Die Universität in der lernenden Gesellschaft

«Lebenslanges Lernen», «Weiterbildung», «die lernende Organisation» und «die lernende Gesellschaft» stellen positiv besetzte Begriffe in der öffentlichen Diskussion dar. Sie werden nicht nur von den Verantwortlichen der institutionalisierten Bildung verwendet, nicht nur von LehrerInnen oder Behördemitgliedern. Lebenslanges Lernen und die lernende Gesellschaft werden von Wirtschaftsfachleuten genauso wie von UmweltschützerInnen oder Generälen für eine wichtige Voraussetzung für die individuellen Karrieren und das Überleben der Gesellschaft gehalten.

VON KARL WEBER

Eine lernende Gesellschaft definiert sich durch eine hohe allgemeine Verbindlichkeit des Lernens. Nicht nur die Individuen sehen sich mit der Erwartung konfrontiert, ihr Lernen lebenslang zu organisieren. Auch Organisationen wie Schulen, Betriebe, Verwaltungen verstehen sich als Lernende, weil sie nur so den neuen Herausforderungen in Wirtschaft, Politik und Kultur begegnen können. Lernen lässt sich unter zwei Gesichtspunkten betrachten: Es kann eher instrumentell sein, insofern es den Erwerb von Fähigkeiten und Fertigkeiten meint, die notwendig sind, um sich in der Welt der Arbeit zu behaupten. Lernen kann aber auch einen Orientierungscharakter haben: Es ermöglicht, die Welt zu verstehen und mit andern zu interagieren (Barnett, 1996; 14).

 
Die Wissensgesellschaft erfasst alle: Jung und alt sind zum lebenslangen Lernen herausgefordert.

Druck und Zwang zum Lernen

Der Aufstieg der lernenden Gesellschaft ist gleichbedeutend mit dem Abstieg der Traditionsgesellschaft. Hat früher die Vergangenheit den Massstab für die Gestaltung der Zukunft abgegeben, so wollen heute die Menschen diese entwerfen, indem sie zwischen möglichst vielen Alternativen wählen. Die Chance, entscheiden zu können, betrachten sie als wesentlichen Aspekt des gesellschaftlichen Fortschritts. Zwar vollzog sich bereits in der Vergangenheit die gesellschaftliche Entwicklung immer im Rahmen individueller und kollektiver Lernprozesse – Wandel durch Lernen ist kein neues Phänomen –, neu an der gegenwärtigen Situation ist aber, dass der Druck auf Individuen und Organisationen, lernenzu müssen, zweifellos zugenommen hat und weiterhin zunehmen wird.

Der Zwang zum Lernen hängt mit dem Wandel von der Industrie- zur Wissensgesellschaft zusammen. Wissen ist zu einem Axialprinzip in der modernen Gesellschaft geworden (Bell 1973) und bestimmt die Entwicklung in Wirtschaft, Technologie und Sozialstruktur. Wer Zugang zu Wissen hat, dem eröffnen sich Chancen zum Erwerb gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Macht. Dauerhaft verfügt er über diese Chancen jedoch nur, wenn er sein theoretisches und praktisches Wissen kritisch reflektiert und weiterentwickelt.

Durchschlagskraft der Wissensgesellschaft

Die Wissensgesellschaft bildet nicht nur das Fundament für die weitere Expansion des Wissens, sondern vor allem auch für die immer wirksamere und raschere Umsetzung von neuem Wissen in die wirtschaftliche und gesellschaftliche Praxis. Dieser Prozess wird durch die Informations- und Kommunikationstechnologien, die für viele unterschiedliche Zwecke offen sind und gerade deswegen zu Recht als Schlüsseltechnologien gelten, unterstützt, beschleunigt und grossräumig verknüpft. Als Folge davon stellen wir den immer schnelleren technologischen, wirtschaftlichen und kulturellen Wandel in einer sich globalisierenden Welt fest.

Die Durchschlagskraft der Wissensgesellschaft ist umfassend. Sie durchdringt nicht nur die wirtschaftliche Sphäre, sondern auch die kulturelle, politische und private. Getragen wird dieser Prozess durch die weiterhin wachsende Zahl hochqualifizierter Menschen, die unsere Hochschulen verlassen und sich als Fachleute in der Arbeitswelt etablieren. Immer zahlreicher sind die HochschulabsolventInnen, die in verschiedensten Bereichen beratend und unterstützend tätig werden. Charakteristisch ist allerdings, dass diese ExpertInnen immer spezialisierter werden: Sie wissen immer mehr über immer weniger.

Schliesslich hat dank der Expansion des Bildungswesens das formale Bildungskapital (gemessen am Anteil der Abschlüsse pro Altersklasse) in der Schweiz wie in allen modernen Staaten ein historisch einmaliges Niveau erreicht. Was die Protagonisten für die Weiterbildung seit Jahrzehnten immer gefordert haben, ist in diesem historisch einmaligen Prozess der Expansion und der Globalisierung der Bildungswesen offenbar entstanden: Immer mehr Menschen haben gelernt zu lernen und sind auch bereit, sich für ihr eigenes Lernen verantwortlich zu fühlen.

