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Wieviel Rituale braucht der Mensch?

Rituale wirken angenehm vereinfachend und entlastend. Zugleich blockieren sie aber das selbständige Denken und stehen meist im Dienst der Unbewusstmachung von Problemen und Veränderungsmöglichkeiten. Am Beispiel der Stukturierung des  Geschlechterverhältnisses durch das Männerhaus lässt sich dieser Zusammenhang zwischen Ritualen und Herrschaft beschreiben.

VON MARIO ERDHEIM

Oft wird heutzutage das Fehlen von Ritualen beklagt und deren Wiedereinführung gefordert. Die Befürworter von Ritualen meinen, dass die gegenwärtige Unsicherheit und Orientierungslosigkeit aus dem Verlust von Ritualen resultierten, und hoffen, dass deren Wiedereinführung Würde und Ordnung wiederherstellen könnte. Zwar erkennen in der Regel auch sie, dass die Moderne an sich a-rituell ist. Es hat sich ein Säkularisierungsprozess vollzogen, der nicht nur die Kirchen betrifft, sondern auch andere soziale Bereiche, insbesondere Autoritätsstrukturen. Rituale dominierten das gesellschaftliche Leben, solange sie die Öffentlichkeit strukturierten. In dem Masse, wie die Religion ins Private abgedrängt wurde, zerbröckelten aber auch die Rituale. Mit Sigmund Freud könnte man sogar sagen, dass Rituale, die privat geworden sind, lediglich Zwangshandlungen darstellen. Am Beispiel des Männerhauses möchte ich im folgenden zeigen, wie die Ritualisierung von bestimmten Bereichen der Gesellschaft mit der Produktion von Unbewusstheit und falschem Wissen verknüpft ist.

Rituale (25442 Bytes)Männliche Adoleszenz bis in
unser Jahrhundert hinein:
mit Hilfe von Rituaeln inszeniert.

Struktur mit Tradition

Rituale sind Handlungsanweisungen, die quasi automatisch durchgeführt werden sollen. Sie lassen die Welt einfacher und überschaubarer wirken und haben dadurch einen entlastenden Effekt. In der Regel müssen Rituale bis zur Bewusstlosigkeit eingeübt werden und stehen infolgedessen in einem Gegensatz zum selbständigen Denken. Wenn das selbständige Denken ein Instrument der Suche nach Sinn ist, so ist das Ritual ein Mittel zur Durchsetzung eines Sinns, der nicht mehr hinterfragt werden soll. Da die Suche nach Sinn nicht berechenbar und ihr Ergebnis nicht vorauszusehen ist, wirkt sie immer auch destabilisierend. Diejenigen Bereiche der Kultur, die vor einem Wandel geschützt werden sollen, werden daher rituell durchreglementiert und können sich so ausserordentlich stabil erhalten. Wo wir auf derartige Verhältnisse stossen, befinden wir uns in der Regel in der Nähe von Männerhäusern, zum Beispiel von militärischen oder kirchlichen, oft aber auch von akademischen Institutionen.

Das Männerhaus ist eine Institution, die die erstaunlichsten Verwandlungen durchmachen kann, ohne sich in ihrem Kern zu verändern. Hinter Stammtischen, Schützenvereinen und Ärztegesellschaften, hinter dem Physik- oder dem Religionsunterricht verbergen sich Strukturen, die sich als unglaublich resistent gegen die Geschichte und ihren Wandel erwiesen haben; Strukturen, die eine Kontinuität über die verschiedensten Formen von Gesellschaft aufweisen. Wir finden sie bei Jägern und Sammlern ebenso wie in bäuerlichen feudalen und schliesslich auch in modernen Gesellschaften (vgl. Völger/Welck, 1990).
Aufnahme und Ausschliessung

