Vertrauen durch Kontrolle

Hie die Wissenschaft, da der Laienverstand. Die beiden Erfahrungswelten kommen meist erst zusammen, wenn es um die Absegnung neuer Technologien an der Urne geht oder um die Akzeptanz neuer Produkte auf dem Markt. Bereits auf Forschung und Entwicklung öffentlich Einfluss zu nehmen, bedeutet, dass Laienexpertisen vermehrt eine Stimme erhalten und erfordert nicht nur ein Umdenken seitens der Wissenschaft, sondern auch eine Umgestaltung der sozialen Organisation der Wissensproduktion.

VON ALESSANDRO MARANTA

Im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg wurde die Entwicklung neuer Technologien in zuvor nicht gekanntem Ausmass vom Staat gefördert. Die Erfahrungen mit dem Bau der Atombombe und anderen grosstechnischen Projekten im Zweiten Weltkrieg hatten die Schlüsselpersonen in Politik, Verwaltung, Industrie und Wissenschaft davon überzeugt, dass die Entwicklung neuer Technologien einerseits planbar sei und andererseits kontrolliert werden müsse. Fortschritt und Wohlstand – sowie damit verbundenes staatliches Prestige – sollten nicht allein vom Zufall abhängen. Diese Annahmen wurden mit dem wirtschaftlichen Aufschwung der westlichen Industrieländer in den fünfziger und sechziger Jahren vorerst bestätigt.

Doch seit den siebziger Jahren zeichnen sich Veränderungen ab, die von den Entscheidungsträgern kaum vorausgesehen werden konnten. Durch die massive Anhebung des Bevölkerungsanteils mit einer technischen oder wissenschaftlichen Ausbildung wurde der Kreis der in die Wissenschaften Eingeweihten beträchtlich erweitert und der exklusive Status von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gemindert. Die staatlich geförderte Beschleunigung von Innovationen führte im weiteren dazu, dass sich die Wissensproduktion immer mehr ausdifferenzierte und die Nähe zur praktischen Anwendbarkeit suchte. Diese Spezialisierung war weitgehend gekoppelt an eine rigidere Selektion der zu lösenden Probleme in der jeweiligen Fachausrichtung. Spezialisierte Fachkräfte sollten auf Teilfragen antworten und die daran anschliessenden Fragen von den Nachbardisziplinen beantwortet werden.

Neue Aufgaben für den Staat

Dieser funktionalen Differenzierung innerhalb der Forschung wird vermehrt mit Skepsis begegnet. Die technischen Lösungen, welche von Forscherinnen und Forschern aus der Sicht ihres Fachgebiets angeboten werden, sind vielfach mit Unsicherheiten verbunden. Sie werden von den jeweiligen Experten zwar als kalkulierbare Risiken betrachtet, stellten aber für Aussenstehende unbeeinflussbare Bedrohungen dar. Die Entscheidungen von Expertinnen und Experten werden entsprechend selbst wieder als Bedrohungen wahrgenommen. Weshalb – so die verbreitete Sorge – sollte den Wissenschaften, welche diese Risiken überhaupt hervorgebracht haben, Vertrauen geschenkt werden, dass sie diese auch zutreffend einschätzt? Insbesondere dann, wenn die Einschätzung auf einer anscheinend durch eine wissenschaftliche Betrachtungsweise eingeschränkten Sicht der Gefahren beruht.

Der Staat sieht sich heute mit einer vollkommen neuen Aufgabe konfrontiert: Es gilt nicht nur, für die sozialen Belange der Bürgerinnen und Bürger vorzusorgen, sondern sich ebenso um die Sicherheit vor den neuen, als bedrohlich empfundenen Technologien zu kümmern.

Verdeutlichen lässt sich dies an den Bemühungen, die Biotechnologie zu regulieren. Trotz des Neins zur Genschutz-Initiative am 6. Juni dieses Jahres wurde das Abstimmungsresultat als Auftrag an den Bund verstanden, anhand der Forderungen der Gen-Lex-Motion und gestützt auf den bestehenden Art. 24novies der Bundesverfassung eine differenzierte und umfassende Gesetzgebung auszuarbeiten.

