Ich verweise, also bin ich

Anfang 1998 hat eine Arbeitsgruppe im Auftrag des Schweizerischen Wissenschaftsrats eine prospektive Studie über das Verhältnis der Geisteswissenschaften zur Informationstechnologie vorgelegt. Nicht ganz unerwartet drängte sich während der Recherche zunehmend die aufregende Frage auf, wo sich unser Wissen eigentlich befindet. Sie wirft neues Licht auf die Fundamente moderner Wissensproduktion und -vermittlung.

VON GUERINO MAZZOLA

«Wissen Sie, wie spät es ist?» Ich weiss es in der Regel nicht, sondern richte den Blick auf das Zifferblatt der Armbanduhr, lese die erfragte Information ab, kleide sie in einen Satz, mit dem ich dann antworte. Dass sich dieses Alltagswissen an sich aber nicht auf der Uhr befand, leuchtet ein: Keine Uhr der Welt weiss, wie spät es ist. Nur die Information zur Zeit war auf der Uhr, ihr habe ich durch mein Blicken, mein Lesen und Sprechen das hinzugefügt, was aus der Information Wissen macht; ich muss dieses Wissen jeweils herstellen.

Ordnung im Chaos

Wissen ist also mehr als Information. Das wird klar ausgedrückt in der verbreiteten Befürchtung, man könnte in der Informationsflut untergehen: nicht in einer Flut von Wissen, sondern von roher Information. Das erscheint paradox, denn Wissen fügt zur Information selbst noch einen Mehrwert hinzu. Aber nicht die schiere Informationsmenge ängstigt, sondern vielmehr das Chaos ihrer blinden Unordnung. Ohne gestaltende Ordnung ist Information überflüssig, ihr entgeht jede Bedeutung. Der Strom von Nullen und Einsen in digitalen Speichermedien oder die ATGC-Buchstabenketten des genetischen Codes erlangen erst Bedeutung, wenn sie in den Rahmen einer Ordnung eingelesen werden.

Das ist aber mehr als jene bekannte Tabellierung, die die wissenschaftliche Tätigkeit rohen Datensammlungen aufprägt. Denn das Einlesen in eine Ordnung ist Aktivität, es geschieht nicht automatisch, sondern ist im Wissen schaffenden Subjekt verankert.

Bleiben wir beim Ablesen der Uhrzeit: Das Wissen um die Uhrzeit resultiert aus dem Ergreifen und Ablesen von Information im Rahmen meiner Verstehensordnung. Wissen – so der Volksmund – ist zuerst einmal: wissen, wo suchen. Um zu wissen, muss ich Information in meinem Ordnungshorizont aufgreifen, muss ich auf sie geordnet zugreifen: ich muss sie be-greifen. Wissen ohne Information reduziert sich auf leere Begriffe, ist ein Griff ins Leere; Wissen ohne den «Begriff» des Gegenstandes ist ein «Datenfriedhof» toter Information.

Der reizvollen Provokation, Wissen als geordneten Zugriff auf Information zu definieren, wollen wir uns in dieser Annäherung aussetzen. Niklaus Luhmann fasst diese These im Buch «Die Wissenschaft der Gesellschaft» so zusammen: «... so weit Wissen gewusst werden soll, muss es immer wieder neu vollzogen werden. (...) Daher kann Wissen nicht nach der Art eines zeitbeständigen Vorrats begriffen werden, sondern nur nach der Art einer komplexen Prüfoperation.»
Damit haben wir Wissen in einem Aktionsraum geortet, einem Raum, in dessen Ordnung wir hineingreifen und in dem Information kunstvoll verkapselt ist. Es täuscht, wenn man glaubt, dieses Verständnis entspringe der virulenten Konstruktivismus-Debatte: Bereits in Aristoteles’ «Topik» ist ein begrifflicher Aktionsraum entworfen, worin man zwischen 41 Knotenpunkten der Argumentation, den Topoi, dem Wissen entlang navigieren kann.

Wilhelm Schmid-Biggemann weist in seiner atemraubenden Monographie über die universelle Topik barocker Wissenschaft «Topica universalis» nach, dass der Aristotelische Entwurf der Keim eines Enzyklopädismus ist, dem Wissen als Topos in einem begrifflichen Aktionsraum zugrundeliegt. Davon zeugen die 1308 in Pisa verfasste «Ars Magna» eines Raymundus Lullus und die grosse Enzyklopädie von Johann Heinrich Alsted von 1630, die Lullus’ Idee eines dreidimensionalen Feldes allen möglichen Wissens verwirklicht (siehe Abbildung 1).

