Im Spannungsfeld der Wissensproduktion und Wissensvermittlung

[Formen der Wissensproduktion]

Die Produktion wissenschaftlichen Wissens ist längst nicht mehr auf die Universitäten beschränkt, sondern findet an vielen, heterogenen Orten und zwischen verschiedenen Institutionen statt. Zwar sehen sich die Universitäten noch als die primären Stätten der Wissensproduktion, vor allem in der Grundlagenforschung. Doch neue Herausforderungen kommen auf die Universitäten zu: nicht nur in der Wissensproduktion, auch in der Wissensvermittlung, in denen ihnen vielfältige Konkurrenz erwachsen ist.

VON HELGA NOWOTNY

Die Universitäten bringen nach wie vor den höchsten Anteil an wissenschaftlichen Publikationen hervor. Doch neben dieser hohen Sichtbarkeit an wissenschaftlichem Output und dem Beitrag, der dadurch für die wissenschaftlich-technische Entwicklung geleistet wird, haben die Universitäten eine andere Wirkung entfaltet, die in teilweise unbeabsichtigter Folge zur gegenwärtigen Veränderung der Wissensproduktion geführt hat. Diese liegt in der kumulativen Wirkung, die durch die Ausbildung einer wachsenden Zahl von AbsolventInnen erreicht wird, die weitreichende Veränderungen in der Art, wie Forschung praktiziert wird, nach sich gezogen hat.

 
Was ist und was soll gute Wissenschaft sein? Wo sind kreative Gestaltungssräume vorhanden, in denen sich individuelle Kreativität im Kontext der Zusammenarbeit entfalten kann?

In der Folge hat sich die Produktion von Wissen über die ganze Gesellschaft ausgebreitet. Forschungskompetenz und andere, für die Wissensproduktion wesentliche Fähigkeiten, haben in die verschiedensten Institutionen Eingang gefunden und zu einem erweiterten System der Wissensproduktion geführt. Es ist die Struktur und Dynamik dieses erweiterten Systems, das sich jetzt als genügend eigenständig und robust erweist, um auf das vorhergehende, weitgehend disziplinär organisierte Wissensproduktionssystem zurückzuwirken. Es ist das Wechselspiel dieser beiden Arten der Wissensproduktion sowie deren mögliche Verbindungen, die wesentlichen Einfluss auf die zukünftige Organisation der Universitäten und ihre Beziehungen zur Gesellschaft haben werden (Gibbons, Limoges, Nowotny, Schwartzman, Scott, Trow, 1994).

Wenn in der gegenwärtigen Situation die Grenzen zwischen wissensproduzierenden Institutionen fliessend werden, wenn es zunehmend schwieriger wird, bestehende Wissensmonopole zu erhalten, wenn keine der beteiligten Institutionen von sich behaupten kann, «nur» an einer Dimension der Wissensproduktion beteiligt zu sein und andere, mindestens ebenso wichtige, vernachlässigen zu können, wenn Wissenschaft weder Sache der Universitäten noch Technologie die Sache der Industrie sein kann, dann sind die Ursachen dafür paradoxerweise im Erfolg und nicht im Fehlschlag des bisherigen wissenserzeugenden Systems zu suchen. Doch als unbeabsichtigte Folge hat das disziplinär organisierte Wissensystem, wie es weitgehend im späten 19. Jahrhundert erfolgreich an den Universitäten institutionalisiert und in klarer Arbeitsteilung von anderen Institutionen getrennt wurde, vor allem in den letzten Jahrzehnten zu einer ungeahnten gesellschaftlichen Ausbreitung und Distribuierung von Wissen geführt. Da die Universitäten nach wie vor stark disziplinär organisiert sind, blieben die Aus- und Rückwirkungen ihres erfolgreichen Wissensexports lange im Schatten der quantitativen Expansion der universitären Bildung verborgen.

Wissenstransfer entsteht aus interaktiven Beziehungen

Zudem hat sich der gesellschaftliche Problemdruck stark erhöht. Probleme, «deren Disziplin wir noch nicht gefunden haben», wie dies Lorenz Krüger nannte – und die wir vielleicht niemals finden werden, weil sie nach verstärkter Zusammenarbeit über disziplinäre Fachgrenzen hinweg verlangen –, sind allgegenwärtig geworden. Sie zeigen auch sonst wenig Respekt vor anderen eingespielten Dichotomien. So ist an Stelle einer klaren Unterscheidbarkeit von «reiner» Grundlagenforschung und «angewandter» Forschung ein dynamisches Wechselspiel zwischen beiden getreten.

