unimagazin Nr. 1/98

Ein Rite de Passage wie im Bilderbuch

Die Wiederholung von Gründungsfeiern ist ein typisches Element von Ritualen. Zum Beispiel der Dies academicus. Mit seinem festgeschriebenen Ablauf und den dazugehörenden Störfaktoren weckt er die Neugier des Religionswissenschaftlers.

VON FRITZ STOLZ

Der Dies academicus 1980 bleibt mir unvergesslich. Ich hatte zuvor elf Jahre in Deutschland verbracht – in einer Phase des universitären Aufruhrs und Traditionsabbruchs. Der Dies in Zürich aber war noch genau so, wie ich ihn in meiner Studentenzeit kennengelernt hatte, und gewiss war er auch zwei oder drei Generationen zuvor ganzähnlich gewesen. Ein stabiles Ritual also. Das muss die professionelle Neugier des Religionswissenschaftlers wecken; er wird nach der Struktur der Feier zu fragen und zu vergleichen beginnen. Wenn irgendwo, so ist er hier «teilnehmender Beobachter». Er muss nicht wie seinerzeit Bronislaw Malinowski zu exotischen Völkern fahren, sondern kann in seiner angestammten Welt mitmachen, seine Beobachtungen notieren und seine Assoziationen spielen lassen. Hier wird also ein Blick in die Werkstatt des Religionswissenschaftlers vermittelt, der sich an die Arbeit macht – und nicht etwa ein ausgereiftes Produkt seiner wissenschaftlichen Tätigkeit.

Studenten (25349 Bytes)«Und dann singen alle gemeinsam
die akademische Hymne, kräftig zuerst,
zwart sodann in der Strophe, die dem
schwachen Geschlecht gewidmet ist.»

Am Dies academicus wird die Stiftung der Universität begangen; Universitätsgesetz und -ordnung schreiben die Feier vor, unverrückbar am 29. April. Die Repetition von Gründungen ist ein typisches Element von Ritualen: Die Gründung von Tempeln, von Weltreichen, ja die Gründung der Welt wird an unzähligen heiligen Stätten rituell repetiert. Dazu werden die Mächte, welche den Kosmos bestimmen, versammelt, Götter und Menschen, der König und seine Amtsträger, die Krieger und die Untertanen.

Die Epiphanie des Rektors

In der kleinen und puritanischen Welt von Zürich spielt sich dies alles in bescheidenem Rahmen ab. Immerhin beginnt der Dies mit der Epiphanie des Rektors – behängt mit der goldenen Kette, begleitet vom Schwarm der Ehrengäste, unter denen sich immer etwas martialisches Feldgrau abzeichnet, empfangen vom Orchester, welches festliche Musik ertönen lässt.

Nun beginnen die Reden. Eigentlich würde der Religionsgeschichtler an einem echten Gründungsfest immer dieselbe heilige Geschichte erwarten, den Hieros Logos; tatsächlich sind die Rektoratsreden aber sehr unterschiedlich. Oder etwa doch nicht? Im Grunde wollen sie immer wieder dasselbe sagen: Dass die Wissenschaften im allgemeinen und die Universität Zürich im besonderen zum Wohle der Stadt, des Staates und der Menschheitüberhaupt forscht und lehrt. Dies ist der Mythos der Universität; aber der Mythos wird heute, wie Roland Barthes herausgestellt hat, nicht mehr erzählt, sondern angedeutet; man macht von ihm Gebrauch, ohne ihn selbst möglichen Angriffen preiszugeben.Ähnlich pflegt man an Weihnachten heute häufig nicht mehr die Weihnachtsgeschichte vorzulesen, sondern man erzählt irgendeine Weihnachtsgeschichte, welche auf die eigentliche Geschichte verweist.

Kritik und Heiterkeit der Stände

Nicht nur der Rektor spricht am Dies; auch die Ständevertreter kommen zu Wort. Praktisch immer machen sie auf Missstände aufmerksam: Da kommt all das zur Sprache, was an der Universität nicht stimmt, was traurig, bedenklich oder wütend macht. Früher gab es diesen Teil des Rituals noch nicht; ein unbefangener Zuschauer nimmt eine Demokratisierung des Rituals an: Jetzt haben auch die Minderprivilegierten etwas zu sagen. Der Ritualexperte sieht etwas tiefer. Er beobachtet den strukturellen Umschlag: Zuerst bringt der Exponent der Macht ein Idealbild der Universität zur Darstellung. Dann wird die Hierarchie umgedreht: Es kommt einer von unten und entfaltet das Zerrbild. Der universitäre Kosmos wird gewissermassen konstruiert und zerstört – um sich wieder neu zu konstituieren; ein Rite de Passage wie im Bilderbuch.

