Von der Wissenden zur Lernenden Schule

Ein Aspekt des rasanten Wandels, in dem sich unsere Gesellschaft befindet, kann mit dem Slogan «Von der Industrie- zur Wissensgesellschaft» umschrieben werden. Gemäss dieser Vision wird Wissen in absehbarer Zeit zum wichtigsten Produktionsfaktor und die sinnvolle Nutzung dieses Wissens die zentrale Managementaufgabe in den politischen und wirtschaftlichen Organisationen der Zukunft. Da ist auch die Schule gefordert.

VON XAVER BÜELER

Die Pädagogik hört gerne, dass ihr ureigenstes Geschäft – die Wissensvermittlung – plötzlich so viel Anerkennung findet. Bildungsausgaben werden nicht mehr abgebucht unter «gehabte Freuden», sondern sollen dem Konto «zukunftsgerichtete Investitionen» zugeschlagen werden. Für einmal allerdings scheint die Schultheorie der Managementtheorie einen Schritt voraus zu sein: nicht mehr von einer wissenden Schule ist hier die Rede, sondern von der Lernenden Schule.

Das war nicht immer so. Bis vor nicht allzu langer Zeit ging die Schule stillschweigend von einem Wissenstransfermodell aus, das hier an einem fiktiven Beispiel illustriert sein soll.

Wir schreiben das Jahr 1972, und Peterli besucht in einem kleinen Bergdorf die 4. Primarklasse. Die meisten Schulbücher kann er von seinen älteren Geschwistern übernehmen, sie sind im Durchschnitt seit Drucklegung zehn Jahre alt. Bis neue Erkenntnisse und Sichtweisen Eingang in Schulbüchern finden, dauert es ebenfalls im Durchschnitt etwa zehn Jahre. Somit eignet sich Peterli Wissen an, das im Jahr 1952 aktuell war. Peter schlägt später die Universitätslaufbahn ein und steigt 1992, im Alter von dreissig Jahren ins Berufsleben ein. Er arbeitet an einem Projekt mit, das im Jahr 2002 in asiatischen Städten zur Realisierung gelangen soll.

Wenn Peter nun zur Lösung der sich ihm dabei stellenden Probleme sein einstmals mühsam erlerntes Grundwissen aus der Primarschulzeit anwendet, dann wendet er das 1952 in bäuerlich dominierten Schweizer Gegenden aktuelle Wissen auf die Probleme des urbanen Asien im Jahre 2002 an.

Man könnte dieses Modell vergleichen mit der Vorstellung, eine Batterie müsse nur einmal aufgeladen werden und könne nachher für unbestimmte Zeit Energie abgeben. Diese Vorstellung mag im Bildungssektor lange einigermassen funktional gewesen sein, zumindest solange es sich um traditionale Gesellschaften handelte. Wie in allen Systemen mit konservativer Selbstorganisation spielte auch hier Innovation eine unbedeutende Rolle, und Bildung war deshalb vor allem gefragt als Instanz zur Stabilisierung bestehender Strukturen.

Doch die Zeiten haben sich geändert und mit ihnen die Funktion von Bildung. Permanenter kultureller Wandel, Globalisierung, Pluralisierung und Technologisierung sind einige der Signaturen einer Moderne, die Schulen vor völlig neue Herausforderungen stellt.

Unserer dynamisierten und individualisierten Gesellschaft sind die allgemein geteilten Deutungs- und Verhaltensmuster abhanden gekommen; gleichzeitig haben personale Desorientierung und soziale Desintegration stark zugenommen. Das Gebot der Stunde lautet deshalb: Die Schule neu denken! Wenn in der Folge von der Schule gesprochen wird, dürfen sich auch die Hochschulen angesprochen fühlen, denn sie funktionieren weitgehend wie alle anderen Schulen auch.

Die Lernende Schule

Worum dreht sich nun schulische Kommunikation? Traditionellerweise würde die Antwort lauten, dass Schule sich durch die Erfüllung dreier Funktionen auszeichne: Qualifikation, Selektion und Legitimation.

Daran ist auch heute noch richtig, dass die Gesellschaft insgesamt auf diese schulischen Leistungen angewiesen ist. Gleichzeitig ist deutlich zu sehen, dass eine Akzentverschiebung stattgefunden hat. Nicht mehr so sehr die Erhaltung von Strukturen und Funktionen stehen im Vordergrund, sondern Entwicklungen und Prozesse. Als Vorbild für die Schule dienen nicht mehr einfache Input-Output-Modelle, sondern das Verhalten von komplexen, selbstorganisierenden Systemen.

Deshalb können wir heute sagen, dass im Zentrum schulischer Kommunikation Lern- und Entwicklungsprozesse stehen. Der damit verbundene Perspektivenwechsel geht tiefer, als man auf Anhieb denken könnte. Lernen wird nämlich in dreifacher Hinsicht verstanden:

An dieser veränderten Perspektive fällt zunächst auf, dass die Trennung von Lehren und Lernen wenn nicht total aufgehoben, so doch grundlegend neu gestaltet wird. Da alle am Unternehmen Schule Beteiligten sowohl Lernende wie auch Lehrende sein können, verlieren die Lehrpersonen ihr Wissensmonopol. Stattdessen werden sie zu Lernmoderatoren, die den Prozess der Wissensproduktion (statt: Wissensabsorption) anzuleiten und zu bereichern vermögen.

