angemessener Zeit bewerkstelligen.

Tutorielle Systeme

An einer Lösung genau dieses Problems arbeitet die Forschungsgruppe «Wissenspsychologie» am Psychologischen Institut der Universität Zürich. Ziel ist die Entwicklung eines effizienten Diagnostikverfahrens für das Sachwissen einzelner Personen, und zwar sowohl für Experten als auch für Lernende.

Gerade für die Letztgenannten ist dabei die Zeit ein entscheidender Faktor. Im Rahmen eines Trainingsprogramms muss der jeweilige Wissensstand regelmässig getestet werden können. Die für Diagnostik eingesetzte Zeit geht aber als Lernzeit verloren.

Trotzdem ist die Qualität der Diagnostik mitentscheidend für die Effizienz des Lernens: durch den Einsatz computerisierter Verfahren lassen sich heutzutage nach jedem Test neue Lektionen für den Lernenden zusammenstellen, die exakt auf sein individuelles Wissen abgestimmt sind und ihn somit optimal fördern.

Während ein Lehrbuch, eine Schulstunde oder auch eine Vorlesung immer nur ein Kompromiss zwischen den antizipierten Bedürfnissen aller Lernenden sein kann, ermöglicht eine Fachdatenbank die individuelle Gestaltung des jeweils nächsten Lernschrittes. Diese Form von Konzept wird seit einigen Jahren als «Intelligentes Tutorielles System» (kurz ITS) in der Konzeption zukunftsorientierter Didaktik hoch gehandelt. Abbildung A bietet einen Überblick über ein solches System.

Abbildung A:
Rahmenmodell eines «intelligenten» Tutoriellen Systems

1. Das System beginnt mit einer Wissensdiagnose des Lernenden: Er soll Ähnlichkeiten zwischen Objektpaaren einschätzen.

2. Aus den Ähnlichkeitswerten wird ein Lernermodell errechnet und mit dem Expertenmodell (als Wissensnorm) auf Abweichungen hin untersucht.

3. Mögliche inhaltliche Gründe für die Abweichung werden in einer Sachdatenbank identifiziert.

4. Die nächste Lernsequenz baut sich aus denjenigen Fakten auf, deren korrekte Berücksichtigung das Lernermodell am stärksten dem Expertenmodell angleichen würde.

5. Didaktisch aufbereitet, werden diese Fakten in einer Lernsequenz präsentiert.

6. Ein weiterer Wissenstest anhand von Ähnlichkeitsurteilen leitet die Auswahlprozedur für die nächste Lektion ein.

Die Funktionsfähigkeit eines ITS basiert auf einer doppelten Diagnostik: zum einen wird das Fachwissen eines Experten in ein «kognitives Modell» überführt. Dieser Begriff meint das Gesamtschema, welches sich ein Experte auf der Basis der einzelnen, von ihm ebenfalls irgendwann einmal gelernten Fakten macht.

Dieses «Expertenmodell» gilt später als Norm für die lernende Person. Sie darf sich genau dann selbst als Expertin fühlen, wenn ihr eigenes kognitives Modell nicht mehr von der Wissensnorm abweicht.

Das Ähnlichkeitsurteil

Während man sich für die diagnostische Ermittlung eines Expertenmodells ruhig Zeit nehmen kann (und auch soll, denn eine falsche Norm wäre verheerend), muss die Diagnostik des jeweiligen Lernstatus bei der auszubildenden Person zügig und effizient vonstatten gehen.

Gleichzeitig ist darauf zu achten, dass beide Diagnostikergebnisse in derselben «Sprache» formuliert und somit unmittelbar miteinander vergleichbar sind. Denn aus den Unterschieden zwischen den Ergebnissen des Experten und denen des Lernenden soll ja die nächste Lektion gewonnen werden.

Für die Diagnostik kommen – gemäss den bisherigen Überlegungen – nur solche Verfahren in Betracht, die ohne übermässig grossen Frageaufwand auskommen und trotzdem ein vollständiges Bild zeichnen. Der hier verfolgte Ansatz, der dies einmal gewährleisten könnte, ist das Ähnlichkeitsurteil.

Es mag manch hartgesottene Kognitionspsychologen überraschen, mit wie wenigen Informationen wir in der Lage sind, ein ungefähres Urteil über die Ähnlichkeit zweier Dinge oder Personen abzugeben. Wenn wir dies tun, vertrauen wir offenbar auf unser «gutes Auge», mit dem wir wichtige von unwichtigen Merkmalen unterscheiden und die verbleibenden wichtigen Merkmale in eine wohlproportionierte Relation zueinander bringen. Laien sind genauso in der Lage wie Experten, die Ähnlichkeit zwischen zwei Dingen abzuschätzen – auch wenn das Urteil natürlich beim Experten qualitativ besser ausfallen sollte.

In der Psychologie haben – von der theoretisch geleiteten Grundlagenforschung bis hin zur angewandten Marktanalyse – Ähnlichkeitsurteile immer wieder eine tragende Rolle gespielt. Deswegen wird es nicht erstaunen, dass heute dem Diagnostiker unterschiedliche Skalen zur Verfügung stehen, mit denen subjektive Ansichten über den Grad der Ähnlichkeit zwischen zwei Gegenständen numerisch gemessen werden können.

Solche numerischen Beträge lassen sich geometrisch als Distanzwerte verrechnen und zur Grundlage sogenannter «kognitiver Landkarten» machen. Abbildung B zeichnet eine solche geometrische Struktur am sehr einfachen Beispiel der «kognitiven Landkarte» eines Hobbyornithologen.