Die Studentinnen und Studenten bringen überhaupt einige farbige Tupfer in die dezente Gedämpftheit des Dies. Ganz unterschiedliche studentische Milieus sind vertreten, einmal als offizielle Vertretung des studentischen Standes, dann aber auch als Musikanten und Sänger. Die letzteren strahlen besondere Heiterkeit aus, die sich dann gern auf das Auditorium überträgt. Burschen heraus! Das hört das bejahrte Auditorium mit Vergnügen. Die Singstudenten tragen ihre Farben, vor allem aber ihre Käppis; hier wird Tradition augenfällig. Aber auch die eher progressiven studentischen Festbesucher markieren durch ihre Kleidung Distanz zur normalen bürgerlichen Garderobe, auch sie tragen gern irgendwelcheüberraschenden Accessoires. Ein Hauch von Karneval. Aber man täusche sich nicht: Alle Studierenden, die anwesend sind, gehören zum Establishment der studentischen Organisationen und Verbindungen. Die Abweichung von der Norm ist vorgesehen; das Ritualüberlässt nichts dem Zufall.

Ehre, wem Ehre gebührt

Kein Dies ohne Ehrung. Studentischer Scharfsinn und Fleiss wird prämiert, und die Fakultäten ernennen doctores honoris causa. Ist es ein Zufall, dass an der Stiftungsfeier Preise vergeben werden? Keineswegs. Zu einem Neujahrstag gehört ein Wettkampf, ein Kräftemessen; aus solchen Veranstaltungen sind schliesslich die antiken Olympischen Spiele hervorgegangen. Im Wettkampf werden Mächte der Konkurrenz, die leicht zerstörerisch werden können, gemessen und gebändigt. Den Sieg allerdings verleiht Zeus, der Unberechenbare. Deshalb wohl erklärt mancher Ehrendoktor in seiner Dankesadresse, dass auch mancher andere an seiner Stelle den Preis verdient hätte.

Jede anständige Feier mündet in ein Mahl aus. So auch der Zürcher Dies. Die geladenen Gäste sammeln sich nach dem ernsten Teil der Begehung zum gemeinsamen Essen und Trinken. Die Reden sind noch nicht zu Ende, aber sie werden jetzt etwas lockerer; lediglich die Äusserungen des Erziehungsdirektors verlangen grössere Aufmerksamkeit, denn ihnen vermag man vielleicht etwasüber die hochschulpolitischen Konstellationen des kommenden Jahres zu entnehmen – Orakel und Schicksalsbestimmungen gehörten schon im alten Mesopotamien zum festen Bestand des Neujahrsrituals.

Ein echtes Ritual rührt die Menschen an. Es erzielt diese Wirkung dadurch, dass es Ernst und Komik, Abgründiges und Lächerliches in einen ganz dichten Zusammenhang bringt. Und dies leistet der Dies academicus in geradezu vollendeter Balance. In seinem Rückblick nennt der Rektor die Namen der Verstorbenen. Ich kenne wohl jedes Mal den oder jenen, habe mit dem einen oder anderen zu tun gehabt in einer Kommission oder in einem fachlichen Kontakt – es ist auch schon vorgekommen, dass jemand von den Verstorbenen zu meinen Studenten gezählt hatte; das hat mich besonders berührt. Die Verstorbenen rücken mir jedes Jahr näher; sie gehören zu uns, ich werde einmal zu ihnen gehören. Keine Gründungsfeier ohne die Thematisierung dieser Zusammengehörigkeit. Der Rektor bittet nun dem Brauch gemäss, dass man sich zu Ehren der Verstorbenen erhebe. Alle tun es – aber es geht eigentlich gar nicht, die Konstruktion der Klappsitze und Schiebetische im Auditorium maximum der Uni Irchel gestatten es eben nicht; so krümmt sich jeder irgendwieüber seinen Sitz empor und um seinen Tisch herum. Ich sehe den oder jenen Kollegen, dessen Bewegungsapparat dieser Anforderung kaum gewachsen ist, ein Lachen kommt mich an; ich sollte es eigentlich nicht sehen, der Ernst der Situation lässt es nicht zu. Ich krümme mich, also bin ich – noch gehöre ich nicht zu jenen Zahlreicheren, die vor uns gewesen sind.

Rührung und Komik gelangen zu einem Höhepunkt am Schluss der Feier. Der Dirigent wendet sich dem Publikum zu. Das Orchester intoniert einen Eingangsakkord. Alle stehen auf – alle, bis auf die notorisch Progressiven, aber das wissen wir schon. Und dann singen alle gemeinsam die akademische Hymne, kräftig zuerst, zart sodann in der Strophe, die dem schwachen Geschlecht gewidmet ist, machtvoll und prestissimo zuletzt. So will es der heilige Brauch. «Gaudeamus igitur, iuvenes dum sumus!» krähen munter die greisen Kehlen. Noch verstehen die meisten, was sie singen; und für die, welche des Lateinischen nicht mehr mächtig sind, gelte als freie Übersetzung das eingängige magistrale Wort: «Freude herrscht!»


Dr. Fritz Stolz (fstolz@theol.unizh.ch) ist ordentlicher Professor für allgemeine Religionsgeschichte und Religionswissenschaft am Theologischen Seminar der Universität Zürich.


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Nicolas Jene (upd@zuv.unizh.ch)
Last update: 13.05.98