Die virtuelle Universität: Wie wirklich wird sie sein?

Noch vor einigen Jahren hätte vielen die «virtuelle Universität» als ein Produkt der Phantasie, vielleicht sogar als Utopie gegolten. Mittlerweile wird an ihr gebaut: Schon stehen erste Teile, andere werden in Projekten entwickelt. Welcher Grundriss wird erkennbar? Welche Möglichkeiten zeichnen sich ab? Sind Veränderungen von Lehre und Studium an den traditionellen Universitäten zu erwarten?

VON TINO BARGEL UND FRANK MULTRUS

Die Grundlage für eine «virtuelle Universität» sind Computer und deren gegenseitige Vernetzung. Das hört sich einfach und wenig aufregend an. Die Folgen sind aber weitreichend, manche meinen revolutionär. Damit können Informationen jeder Art in Wort und Zahl als Bild oder Film zuerst gespeichert und dann von einem Computer zum anderen übertragen und empfangen werden. Schneller als in Windeseile, weltweit und zu jeder Zeit. Globale Verflechtungen ermöglichen den internationalen Austausch ohne Grenzen oder Zeitverschiebung.

 
Das Verhältnis von traditioneller zur virtueller Universität gilt es zu klären: Wie lassen sich Studienprogramme aufeinander beziehen und abstimmen?

Information und Kommunikation

Weshalb sind diese neuen Möglichkeiten für die Universitäten so herausfordernd? Weil Forschung und Lehre im Prinzip damit arbeiten, was Computernetze in besonderer Weise und rascher Zugänglichkeit anbieten: Informationen und Kommunikation. Denn Wissenschaft benutzt vorhandene Informationen im Rahmen ihrer Methoden, um neue Informationen über Natur, Mensch und Gesellschaft zu gewinnen: Erkenntnisse und Problemlösungen. Sie bedarf dazu der offenen Kommunikation und des kritischen Austausches – und zwar international. Deshalb eröffnen Computernetze für die Universitäten vielfältige Perspektiven – mehr noch als einst die Erfindung des Buchdrucks.

Das bekannteste globale Computernetzwerk ist das Internet – oft nur «das Netz» genannt. Innerhalb des Netzwerks stehen verschiedene Dienste zur Verfügung: Der gegenseitigen Information dient das World Wide Web (WWW) als multimediales Informationssystem. Vieles ist in ihm präsent und zugänglich: angefangen von einfachen Ankündigungen oder Mitteilungen bis hin zu ganzen Bibliotheken, schliesslich sogar Kurse und einzelne Lehrveranstaltungen. Der Kommunikation und Interaktion dienen die elektronische Post (E-Mail) und die Diskussionsforen (Usenet). Sie stellen die Basis für Fragen und Antworten, Diskussion und Debatten. Das einzige, was benötigt wird, um in diese elektronisch-virtuelle Welt einzutreten und in ihr selbst zu agieren, ist ein Computer und der Zugang zum Netz.

Hochschulen sind im Netz

Fast alle Hochschulen der Welt präsentieren sich im Netz. Sie informieren Studierende und Interessierte über Organisation, Lehre und Forschung, freilich in unterschiedlicher Ausführlichkeit. Die Fakultäten und Fachgruppen sind mit den wichtigsten Ansprechpartnern beschrieben. Darstellungen von Vorlesungsverzeichnissen und Prüfungsordnungen gehören vielfach schon zum Standard. Die Studierenden steuern ihren Beitrag oftmals über eigene Seiten mit Hinweisen zu den Fachschaften und über studentische Aktivitäten bei.

Auch Beratung kann man über das Netz einholen. Zwar werden bisher überwiegend nur die verschiedenen Beratungseinrichtungen vorgestellt. Doch es mehren sich die Angebote mit sehr ausführlichen Angaben über Studienvoraussetzungen, Studiengänge und Studienabschlüsse sowie über Auslandsstudium, Sprachkurse oder Graduiertenkollegs. Wer einen Hochschulwechsel oder ein Auslandstudium plant, kann sich schnell über die Hochschule seiner Wahl und ihre Studienangebote einen Überblick verschaffen, in welchem Land auch immer, und unter Umständen Anfragen stellen oder Anmeldungen vornehmen.