Abbildung 1:
Titelblatt der bedeutendsten barocken topischen Enzyklopädie von Johann Heinrich Alsted, 1630 in Hebron publiziert. Die räumliche Anlage erinnert so sehr an Internet-Homepages, dass man versucht ist, mit der Computer-Maus auf eines der Bilderrähmchen zu klicken.

Vom Zeigefinger zum Pointer

Wir staunen, wie radikal die topica universalis des Barocks das Paradigma des Surfens auf dem Internet vorwegnimmt. Wie bei Luhmann ist Wissen eine Operation, wir stellen es her, und zwar durch Verweise, Hyperlinks, wie man heute sagt. «Das Zeigen mit dem Finger war die sicherste aller Gewissheiten.» So Schmid-Biggemann zur Enzyklopädik von Tomaso Campanella von 1637.

Zeigen als Grundoperation, Surfen von Adresse zu Adresse, das ist auch heute immer mehr die sicherste aller Gewissheiten. Selbst das Ich entlarvt sich in unserer Gesellschaft zunehmend als Zeiger-System, das dem Handy unentwegt seine Identifikation eintippt: Ich verweise, also bin ich. Campanella läutet damit das Zeitalter der Zeiger, modern gesagt, der Pointer ein.

Pointer sind Adressvariablen, sie sagen nur wo etwas zu finden ist, nicht was es ist. Pointer bilden den Kern der Wissensproduktion, ohne sie läuft gar nichts, nur sie geben an, wo zu suchen ist. Sie sind recht eigentlich die Elementarteilchen der Navigation. Die Informationstechnologie wäre ohne die Idee der postalischen Variablen undenkbar.

Wissen als Aktivität beruht auf dem fundamentalen Gestus des Zeigens: Ich richte mein Auge auf die Uhr, du zeigst einem Touristen den Weg, die Fussnote zeigt auf eine Quelle, der Hyperlink zeigt auf eine wichtige Homepage, ja sogar das Unteilbare der Geometrie, der Punkt, ist etymologisch verstanden das, worauf man «mit einer scharfen Spitze sticht»; deshalb heisst der englische Ausdruck für «zeigen» auch «to point at».

Störungen und Widerstände

Kaum etwas beweist so dramatisch die zentrale Rolle der Pointer im Vollzug des Wissens wie das Versagen der Erinnerung. Wenn ich in einer Prüfung vor Aufregung einen Begriff in meinem Gedächtnis nicht finde, dann hat der Pointer zum Begriff versagt. Keine Post: blackout – ohne Zeiger kein Wissen. Es leuchtet ein, dass sich die barocke Enzyklopädik deshalb auch der Mnemonik, das heisst der psychologischen Gedächtniskunst, zuwenden musste; genauso wie heute die Designer der Hypermedien-Navigation fieberhaft daran arbeiten, die Spur des Suchweges, die Zeigerkette hin zu einer (endlich gefundenen) Information im Surf-Protokoll festzuhalten, damit ich sie jederzeit wieder aufrufen kann. Das ist in der Tat die Veräusserung des Gedächtnisses auf den Bildschirm; nichts ist so barock wie das Internet.

Mit der Bedingung nach Zugriff, das heisst mit der operationellen Verfügbarkeit von Wissen, geht die radikale Abwendung von jener kontemplativen Theorie einher, welche Hans Blumenberg als «Zuschauer-Modell» der Wissenschaft apostrophiert hat. Dass die Theologen gegen die «Herrschaft der Zeiger» argumentieren mussten, ist offensichtlich. Sie konnten wegen des Gegenstandes ihrer Wissenschaft nur kontemplativ vorgehen, denn mit der Unveränderlichkeit und Unbegreiflichkeit Gottes konnte auch die Welt nicht verfügbar sein, so Schmid-Biggemanns Analyse.

Im Gegensatz zum schönen Juwel des unveränderbaren mittelalterlichen Kosmos erfahren wir allerdings heute einen dynamischen Wissensraum, wo – mit Peter Sloterdijk gesprochen – ein «totales Lebensexperiment» abgeht, in welchem «alles zerlegt und neu gebaut» wird. Die Herrschaft der Pointer ist auch ein Sachzwang der totalen Verfügbarkeit, welche die dynamische Welt des Wissens erst am Leben erhält, einer Welt, die, immer nach Sloterdijk, alles ist, «womit wir bis zum Zerbrechen experimentieren».

Wie euphorisch auch die Verabschiedung des unverrückbaren kosmischen Juwels Gottes im Namen eines totalen Lebensexperimentes begrüsst werden mag, die schizoiden Wahnsinnslabyrinthe der einander durch die Netze jagenden Pointerketten machen schwindlig und hinterlassen das mulmige Gefühl des «sie wissen nicht, was sie tun». Gerade weil die Verantwortung im Anspruch der totalen Verfügbarkeit in unsere Hände gelegt wird, verlangen wir nach Orientierung. Wenn wir schon das totale Experiment eingehen sollen, dann wenigstens mit Karte und Kompass.