Die kurz vor der Abstimmung gebildete Ethikkommission hat den Auftrag erhalten, die Öffentlichkeit regelmässig oder bei besonderem Anlass über ethische Probleme der Biotechnologie zu orientieren. In Zukunft soll die Öffentlichkeit noch stärker über die Entwicklungen in der Biotechnologie informiert werden, und der Bund will sich im Revisionsentwurf des Umweltschutzgesetzes weitere Möglichkeiten zum Dialog offenhalten. So ist ein neuer Artikel vorgesehen, der festhält:

Art. 51a (neu) Information und Dialog über Biotechnologie.
Der Bund fördert die Kenntnisse der Bevölkerung und den öffentlichen Dialog über Einsatz, Chancen und Risiken der Biotechnologie.


Dieser Entwurf enthält zwei deutlich abweichende Perspektiven. Auf der einen Seite soll der Bund die Kenntnisse der Bevölkerung fördern. Aus dieser Sichtweise bewahren die Wissenschaften ihre Autorität gegenüber der Öffentlichkeit. In Frage gestellt wird allein das unzureichende Wissen der Bevölkerung, nicht aber das Wissen der Wissenschaften. Andere Wissensformen, welche ausserhalb der Wissenschaften praktiziert werden, bleiben bei diesem Ansatz ausgeblendet.
Die im zweiten Teil des Artikels formulierte Zielsetzung deutet dagegen an, dass in der Beziehung zwischen Öffentlichkeit und Forschung der Blick nicht allein auf den Wissensstand der Öffentlichkeit gerichtet bleiben soll, sondern die mit dieser Technologie verbundenen Risiken ebenfalls in einem Dialog (unter gleichberechtigten Partnern?) thematisiert werden sollen.

Während im ersten Fall von einem asymmetrischen, belehrenden Monolog ausgegangen wird, soll im zweiten Fall die Öffentlichkeit selbst aktiv partizipieren können. Die Bürgerinnen und Bürger dürfen gestützt auf ihre aus dem Alltag gewonnene Expertise neue Technologien miteinschätzen. Was aber vermag die Öffentlichkeit einzubringen, was durch die Wissenschaften nicht bereits (exakter) erfasst werden kann? Und welches sind die adäquaten Verfahren, die Kompetenz der Öffentlichkeit angemessen in den anzustrebenden Dialog einzubringen?

Davon auszugehen, der zweite, dialogische Ansatz sei vorzuziehen, weil er demokratischer sei und mehr Legitimation verspreche, verkennt, dass auch die Wissenschaften auf eine lange Tradition zurückblicken können, in deren Verlauf sie soziale Mechanismen – wie Gutachterverfahren oder die Durchführung von Experimenten – ausgebildet haben, um zu tragfähigen Entscheidungen zu gelangen. Das Mehrheitsprinzip verbunden mit dem Schutz von Grundrechten muss daher nicht von vornherein legitimer sein als wissenschaftliche Expertise.

Risikovergleiche

Bei der Entwicklung von Technologien handelt es sich nicht um einen neutralen Akt des Entdeckens von Fakten, sondern um einen innovativen Prozess, der gleichzeitig technische wie soziale Horizonte eröffnet. Im Verlauf der Verbreitung einer neuen Technologie können unvorhergesehene Anwendungen auftreten, die in ihrer Art oder in ihrem Ausmass nicht erwartet wurden. Die Grenze zwischen Fakten und Werten verschwimmt daher bei Innovationen, welche eine technische und eine soziale Dimension verkoppeln, um sich durchzusetzen.