Die Möglichkeiten zur Recherche sind eine der wichtigsten Leistungen, die das Netz Lehrenden und Studierenden bietet. Im WWW finden sich mehr und mehr Artikel, sogar Bücher und Dissertationen, selbst Klausuren und Diplomarbeiten sind einsehbar. Aktuelle Forschungsnachrichten und Fachpublikationen werden immer häufiger ins Netz eingespeist. Recherchen in Bibliotheken, Archiven und Datenbanken über das Netz sind nicht nur spannend, sondern zugleich nützlich. Bei Prüfungen, Forschungsvorhaben oder Dissertationen lohnen sie sich in jedem Fall. Denn nirgendwo sind schneller und breiter Informationen oder Materialien zu erhalten.

Das Netz «spricht» englisch

Die weltweite Kommunikation über das Netz steht jedem offen. Die gegenwärtig über 9000 Newsgroups als Diskussionsforen befassen sich häufig mit wissenschaftlichen Fragen – aktuelles Beispiel: die ethischen Folgen des «Klonens» von Primaten oder Menschen mit Beiträgen von Professoren aus Harvard und Paris. Der Eintritt ins Netz stellt allemal eine gute Basis für internationale Kontakte dar. Eine Voraussetzung ist fast unabdingbar: Man sollte die englische Sprache beherrschen. Es entsteht in der Tat ein neues «Weltgefühl», wenn sich An- und Abfragen, Rückmeldungen und Kommentierungen aus Taiwan, Boston oder Kiew auf die eigenen, im Netz angebotenen Informationen einfinden.

Präsentationen und Recherche, Beratung und Austausch über Computer und Netz erweitern die Handlungsmöglichkeiten der Lehrenden und Studierenden beträchtlich. Allerdings entsteht erst dann eine «virtuelle Universität», wenn Lehre und Studium einbezogen, neuartige Lehr-Lern-Szenarien aufgebaut werden.

Lehre und Studieren

Eine wichtige Voraussetzung der «virtuellen Universität» sind Lehrangebote. Solche Lehr-Lern-Materialien als Vorlesung, Skript oder Lehrbuch ins Netz einzuspeisen stellt technisch kein grosses Problem mehr dar. Es bedarf aber einigen Aufwandes, um sie in geeigneter Form herzustellen. Unterschiedliche Kurse aus allen Wissenschaftsgebieten werden weltweit im Netz angeboten. Wollen Sie einen Frosch zerlegen? Dieser Eingangsübung können sie an der University of Virginia folgen. Übungen und Tutorien sind vermehrt interaktiv angelegt mit Betreuung und Unterstützung (zum Beispiel Grundkurs in Statistik, juristisches Tutorium, historische Methodenlehre).

Es scheint ein Missverständnis zu sein, dass solche Lehrangebote und Studiermöglichkeiten nur für bestimmte Fachgebiete angemessen seien. Zwar trifft es zu, dass manche Fächer mit grösserer Nähe zur Computerwelt früher und umfassender von deren Möglichkeiten Gebrauch machen. Betritt man die Baustelle «virtuelle Universität» und schaut sich um, finden sich heute schon alle Fachrichtungen vertreten. Das reicht vom Handbuch der Chirurgie und Skripten der Neurogenetik sowie Didaktik der Medizin über volkswirtschaftliche Simulationsmodelle, Altertumswissenschaften, Immobilienwirtschaft, Phonetik und Sprachtechnologie, Bibliographien zu Ovid, Oxidation und Reduktion in den Naturwissenschaften, Kommunal- und Verfassungsrecht.