Wissensgesellschaft und lernende Gesellschaft

Alle modernen Gesellschaften weisen einen wachsenden Weiterbildungssektor auf: Immer mehr Menschen beteiligen sich an der Weiterbildung. Die Anbieter von Weiterbildung werden nicht nur zahlreicher, sondern auch vielfältiger. Öffentliche, private und gemischtwirtschaftliche Träger treten nebeneinander auf. Weiterbildung ist gerade im beruflichen Bereich zu einer eigentlichen, auch wirtschaftlich interessanten, Dienstleistung geworden: Industrielle Betriebe verkaufen nicht nur neue Maschinen, sondern bieten mit diesen zugleich Weiterbildung an, die sicherstellt, dass die neuen technischen Möglichkeiten auch genutzt werden. Umwelt- und Frauenbewegungen bieten Weiterbildung an, um ihre Mitglieder mit den Zielen der Organisation vertraut zu machen.

Trotz dieses beträchtlichen Wachstums ist nicht das entstanden, was sich die Vorkämpfer für das lebenslange Lernen in den 70er Jahren gewünscht haben. Weiterbildung stellt keinen quartären Bildungssektor dar, der bezüglich Zielen, Zulassungsbedingungen, Dauer der Bildungsangebote, Zertifizierung, Qualifikationen der Lehrenden usw. übersichtlich und klar strukturiert ist. Einiges spricht jedoch dafür, dass Weiterbildung gerade dadurch ihr Potential entfalten kann, indem sie sich hochgradig in verschiedenen gesellschaftlichen Zusammenhängen ausdifferenziert, in Bildungs- und sozialen Institutionen, in Betrieben, Berufsorganisationen und in soziokulturellen Bewegungen. Innerhalb dieser Teilbereiche nimmt sie ganz bestimmte gesellschaftliche Funktionen wahr und bildet daher inhaltlich, curricular und organisatorisch eine grosse Vielfalt aus (Faulstich, 1993: 38f.). Zu Recht fragt man sich daher in der Forschungsliteratur, ob eine wie auch immer festgelegte und durchgesetzte Vereinheitlichung des Weiterbildungssektors faktisch nicht zu einem Abbau und zu einem Bedeutungsverlust führen würde.

In der Weiterbildung können Prozesse der Entgrenzung und solche der systemischen Einbindung beobachtet werden. In zeitlicher Hinsicht entgrenzend ist Weiter- und Erwachsenenbildung dort, wo sie einenTeil der Biographie bildet und über den ganzen Lebenslauf verteilt ist. Gleichzeitig ist sie auch örtlich entgrenzend, weil sie nicht mehr allein in den dafür spezialisierten Bildungseinrichtungen stattfindet, sondern auch am Arbeitsplatz, in der Freizeit, in der Familie, kurz an vielen Orten der individuellen Lebenswelt. Schliesslich ist Weiterbildung auch inhaltlich entgrenzt: Der Begriff franst in die Bereiche der Animation, der Beratung, des Sports, der Meditation usw. aus.

Weiterbildung als berufliche Pflicht

Gegenläufig zur Entgrenzung lassen sich Prozesse der systemischen Formierung erkennen. Hier dient Weiterbildung dazu, das Potential an Wissen und Können von Systemen, handle es sich um private Unternehmen oder öffentliche Verwaltungen, Krankenhäuser oder Schulen, zu mehren. Die gezielte Weiterbildung soll die jeweiligen Einheiten befähigen, neue Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln und damit ganz allgemein ihr Überleben sicherzustellen. Beispielsweise zeigen sich Unternehmen ausserordentlich flexibel und kreativ, wenn sie das betriebliche Know-how mehren wollen. Sie optimieren den Einsatz verschiedener weiterbildungspädagogischer Ansätze und Konzepte ziel- und situationsgerecht. Die Palette reicht von der Beschickung externer Seminare bis zur Intervision im eigenen Haus. Diese Praxis führt den MitarbeiterInnen zugleich klar vor Augen, dass Weiterbildung zur beruflichen Pflicht geworden ist, und zwar nicht nur für sie als Individuen, sondern für das ganze Unternehmen. Einiges deutet darauf hin, dass diese systembezogene Erweiterung von Wissen und Können immer wichtiger wird.

Selbstgesteuertes Lernen

Sowohl entgrenzende wie auch sich systemisch formierende Weiterbildung gelingen dann am besten, wenn die einzelnen in der Lage sind, ihr Lernen selber zu steuern. Selbstgesteuertes Lernen stellt eine Antwort sowohl des Individuums wie auch der Organisation auf die Explosion des Wissens, den Druck auf eine rasche Wissensnutzung und die Erosion traditioneller organisatorischer Muster dar (zum Beispiel kollektive Interessenvertretung in der Arbeitswelt; Weber,1996: 182). Die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien erweitern auch die individuellen Handlungsspielräume. Sie gestatten, Weiterbildung zeitlich, örtlich und mindestens teilweise auch inhaltlich nach Bedürfnissen und Möglichkeiten zu gestalten.