Damit eine neue Technologie dennoch bewertbar und vergleichbar wird, ziehen deren Befürworter gerne Risiken bestehender Technologien als Massstab heran. So wird beispielsweise betont, dass Auskreuzung und horizontaler Gentransfer nicht allein bei gentechnisch veränderten Pflanzen, sondern auch bei herkömmlich gezüchteten Pflanzen vorkommen können. Dadurch wird einerseits eine neue qualitative Dimension, welche eine unterschiedliche Bewertung rechtfertigen könnte, bestritten. Andererseits werden angeblich neue Risiken als bereits bekannte und tolerierte Risiken bestimmt, und der Widerstand gegen die neue Technologie wird auf individuelle Präferenzen zurückgeführt.

Durch solche Vergleiche kann zwar ein rationaler – auf wissenschaftlicher Basis erzielter – Konsens angestrebt werden, die soziale Innovation, die mit einer technischen Innovation einhergehen kann, wird jedoch gehemmt. Der Vergleich mit bestehenden Technologien legt nahe, dass für soziale Innovation kein Bedarf bestehe und allein eine individuelle Gewöhnung abgewartet werden muss.

Entscheidungskompetenzen können der Öffentlichkeit im freien Markt aber auch als Bürgerinnen und Bürger zugestanden werden. Die freie Wahl beim Kaufentscheid ist Merkmal und Voraussetzung eines liberalen Marktes und wird in der Schweiz durch die Handels- und Gewerbefreiheit garantiert. Zudem wird die Forschung und die Entwicklung neuer Technologien als Ausfluss der persönlichen Freiheit als ungeschriebenes Verfassungsrecht geschützt.

Angesichts dieser verfassungsmässigen Grundordnung muss die Entscheidungsfreiheit in der Kaufsituation (in welcher individuelle Präferenzen und die persönliche Kaufkraft beispielsweise über den Erwerb gentechnisch veränderter Produkte entscheiden) zunächst ohne weitere Auflagen gewährt werden.

Dimensionen öffentlicher Partizipation

Die Freiheit der Industrie, innovative Produkte auf den Markt zu bringen, sowie die Entscheidungsfreiheit der Konsumentinnen und Konsumenten ist angesichts dieser Verfassungsordnung grundlegend und erscheint in Staaten westlicher Prägung nicht begründungsbedürftig.

Hingegen müssen staatliche Interventionen, welche die Entwicklung und Verbreitung marktfähiger Innovationen einschränken, durch einen qualitativ in besonderer Weise legitimierten Entscheid gerechtfertigt werden: entweder durch Hinweis auf übergeordnete öffentliche Interessen wie die Gesundheit der Bevölkerung oder durch eine Verfassungsänderung. Die Gefährdung öffentlicher Interessen wird durch vorhandene oder vermutete Risiken, ohne sich auf reine Spekulation zu stützen, begründet.

Ein Beispiel solcher staatlicher Eingriffe bietet die Zulassung neuer Medikamente: Das Zulassungsverfahren hat vor allem aufschiebende Wirkung in der Art eines Moratoriums, bis mögliche Risiken aufgrund standardisierter Verfahren wissenschaftlich ausgeräumt sind. Wesentlich ist dabei, dass ein Moratorium aufgrund noch bestehender Unsicherheiten beschlossen wird; es handelt sich strenggenommen nicht um einen moralischen Entscheid – ein Moratorium besagt nicht, dass eine Technologie moralisch verwerflich sei. Der Entscheid stützt sich auf wissenschaftliche Expertise bezüglich der Risiken und soll durch ebensolche Expertise auch wieder aufhebbar sein.

Problematisch ist die exklusive Autorität wissenschaftlicher Expertise. Laborwissenschaftlich nicht voraussehbare Risiken tauchen häufig dort auf, wo Technologien mit Erfahrungswissen, das beispielsweise auf langjähriger Berufserfahrung beruht, verbunden werden. Die spezifischen Verwendungsweisen dieser Technologien in unterschiedlichen Kontexten bleiben bei einer rein laborwissenschaftlichen Expertise ausgeklammert. Derartige Risiken könnten dann frühzeitig erkannt werden, wenn solches Erfahrungswissen in die Evaluation neuer Techniken einbezogen würde. Dazu ist es aber notwendig, dass den Alltagsexpertisen schon in der Entwicklung neuer Produkte eine Stimme gegeben wird und sie nicht erst über das Kaufverhalten der fertigen Produkte Gewicht erhalten.