Wissenstransfer spielt sich längst nicht mehr in einer vorgezeichneten Richtung ab, sondern entsteht aus interaktiven Beziehungen zwischen Produzenten und Nutzern von Wissen, zwischen Instrumenten, Methoden und spezifischen Fertigkeiten, die in wechselnden Konfigurationen zueinander stehen. Ausserhalb der etablierten disziplinären Grenzen, die von klar erkennbaren, intern sowohl kognitiv wie sozial unangefochtenen wissenschaftlichen Eliten überwacht werden, sind transdisziplinäre Forschungsfelder entstanden. Sie stehen für eine andere Art der Wissensproduktion – die wir Modus 2 nennen (siehe Kasten) –, bei der bereits die Definition des wissenschaftlichen Problems im Kontext konkreter und daher wechselnder Anwendungen vorgenommen wird. Das so entstehende Wissen stammt aus heterogenen Quellen: Es wird jeweils neu in unterschiedlichen Forschungskonfigurationen produziert, wobei die Forschungsteams selbst oft nur für eine bestimmte Zeit zusammenkommen. Deutlich werden dabei jedoch herkömmliche disziplinäre und institutionelle Grenzziehungen unterlaufen. Diesen wechselnden Konfigurationen entsprechend steigt auch die Anzahl von Publikationen, an denen mehrere AutorInnen beteiligt sind, die noch dazu aus unterschiedlichen Institutionen kommen (Hicks & Katz, 1996).

Gute Wissenschaft im jeweiligen Kontext sehen

Diese Arbeitsformen bleiben nicht ohne weitere Auswirkungen. Neben das herkömmliche akademische Ethos sind längst andere Motivationen getreten, die ebenso beanspruchen, legitim zu sein, und neben wissenschaftlicher Neugier anderen, gesellschaftlich artikulierten Zielsetzungen Raum verschaffen. Damit treten freilich auch zusätzliche Kriterien bei der Beurteilung und wissenschaftlichen Qualitätskontrolle auf. Wie deren relative Gewichtung auszusehen hat, wie die unterschiedlichen Beurteilungskriterien zueinander in bezug zu setzen sind und was «gute Wissenschaft» in diesem Kontext bedeutet, welche Zeithorizonte und Zielvorgaben gelten sollen, stellen neue und teilweise ungelöste Anforderungen an das System der Qualitätskontrolle, das sich in seiner institutionellen und personellen Zusammensetzung ebenso verändert.

Globalisierung der Wissensproduktion

Durch die Ausweitung des Systems der Wissensproduktion und die gesellschaftliche Verteilung von Wissen an viele, heterogene Orte, an denen neues Wissen im Kontext konkreter Anwendungen produziert wird, entstehen völlig neue Verknüpfungen unterschiedlicher Problemkontexte. Die Interaktivität des Systems verdichtet und beschleunigt sich; die Globalisierung der Wissensproduktion nimmt ebenso zu. Diese Entwicklung erfasst nicht nur die Naturwissenschaften, sondern ebenso die Sozial- und Geisteswissenschaften.

Fähigkeit zum transdisziplinären Arbeiten

Für die Universitäten stellen sich dadurch eine Reihe von neuen Herausforderungen. Auf Grund ihrer disziplinär organisierten Struktur, die in der Ausbildung nach wie vor dominiert, fällt es ihnen zunächst schwer, sich in der Ausbildung einer transdisziplinären Arbeitsweise anzunähern. Einerseits soll nach wie vor so etwas wie disziplinäre Identität vermittelt werden – etwa die Fähigkeit der Studierenden, in dem von ihnen gewählten Fach erkennen zu lernen, was eine «gute» wissenschaftliche Frage ist. Andererseits sollen die Universitäten ihren Studierenden zunehmend auch die Fähigkeit zum transdisziplinären Arbeiten vermitteln und ihnen jenes «Paket» von Wissen, Fertigkeiten und sozialen Fähigkeiten mitgeben, die sie an einem unsicher gewordenen Arbeitsmarkt mit sinkenden Möglichkeiten einer vorhersehbaren und kontinuierlichen Karriere dringend benötigen werden.

Auch die Frage der curricularen Gestaltung stellt sich damit erneut: Wer soll hier – mit welcher Differenzierung und mit welchem Anteil an Transdisziplinarität – ausgebildet werden? Welchen berechtigten Erwartungen der Studierenden in einer durch Unsicherheit geprägten Welt ihres zukünftigen Erwerbslebens entspricht das aktuelle Angebot?

Doch Veränderungen im institutionell-universitären Bereich und in der Wissensproduktion insgesamt gehen nie ohne Veränderung in den epistemologischen Grundlagen und Einstellungen vor sich. Die Vorstellung von dem, was gute Wissenschaft ist und sein soll, die Bilder von Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit, mögen zwar schwer zu fassen sein, doch sie sind deshalb nicht weniger bedeutsam. In der gegenwärtigen Situation zeigt sich besonders deutlich eine Kluft zwischen Bild und Wirklichkeit. Sie verweist auf Spannungen und ungelöste Widersprüche: Wie weit kann man in eine oder die andere Richtung gehen, ohne unzumutbare Instabilitäten in Kauf zu nehmen? Wieviel Mobilität verträgt ein System? Wo liegt die Grenze bei Veränderungen, die notwendig sind, aber auch zu weit führen können? Und wo sind Gestaltungsräume vorhanden, die es zu nützen gilt?