TeleTeaching

Entwickelt und erprobt werden einzelne Vorlesungen oder ganze Vorlesungsreihen, die sich mittels Hochgeschwindigkeitsnetzen über Video übertragen lassen. Sie sind zeitgleich (live) oder zeitversetzt in den Hörsälen anderer Universitäten oder auch von einzelnen Studierenden am Bildschirm zu verfolgen. TeleTeaching heisst zumeist das Szenario, oft noch als Pilotprojekt. Auf «Lern-Servern» liegen ergänzend Studienmaterialien und Skripte bereit, deren sich die Studierenden bedienen. In Gruppen oder allein können sie sich an interaktiven Übungen beteiligen. Ihre Referate und Hausarbeiten speisen die Studierenden selbst ins Netz. Dort sind sie für die Lehrenden und Kommilitonen zugänglich. In manchen Fällen gibt es bereits Prüfungen, um zertifizierte Studienleistungen zu erlangen.

Ein weiterer Schritt in Richtung einer eigenständigen «virtuellen Universität» wird getan, wenn solche einzelnen Kurse und Vorlesungen zu Studiengängen gebündelt werden, mit Tests und Klausuren und darauf abgestimmten Lernmaterialien und Studierformen. Solche Lehreinheiten und Studiengänge kann man vereinzelt via Internet global belegen und absolvieren. Die GNA (Global Network Academy) mit Sitz in Texas war schon Anfang der 90er Jahren ein Vorreiter. In Deutschland befindet sich seit dem Sommersemester 1996 ein «Virtual College» im Aufbau. Beteiligt sind die Länder Berlin und Brandenburg.

Die möglichen Lehr-Lern-Szenarien in der «virtuellen Universität» werden letztlich sehr unterschiedlich aussehen. In einer Datenbank erfasste Vorlesungen, Übungen und Testbeispiele können Studierende für ihre Prüfungsarbeiten oder -vorbereitungen abrufen. Bei entsprechender technischer Ausstattung schalten sich die Studierenden über ihren Computer in eine laufende Vorlesung ein oder holen sich abgespeicherte Kurse auf den Bildschirm, auch zu Hause. In neuartiger Weise können sich die Studierenden direkt in Lehrprogramme interaktiv einschalten und somit den Ablauf individuell beeinflussen.

An europäischen Hochschulen ist die Kommunikation mit Lehrenden über den Computer (online) bisher noch selten. Anders in den Vereinigten Staaten, wo der Umgang zwischen Lehrenden und Studierenden, zum Beispiel über hochschulinterne Newsgroups zu Lehrveranstaltungen, sehr verbreitet ist. Fast jeder Lehrende und Studierende hat dort seinen Anschluss, über den er jederzeit zu erreichen ist und kommunizieren kann. Fragen und Antworten wie auch Literatur, Materialien und Aufgabenverteilung werden allen Beteiligten gleichzeitig zur Verfügung gestellt. Und mit den Lehrenden lassen sich zwanglos Termine und Aufgaben abstimmen oder Unklarheiten und Vorschläge besprechen.

Seine eigene Universität zusammenstellen

Die «virtuelle Universität» ist bereits Wirklichkeit – zumindest in Teilen. Täglich erweitert sich die Palette der Angebote im globalen Netz. An vielen Stellen wird an der Entwicklung von Studienmaterialien, Lernprogrammen, Beratungsdiensten gearbeitet.

Zwei Formen der «virtuellen Universität» gilt es künftig zu unterscheiden: Einerseits besteht sie als Konglomerat der weltweiten Angebote, die sich jeder zu seiner «Universität» zusammenstellen kann. Ein Studierender kann in den Bibliotheken von Boston und Zürich recherchieren, ein Tutorium in Saarbrücken benutzen, sich per E-Mail mit Kommilitonen in London und Hamburg austauschen, die Studienberatung in Konstanz konsultieren und sich an einem Grundkurs (mit Abschlusstest) in Berkeley, an einem Diskussionsseminar in Tokio beteiligen.