Wesentlich aber ist, dass den Schülerinnen und Schülern die Verantwortung für ihre Lernbiografie übergeben wird und sie sich dadurch die heutzutage wohl grundlegendste Kompetenz überhaupt erwerben: die Lernkompetenz. Darin liegt im Kern der Sinn der neuen Lehr- und Lernformen.

In der sogenannten Lernenden Schule entwickeln sich allerdings nicht nur die Individuen weiter, sondern auch das Kollektiv kommt voran. Sowohl die kleine, informelle Arbeitsgruppe wie auch die formal strukturierte Organisation werden als soziale Systeme mit eigentlichen Lernbiografien verstanden, die es bewusst zu gestalten und zu reflektieren gilt. Neben professioneller Personal- gehört somit auch die Organisationsentwicklung zu den permanenten Aufgaben einer Lernenden Schule.

Es darf hier nicht verschwiegen werden, dass in dieser Hinsicht private Unternehmen im Vergleich über einen erheblichen Vorsprung verfügen. Die aus der Vernachlässigung von Forschung und Entwicklung im Bildungssektor resultierenden Wirksamkeitsverluste werden auf mehr als 30% geschätzt, ein Missstand, den sich die Schweiz eigentlich nicht mehr leisten kann.

Schule – Individuum – Gesellschaft

Doch kehren wir nochmals zum traditionellen Verhältnis von Individuum und Gesellschaft zurück, gemäss dem der Schule prioritär die Aufgabe zukam, die nachwachsende Generation nahtlos in die bestehende Ordnung einzufügen. Nachdem diese Ordnung sich einerseits pluralisiert und andererseits dynamisiert hat, ist die Schule gezwungen, dieses Verhältnis neu zu interpretieren. In Umrissen beginnt sich hier eine neue Funktion von Schule abzuzeichnen, die mit dem Begriff Synchronisierung umschrieben werden kann. Diese Funktion kann unter zwei Gesichtspunkten beschrieben werden:

Einerseits ergibt sich aus der Sicht der Gesellschaft die Notwendigkeit, die Zeichen der Zeit zu deuten und darauf angemessen zu reagieren. Um dies in konsistenter Weise tun zu können, bedarf sie einer allgemein geteilten Vision darüber, in welche Richtung sie sich entwickeln soll. Sowohl hinsichtlich der Schaffung wie auch der Realisierung dieser Visionen ist die Schule als Sozialisationsinstanz von prioritärer Bedeutung. Pointiert ausgedrückt: die Zukunft unserer Gesellschaft steckt nicht in den Köpfen von Politikern oder Wissenschaftlern, sondern in unseren Schulen.

Andererseits sind die menschlichen Entwicklungspotentiale sind nicht unendlich. Gerade junge Menschen brauchen in Anbetracht einer sich permanent wandelnden Umwelt auch sichere Orientierungspunkte, sie brauchen Phasen des Innehaltens und Bewusst-werdens. Systemtheoretisch gewendet, sie benötigen nach Perioden des Aufbaus von Komplexität und Differenziertheit auch wieder Zeit zur Reduktion und Integration dieser Komplexität.

Bereits einleitend wurde darauf hingewiesen, dass der gesellschaftliche Wandel nicht per se ein Problem darstellen muss. Zum Problem kann allerdings werden, dass die Menschen vom vorgelegten Tempo überfordert werden, was zu internalisierenden wie externalisierenden Symptomen führen kann, das heisst zu körperlicher Krankheit, seelischem Leid wie auch zu asozialem Verhalten.

Der Schule – der neben der Familie wichtigsten Sozialisationsinstanz – stellt sich hier eine zentrale Aufgabe. Eine im Forschungsbereich Schulqualität und Schulentwicklung kürzlich durchgeführte Analyse der Lehrpläne in Schweizer Schulen deutet daraufhin, dass allenthalben die Zeichen der Zeit erkannt wurden.
Neben den fachlichen Zielen erscheinen nun auch folgende überfachliche Lernziele auf gleicher Augenhöhe: Eigenständigkeit, Handlungsfähigkeit, Gemeinschaftsfähigkeit, Toleranz, Wertschätzung, Lernkompetenz, Denken in Zusammenhängen, Dialogfähigkeit, Umweltkompetenz, Selbstakzeptanz und Selbstreflexion – um nur jene zu nennen, die in 22 oder mehr Kantonen erwähnt werden.