Konkurrenz in der Wissensvermittlung

Die Universitäten sind heute aus vielerlei Gründen von gesellschaftlicher und kultureller Marginalität bedroht. In der Wissensvermittlung ist ihnen Konkurrenz durch die Medien erwachsen, und die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien bieten Zugang zu Information und Wissen an, der nicht orts- und institutionsgebunden ist. In der Wissensproduktion machen die geschilderten Veränderungen die Universitäten zu einer von mehreren Institutionen, in denen wissenschaftliches Wissen entsteht. Hier sind die Universitäten vor allem gefordert, sich vermehrt auf das zu konzentrieren, was ihre jeweilige Stärke darstellt, und zwar sowohl im Bereich der Ausbildung wie innerhalb der Forschung. In beiden ist mehr Flexibilität verlangt, eine Stärkung der Transdisziplinarität, ohne dabei zu vernachlässigen, dass diese nicht ganz ohne disziplinäre Grundlage auskommen kann.

In einem auf verstärkte Zusammenarbeit ausgerichteten System der Wissensproduktion muss eine Reihe von Grundannahmen überdacht werden. Schafft die Wissensproduktion nach Modus 2 mehr kreative Räume, wobei sich individuelle Kreativität auch erst im Kontext der Zusammenarbeit entfalten kann? Was bedeutet die Annäherung an die vom Markt geforderten Kriterien? Wo liegt hier die Grenze, und wie weit soll auf andere Anforderungen eingegangen werden, vor allem wenn der kurzfristige ökonomische Nutzen im Vordergrund steht? Welches Bild von Wissenschaft und welches zeitgemässe Verständnis der Beziehung zwischen wissenschaftlicher Praxis und ihrem epistemologischen Kern brauchen wir, um überzeugende Argumente politischer, ökonomischer und kultureller Art zu entwickeln, weshalb die Öffentlichkeit auch im nächsten Jahrhundert Wissenschaft an den Universitäten und an anderen Orten fördern sollte?


Formen der Wissensproduktion
Wissensproduktion nach Modus 1 ist eine komplexe Verbindung von Ideen, Methoden, Normen, Praktiken, Instrumenten und institutionellen Voraussetzungen. Modus 1 ist aus der Suche nach allgemeingültigen Erklärungsprinzipien hervorgegangen und ist typischerweise in wissenschaftlichen Disziplinen mit ihren disziplininternen kognitiven und sozialen Hierarchien organisiert. Für viele stellt Modus 1 die Gesamtheit dessen dar, was als gute Wissenschaft zu gelten hat. Forschungsprobleme werden meist stark durch die Interessen der jeweiligen akademischen Gemeinschaft von Spezialisten bestimmt.

Wissensproduktion nach Modus 2 findet in den verschiedensten, oft sehr heterogenen Kontexten konkreter Anwendung statt. Statt nach disziplinären Kriterien zu operieren, ist die Forschung nach Modus 2 meistens transdisziplinär organisiert und beruht oft auf einer zeitlich beschränkten Teamarbeit. Modus 2 erstreckt sich über mehrere Forschungsfelder, die konkrete Form und Konfiguration der Zusammensetzung wechseln entsprechend häufig. Das Fehlen von wissenschaftlichen Hierarchien und der transdisziplinäre Arbeitsstil haben Folgen für die Kontrolle der wissenschaftlichen Qualität, da zusätzlich zur wissenschaftlichen Qualität andere Kriterien, die stärker auf gesellschaftliche Anforderungen reagieren, zu berücksichtigen sind. Modus 2 ist offener für solche Ansprüche und Erwartungen, reflexiver und in höherem Masse zu sozialer Rechnungslegung bereit. Die Problemstellungen sind weniger von vornherein vorgegeben, sondern werden von einem erweiterten und heterogenen Kreis von Praktikern in einem jeweils spezifischen und lokal verankerten Kontext gemeinsam definiert.


Literatur

Gibbons, M., Limoges, C., Nowotny, H., Schwartzman, S., Scott, P., Trow, M.

(1994): «The New Production of Knowledge». London: Sage.

Hicks, Diana M. and J. Sylvan Katz (1996): «Where is Science Going?» Science, Technology & Human Values, vol. 21, 379­406.


Dr. Helga Nowotny (nowotny@wiss.huwi.ethz.ch)ist ordentliche Professorin für Wissenschaftsphilosophie und Wissenschaftsforschung der ETH Zürich; Permanent fellow am Collegium Budapest und Professorin am Institut für Wissenschaftsforschung der Universität Wien.


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Nicolas Jene (
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Last update: 09.07.97