Einfluss- und Kontrollmöglichkeiten

Die Forderung, den Laienexpertisen eine Stimme zu verleihen, verlangt eine Umgestaltung der sozialen Organisation der Wissensproduktion. Sie stellt nicht die Grundzüge wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns in Frage, sondern erfordert, dass die Formulierung zu lösender Probleme, die Erörterung von Lösungsstrategien sowie das Erstellen von Kriterien für akzeptable Lösungen auch mit Laien diskutiert wird. Eine solchermassen offen gestaltete Wissensproduktion bleibt wissenschaftlich, geht aber über die einzelnen Disziplinen hinaus und ist nicht als Demokratisierung misszuverstehen.

Ein abstraktes Verfahren anzugeben, wie eine solche Einbettung von Laienexpertisen erfolgen sollte, ist nur sehr rudimentär möglich. Das allgemeine Verfahren besagt vielmehr, sich gerade nicht strikte an eine (disziplinäre) Methode zu halten, sondern die Regeln bisweilen zu ändern «as we go along».

Dazu können vielfältige Partizipationsmittel zur Verfügung stehen. Neben Marktentscheiden, (partizipativer) Technikfolgenabschätzung und Volksinitiative sollte an die Möglichkeit von Konsenskonferenzen mit Laienbeteiligung im Vernehmlassungsverfahren gedacht werden. In der universitären Forschung gilt es, nicht nur die Nähe zu Anwendbarkeit, sondern auch zu den Anwendern und deren Erfahrungsschatz selber zu suchen. Entsprechend gehen die angesprochenen Verfahren über in Gesetzen oder Verordnungen verankerte Partizipationsformen hinaus.

Selbst wenn sich ein allgemeingültiges Verfahren nicht bezeichnen lässt, könnte eine Öffnung anstelle einer vermeintlichen Verfahrenssicherheit ein Mehr an Vertrauen unter den Beteiligten erzeugen. Die Möglichkeit, am Entscheidungsprozess teilzuhaben, stärkt das Vertrauen in das Resultat solcher Prozesse, selbst dann, wenn keine Beteiligung erfolgt.

Diese vertrauensbildenden Möglichkeiten sind aus der Gewaltenteilung moderner westlicher Staaten und dem dazugehörigen Prinzip der gegenseitigen Gewaltenhemmung («checks and balances») bekannt und erprobt. Sie funktionieren, weil sie zur Verfügung stehen und gleichzeitig – im Vertrauen auf die Kompetenz der Partner – nicht ständig angewendet werden.

In der heutigen modernen Risiko- oder Industriegesellschaft ist der Staat nicht mehr der zentrale Akteur. Globalisierte Forschung und Industrie gestalten die Gesellschaft in einem bedeutenden Ausmass mit. Trotzdem kann das demokratische Prinzip – und Paradox –, dass Vertrauen durch Kontrollmöglichkeiten erzeugt wird, die aufgrund von Misstrauen eingeführt werden, auch auf die Erforschung und Entwicklung neuer Technologien angewendet werden, indem es über die drei klassischen Gewalten hinaus auf die zahlreichen «Gewalten» der modernen Gesellschaft ausgeweitet wird.


LITERATUR

Informationen über den Stand der Gesetzgebung zur Gentechnologie in der Schweiz: http://www.admin.ch/bvet/  


Alessandro Maranta ist Assistent an der Professur für Wissenschaftsphilosophie und Wissenschaftsforschung der ETH Zürich.


unipressedienstunimagazin Nr. 3/97


unipressedienst – Pressestelle der Universität Zürich
Nicolas Jene (upd@zuv.unizh.ch)
Last update: 01.01.97