Abbildung B:
Kognitive «Landkarte» eines Schweizer Hobbyornithologen

Derartige «Landkarten» – oder die dahinterstehenden Ähnlichkeitsurteile – lassen sich nun bequem zwischen unterschiedlichen Personen vergleichen, zum Beispiel zwischen einem Experten und einem Lerner. Ohne grossen mathematischen Aufwand springt ins Auge, welche Distanzen vom Laien zu gross und welche zu klein eingeschätzt wurden. Diese Abweichungen von der Expertenmeinung können zur Grundlage der Auswahl einer Lernsequenz werden; man muss «nur» noch herausfinden, welche Sachinformationen hinter den fehlerhaften Ähnlichkeitsurteilen stehen.

Oben haben wir das Ähnlichkeitsurteil als Pauschalwert für einen Merkmalsvergleich gekennzeichnet, der sich aus verschiedenen kognitiven Einzelprozessen zusammensetzt. Die Psychologie hat dazu eine Bandbreite von Theorien entwickelt, wobei sie nicht unbedingt annimmt, dass all diese Einzelprozesse bewusst ablaufen oder gar wie das Kopfrechnen mühevoll willentlich gesteuert werden müssten. Der theoretische Ansatz, auf den wir uns hier verlegen werden, begreift ein Ähnlichkeitsurteil als das Resultat einer mehr oder minder automatisiert ablaufenden Berücksichtigung verschiedener Merkmale und deren Ausprägungsunterschiede bei den zu beurteilenden Objekten.

Gewichtung von Merkmalen

Abbildung C skizziert ein Experiment, welches die Gewichtung einzelner Merkmale durch einen Experten identifiziert. Solche mehrstufigen Befragungen werden notwendig, weil Experten in aller Regel zunächst einmal hoffnungslos überfordert sind, wenn sie die von ihnen «verinnerlichte» Rangstufe der Merkmalswichtigkeit in ein numerisch korrektes mathematisches System bringen sollen.

Abbildung C:
Experiment zur Erhebung von Merkmalsgewichten

1. Ein Experte schätzt die Wichtigkeit der Merkmale ein.

2. Unterschiede in den Merkmalsausprägungen zweier Objekte werden mit dem Gewicht, das der Experte dem Merkmal zugeschrieben hat, verrechnet.

3. Die Summe dieser Unterschiede ergibt die geometrische Distanz zwischen den beiden Objekten.

4. Dem Experten wird die «Landkarte» zur Begutachtung vorgelegt

5. Der Experte versucht, zu kleine oder zu große Distanzen durch Veränderung der Merkmalsgewichte zu korrigieren. Mehrere solcher Schleifen werden wiederholt, bis der Experte mit der «Landkarte» zufrieden ist.

Wendet man das so dem Experten «abgerungene» Wissen um die Gewichtung der Merkmale kombinatorisch geschickt auf eine passende Datenbank an, so erhält man am Ende jene Einzelinformationen, die beim Experten hinter den entsprechenden Ähnlichkeitsurteilen stehen – und das sind diejenigen Fakten, die Auszubildende später sinnvollerweise lernen sollen.

Eine solche Datenbank braucht im Minimalfall lediglich die – objektiven und vom Experten auch gewussten – Einzelausprägungen der Merkmale bei den verschiedenen Objekten des Wissensgebietes zu enthalten. In unserem Demonstrationsbeispiel Ornithologie wären dies Informationen über Anatomie und Verhalten der einzelnen Vogelarten, über Lebensräume, Ernährung, Brutzyklus und über alles mehr, was Experten in diesem Feld als relevant heranziehen und was deswegen Teil des Sachwissens eines Ornithologen ist.

Auch jede lernende Person kann einer einfachen Wissensdiagnostik durch Ähnlichkeitsurteile unterzogen werden. Die aus diesen Urteilen hochgerechnete geometrische Struktur wird mit der «Musterlösung» eines Experten verglichen, und die Differenzen führen – mit hinreichender Schätzgenauigkeit – zur Identifizierung derjenigen Datenbankfelder, bei denen der Lerner noch Lücken hat oder falsche Annahmen macht.

Eine Zusammenstellung dieses Sachwissens bildet die nächste Lektion für den Lerner – eingebettet natürlich in eine sinnvolle Unterrichtsdidaktik. Alles, was die Pädagogik zur Gestaltung «realen» oder «virtuellen» Unterrichts durch ihre Lernforschung guten Gewissens empfehlen kann, greift auch in einem ITS. Die kleine, aber feine Besonderheit liegt lediglich darin, dass das zu vermittelnde Material individuell zusammengestellt ist.

Das skizzierte Diagnostikverfahren befindet sich noch im Entwicklungsstadium. Grundsätzliche Lösungen bedeuten nicht sofort marktgerechte Optimierungen der Instrumente, und an vielen Detailschritten wird noch zu basteln sein. Gleichwohl darf der Blick mit Optimismus in die Zukunft gleiten, dass solche diagnostischen Ansätze einen wichtigen Beitrag zur Anpassung unserer Lerninstrumente an die Erfordernisse des kommenden Jahrhunderts leisten können.


Dr. Damian Läge und lic. phil. Sandra Daub sind Lehrbeauftragte der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich, Abteilung Allgemeine Psychologie.


unipressedienstunimagazin Nr. 3/97


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Last update: 22.12.98