Auch in der lernenden Gesellschaft bleiben die Lernchancen weiterhin ungleich. Nicht alle haben die Möglichkeit, am Arbeitsplatz zu lernen oder sich die Freizeit im Sinne der rekurrenten Weiterbildung zu organisieren. Dazu kommt, dass die sozialen Lernmilieus zunehmend vielfältiger werden. Daher bleiben weiterbildungspolitische Rahmenbedingen, die sich am Konzept der mündigen und urteilsfähigen BürgerInnen orientieren, weiterhin ein Thema (Ranson, 1994; 106f.).

Universität und die lernende Gesellschaft

In der Wissensgesellschaft hat die Universität kein Monopol mehr auf Erzeugung und Vermittlung von Wissen. Dieser Verlust bildet die Kehrseite der geglückten Expansion der Wissenschaften. Folglich befindet sich die Universität heute in Konkurrenz mit privaten und andern öffentlichen Institutionen, seien dies Bildungseinrichtungen, Unternehmen, Medien oder auch Berufsorganisationen. Es stellt sich ihr daher die Frage, wie sie ihre Rolle in der Wissensgesellschaft definieren will. Sie wird klären müssen, was die Einzigartigkeit ihrer Leistungen ausmacht, worin ihre Stärken bestehen und besonders, wie sie die Studierenden auf ihre neuen Rollen in der Wissensgesellschaft vorbereiten will.

Die Universität versteht sich als öffentlicher Reflexionsraum, in dem die Erarbeitung von Wissen, der Erwerb wissenschaftlicher Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnisse und der Dialog ohne äusseren Handlungsdruck möglich sind. Dank öffentlicher Finanzierung ist die Universität in der Forschung, der Lehre und der Weiterbildung existentiell nicht ausschliesslich vom Markt abhängig. Diese Autonomie kann sie kreativ nutzen. Sie greift Fragen auf, die anderswo keinen Platz finden, und bearbeitet sie unter einer wissenschaftlichen Perspektive. Die Universität eröffnet Reflexionsmöglichkeiten, schafft Raum für den Dialog und die subjektive Aneignung von Wissen. Sie steht immer und notwendigerweise in einer gewissen Distanz zur Gesellschaft.

Kompetenter Umgang mit Wissen

In der Wissensgesellschaft wird sich die Universität, soll sie diese Aufgabe wahrnehmen, auch strukturell ändern müssen: Zentral wird sie die Frage zu beantworten haben, wie sie ihre Studierenden ausbilden will, die die Wissensgesellschaft mitgestalten. Dabei wird in Zukunft für die Studierenden die Fähigkeit zur fachübergreifenden Erzeugung von Wissen, zur Integration von Wissensbeständen aus unterschiedlichen Disziplinen und zur reflektierten Nutzung von Wissen einen grösseren Stellenwert haben als bisher. Die Befähigung zu einem kompetenten Umgang mit Wissen wird sinnvollerweise auch unter veränderten Studienbedingungen stattfinden. Namentlich wäre dafür zu sorgen, dass Studieren an der Universität künftig nach dem Konzept des lebenslangen Lernens möglich ist. Selbstverständlich wird die Universität zukünftig auch in der Weiterbildung kein Monopol haben. Als öffentlich finanzierte Bildungs- und Wissenschaftseinrichtung sollte sie jedoch auch in diesem Feld selbstbewusst und kompetent ihre Verantwortung wahrnehmen.


Literatur

Bundesamt für Statistik (1995), Weiterbildung in der Schweiz, EDMZ Bern.

Bell, Daniel (1973), The coming of the postindustrial society: A venture in social forecasting, Basic Books New York.

Barnett, Ronald (1996), Situating the learning University, in: International Journal of University Adult Education, No. 1, 13­27.

Faulstich, Peter (1993), «Mittlere Systematisierung» der Weiterbildung, in: Meier, A. /Rabe-Kleberg, U.(Hrg.), Weiterbildung, Lebenslauf, sozialer Wandel, Luchterhand Neuwied, 29­46.

Field, John (1996), Universities and the learning societies, in: International Journal of University Adult Education No.1, 1­11.

Ranson, Stewart (1994), Towards the learning society, Cassell New York.

Weber, Karl (1996), Selbstgesteuertes Lernen. Ein Konzept macht Karriere, in: GdWZ 7, 178­182.


Dr. Karl Weber (weber@kwb.unibe.ch, http://ubeclu.unibe.ch/kwb/MITARB.HTM)ist Professor an der Koordinationsstelle für Weiterbildung der Universität Bern.


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Last update: 09.07.97