Vom Wissen zur Kompetenz

Damit zeichnet sich ein Paradigmawechsel ab, der sein Pendant in der sogenannten «kompetenzorientierten Wende» in der Weiterbildung findet. Dort ist man mittlerweile davon abgekommen, Bildungsprozesse auf fachlich-funktionale Qualifikationen einzugrenzen. Im Vordergrund steht heute eine Vernetzung von informellem und organisiertem Lernen in möglichst handlungsnahen und ganzheitlichen Lernarrangements. Dahinter steht die Einsicht, dass Fachwissen einerseits schnell veraltet und andererseits nur in Kombination mit personalen und sozialen Kompetenzen zu einem gelungenen Lebensentwurf beiträgt.

In der Persönlichkeitspsychologie kann diese folgenschwere Wende an den Begriffen der emotionalen, multiplen oder Erfolgsintelligenz abgelesen werden. «Was nützt ein hoher IQ, wenn man ein emotionaler Trottel ist?» fragt Daniel Goleman rhetorisch auf dem Umschlag seines EQ-Bestsellers.

Moderater im Ton fällt die Kritik am Intelligenztest des MIT-Professors Howard Gardner aus. Seiner Meinung nach ist es die Beschränkung dieses Tests auf quantifizierbare Merkmale, die ihn so untauglich macht für die Beurteilung von Kindern wie Erwachsenen. Gardner meint, dass diese eindimensionale Sicht der Verstandesmessung einhergehe mit einer entsprechenden Sicht der Schule («Schule im Einheitslook») und der Schüler, die fernab liege von dem, was im «wirklichen» Leben zählt. Deshalb stellt er den bekannten sprachlichen und logisch-mathematischen Intelligenzfaktoren weitere Faktoren zur Seite (räumliche, musikalische, körperlich-kinästhetische, interpersonale und intrapersonale Intelligenz), von denen er annimmt, dass sie zur Bewältigung realer Aufgaben mithin genauso bedeutsam sind wie die ersten beiden.

Jede Person verfügt über ein individuelles Profil bezüglich des Ausprägungsgrades dieser Intelligenzen, und Gardner meint, es müsse das Ziel der Schule sein, jeden Schüler bei der Entwicklung dieses Profils zu unterstützen. Das Multiple-Intelligence-Konzept ist in den USA bereits sehr populär geworden, und es gibt eine ganze Anzahl von Schulen, die es pädagogisch fruchtbar zu machen versuchen.

Ganzheitlich Beurteilen und Fördern

Die stärkere Konzentration schulischen Lernens auf Kompetenzen statt Wissen dürfte irreversibel sein und sich sogar noch verstärken. Im deutschen Bundesland Thüringen etwa wurde der ganze Lehrplan konsequent auf Kompetenzen hin strukturiert, wenngleich fachliches Lernen bedeutsam bleiben wird.
Die Diskussion um den IQ macht allerdings klar, dass eine ganzheitliche Lernorientierung mit der Selektionsfunktion der Schule in Konflikt geraten kann. Obwohl man um die notorische Ungenauigkeit und Subjektivität von Noten weiss, dienen diese noch immer als wichtigstes Selektionsinstrument beim Übertritt in die Berufswelt. Auch die grossen internationalen Leistungsvergleichsstudien beschränken sich bis dato auf das, was einfach zu messen ist, während überfachliche Kompetenzen noch kaum systematisch erhoben werden.

Dies alles hat natürlich Konsequenzen. Schülerinnen und Schüler merken sehr wohl, was belohnungsrelevant wird und was nicht; englische Schulen und deutsche Bundesländer spüren sehr direkt, was es heisst, in den publizierten Ranglisten hinter ihre Kontrahenten zurückzufallen, und richten sich darauf ein (teaching to the test). Dieser Backwash-Effekt unterläuft damit die offizielle Bemühung um kompetenzzentriertes Lernen, denn letztlich zählen dann doch wieder die Leistungen in einigen wenigen Fächern.

Wirksame Abhilfe kann nur durch eine Umstellung der ganzen Beurteilungspraxis im Schulwesen geschaffen werden. Formative Qualifikationsinstrumente sind hier das Gebot der Stunde, sei es in bezug auf Schülerinnen und Schüler wie auf Lehrpersonen. Modellcharakter hat hier beispielsweise der Versuch «Ganzheitlich beurteilen und fördern» im Kanton Luzern, der probeweise auf die ganze Primarschulzeit ausgedehnt wird und gänzlich ohne Noten auskommt.

Dieser Schritt ist letztlich nur konsequent: Wissen lässt sich abprüfen, nicht aber Lern- und Handlungskompetenz. Sie erschliesst sich nur im Gespräch zwischen Lernenden und Lehrenden, und dieses Gespräch setzt eine gewisse Dauer und Qualität der Beziehung voraus. Die Lernende Schule ist darauf ausgelegt, diese Voraussetzung zu schaffen.


LITERATUR


Dr. Xaver Büeler ist Leiter des Forschungsbereichs Schulqualität und Schulentwicklung am Pädagogischen Institut der Universität Zürich.


unipressedienstunimagazin Nr. 3/97


unipressedienst – Pressestelle der Universität Zürich
Nicolas Jene (upd@zuv.unizh.ch)
Last update: 21.12.98