Andererseits entstehen eigene Institutionen im Netz, «Virtual College», «Network Academy» oder «Virtual University» genannt. Bei diesen kann man sich für einen Kurs oder ein ganzes Studium einschreiben. Meistens ergänzen sie das Studieren an herkömmlichen Universitäten. Sie stehen den eingeschriebenen Studierenden offen, können aber auch zunehmend von «Fern-Studierenden» genutzt werden. Inwieweit sie eine eigene «Studentenschaft» erreichen, die sich über die Welt verteilt und nur über das Netz verbunden ist, wird die Zukunft zeigen.

Abzusehen sind neue Wege der Kooperation zwischen Hochschulen, sei es bilateral oder in breiten Verbünden, um ihre Lehrangebote abzustimmen, Lehrmaterialien zu vernetzen und Lehrveranstaltungen «auszutauschen». Zu erwarten ist auch eine Öffnung der Fachbereiche, da jeder, auch aus anderen Fachgebieten und an anderen Orten der Welt, deren Informationen einsehen und nutzen kann. Für die Studierenden erweitern sich die Optionen in vielfacher Weise: bei der Wahl von Lehrangeboten sowie bei den Studier- und Lernformen – im Hörsaal, Internet-Cafe oder zu Hause.

Enthusiasmus, Zögern, Misstrauen

Ein wichtiger Faktor der weiteren Verbreitung ist gewiss die Akzeptanz durch Lehrende und Studierende. Manche sehen den Entwicklungen mit Enthusiasmus entgegen, andere mit Zögern oder sogar Misstrauen. Alle drei Haltungen sind verständlich. Denn neben den vielen Chancen, die sich für Lehren und Studieren über Computer und Medien eröffnen, bestehen Risiken und Probleme.

Ein Risiko betrifft die Seriosität der Information im Netz. Die Befürchtungen über Missbrauch oder Fälschung sind begründet. Die steigende Nutzung kann selbst zu Problemen führen, zu Überlastungen und längeren Wartezeiten. Weiterhin ist schwierig abzusehen, ob die freie Zugänglichkeit gewahrt bleibt. Ausserdem kann auch ein Übermass an Information und Angeboten problematisch werden. All diese Probleme dürften nicht geringer werden und Regelungen erforderlich machen. Solcher Regelungen bedarf es auch im Hinblick auf Fragen des Datenschutzes oder Urheberrechtes. Schliesslich darf man die beträchtlichen Investitionskosten in Studienprogramme nicht übersehen. Auch die regelmässige Aktualisierung der Angebote verlangt einen erheblichen Aufwand.

Verhältnis virtueller zu traditionellen Universitäten

Diese vorhandenen oder sich abzeichnenden Probleme mit dem Bedarf von Regelungen sind selbst ein Massstab für die Wirksamkeit der «virtuellen Universität». Je höher ihre Wirksamkeit im Sinne vielfältiger Angebote und breiter Nutzung, desto grösser wird der Regelungsbedarf. Zu klären ist das Verhältnis von virtueller zu traditioneller Universität: Wie lassen sich die jeweiligen Studienprogramme aufeinander beziehen und abstimmen? Ebenfalls wird zu klären sein, inwieweit Studienleistungen über das Netz in Kursen und mit Testaten an anderen Orten von der «Heimatuniversität» anerkannt werden.

Tragweite und Folgen der «virtuellen Universität», ihre Wirksamkeit in der einen wie anderen Weise lassen sich im einzelnen nur schwer vorhersehen. Nicht mehr rückgängig zu machen sind die Globalisierung und die prinzipielle Zugänglichkeit, die breite Entwicklung von Angeboten sowie die steigende Nutzung.


Dipl. Soz. Tino Bargel (Tino.Bargel@uni-konstanz.de)und dipl. Psych. Frank Multrus ( (Frank.Multrus@uni-konstanz.de)sind Mitarbeiter der Arbeitsgruppe Hochschulforschung der Universität Konstanz.


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Nicolas Jene (
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Last update: 09.07.97