Zwischen der Skylla chaotischer Informationsfluten und der Charybdis verordneter Ignoranz muss sich Wissenschaft potente Werkzeuge der Navigation bauen. Wir haben uns das eingebrockt und müssen damit fertig werden. Das ist die Aufgabe der Wissensgesellschaft, an der alle in der Wissensproduktion Aktiven gemeinsam ihren Einsatz leisten sollten.

Navigation und Piraterie

Mit der Idee des Verweisens haben wir bisher am Begriff «Aktionsraum des Wissens» nur den Aspekt der Aktivität ausgemacht, nicht aber seine Räumlichkeit. Welche Art von Raum das sein könnte, ist bisher eher suggeriert und historisch aufgerollt, aber nicht wirklich erklärt worden. In welcher Art Topographie also ist Wissen eingebettet? Wie müssten Karten und Kompass aussehen, die universell genug sind, um die enorme Diversität der Wissensformen einzufangen?
In einem Projekt des Schweizerischen Nationalfonds wurde 1992 bis 1996 unter anderem diese Frage im kritischen Wissensbereich der Musikwissenschaft untersucht. Kritisch ist der Bereich deshalb, weil Wissen über Musik extrem heterogen und über mehrere Bedeutungsschichten verteilt ist. Es ist dabei gelungen, ein universelles Modell geometrisch geordneter Verweistypen zu entwerfen, das als Karte und Kompass in der Navigation durch Musikwissen gute Dienste leistet.
Interessanter als die technischen Einzelheiten sind in diesem Modell die intensiven Anbindungen an universelle Konstruktionsprinzipien der modernen Mathematik. Das Gebiet der geometrischen Logik, die mathematische Topostheorie, hat in den letzten Jahrzehnten eine Synthese von Raumparadigmen und logischen Prozessen geleistet, die von der algebraischen Geometrie (Weilsche Vermutungen) bis zur axiomatischen Grundlegung der Mathematik (Continuums-Hypothese) massive Fortschritte ermöglichte. Es zeigt sich, dass die Topostheorie nun auch die begriffliche Grundlegung musikalischen Wissens zu gestalten beginnt. Diese Ideen finden prototypisch in Datenvisualisierungs-Software Eingang (siehe Abbildung 2).

Abbildung 2:
Visualisierung der komplexen Wissensstruktur über eine Stadt, wie sie in der Datenvisualisierungs-Software «urbs+orbis» implementiert ist (Prototyp entwickelt von Wolmer Facchin, ETHZ).

Solche Ansätze werden gegenwärtig in der Philosophie unter dem Titel der formalen Ontologien und der Knowledge Science heftig debattiert. Sie signalisieren absoluten Handlungsbedarf: die Überwindung der Hilflosigkeit blinder Geisterfahrten durch die rasend wachsende Informationsflut. Geisterfahrten, wo mitunter Piraten einer besonderen Sorte lauern – die Standardisierungsgremien.

Und so gehen sie vor: Sie erobern mit der Waffe der Informationstechnologie als industrieller Verbund einen speziellen Bereich der Wissenschaft. Der digitale Informationsaustausch der entsprechenden Technologie erfordert schnell standardisierte Wissenformen. Die Standardisierung wird unter industriellen Kriterien vorangetrieben und forciert. Nach kürzester Zeit steht ein Standard, der in seiner Starrheit und Beschränktheit mehr Schaden anrichtet als nützt. Aber er steht, und alles, was er nicht oder nur bruchstückhaft erfasst, wird eliminiert oder verstümmelt.

Es wäre jedoch naiv, sich einfach aus diesen Machtbereichen zurückzuziehen. Früher oder später beherrschen die Piraten des Wissens die Meere und zwingen jeden, den Industriestandard oder was sich dafür hält, auf Gedeih und Verderb zu verinnerlichen. Microsoft lässt grüssen. Es gibt gegen diese Piraterie nur ein Rezept: mitmachen und mitbestimmen.


LITERATUR

Im nächsten Jahr wird im Birkhäuser Verlag in Basel von Guerino Mazzola und anderen das Buch «The Topos of Music» erscheinen.


Prof. Dr. Guerino Mazzola ist professeur associé am Département de Mathématiques et Statistique der Universität Laval/Québec sowie Lehrbeauftragter an der Abteilung für Geistes- und Sozialwissenschaften der ETH Zürich und Gast am Institut für Informatik/Multimedia Lab der Universität Zürich.


unipressedienstunimagazin Nr. 3/97


unipressedienst – Pressestelle der Universität Zürich
Nicolas Jene (upd@zuv.unizh.ch)
Last update: 01.01.97