Das Männerhaus ist zunächst ein politisches Phänomen: «In der vorkolonialen Zeit», schreibt Milan Stanek über das Männerhaus in Papua-Neuguinea, «stellte die Versammlung aller erwachsenen Männer im Männerhaus die höchste politische Gewalt dar. Sie war die höchste integratorische, integrative Leistung, der umfassendste Ausdruck der gemeinschaftlichen Existenz, und – gegen aussen gerichtet – die grösste Konzentration der kriegerischen Macht» (1987: 623). In seiner Symbolik, in den Mythen, die erzählt, und in den Ritualen, die feierlich aufgeführt werden, organisiert sich das Männerhaus wesentlich durch das Verhältnis zwischen den Geschlechtern und vermag infolgedessen die Sexualität in den Dienst der politischen Ordnung zu stellen.

Seine zeitliche Konstanz und sein Vorkommen in unterschiedlichsten Kulturen vermitteln dem Männerhaus und dem kulturellen Komplex, in dem es eingebettet ist, den Schein von Natur. Dieser Schein entsteht nicht zuletzt auch dadurch, dass sich das Männerhaus als Produkt, nicht aber als Produzent des Geschlechterverhältnisses ausgibt.

Die Einpassung der Individuen in die Institution des Männerhauses geschieht in traditionellen Kulturen vor allem während der Adoleszenz. Initiation, das heisst Einweihung in die Geheimnisse, die das Zusammenleben der Gruppe regeln, ist in diesen Kulturen der Prozess, der die Adoleszenz strukturiert. Während die heranwachsenden Männer mit verschiedenen Ritualen von der Gruppe aufgenommen werden, werden die junge Frauen von ihr ausgeschlossen. Durch diese Aufnahme- und Ausschliessungsprozesse enstehen die kulturspezifischen Erscheinungsformen von Männlichkeit und Weiblichkeit.

Im Dienst der Herrschaft

Einer der Höhepunkte der männlichen Initiation bestand in verschiedenen traditionellen Kulturen darin, dass den Jünglingen offenbart wurde, dass es die Geister, die ihnen bis anhin solche Angst bereitet hatten, nicht gab; dass diese Geister nur dazu dienten, die Frauen und Kinder zu ängstigen, um sie besser unter Kontrolle zu halten. Früher einmal, erzählen diese vor den Frauen geheimgehaltenen Mythen, da hätten die Frauen geherrscht, aber den Männern sei es durch List gelungen, die Macht zu erobern.

Unbewusstheit wurde hier zur Voraussetzung von Herrschaft. Dabei bedeutete «Unbewusstheit» nicht nur «Nichtwissen»: Die Männer mussten die Frauen ja glauben machen, dass es Geister gebe; sie mussten also falsches Wissen produzieren und es durch entsprechende Zeremonien als wahr erscheinen lassen. Dieses «Wissen» hatte die Funktion, alle Phantasien, Wünsche oder Wahrnehmungen der Frauen, die in Widerspruch zu denjenigen der Männer treten könnten, unbewusst zu machen. Es kam also zu zwei verschiedenen Arten von Adoleszenz: einer männlichen, die aktiv falsches Wissen produzieren und mit Hilfe von Ritualen inszenieren musste, und einer weiblichen, welche die Bereitschaft zum Glauben entwickeln musste.

Die gesellschaftliche Produktion von Unbewusstheit im Verhältnis zwischen Männern und Frauen kann als Modell für die Funktion des Unbewussten im Dienst der Herrschaft betrachtet werden. Mit zunehmender Klassenspaltung wurden ihre Mechanismen schwerer durchschaubar, gleichsam «naturhafter», und erfassten auch die herrschende Klasse selbst. Einst wussten die initiierten Männer immerhin noch, dass es die Geister, die sie den Frauen vormachten, nicht gab. Als das System der Herrschaft umfassender wurde, mussten jedoch zunehmend auch die Männer beziehungsweise die Mehrheit der Herrschenden, an das falsche Wissen glauben. Was aus dem Bewusstsein verbannt werden musste, war das gegenseitige Aufeinander-Angewiesensein der Geschlechter. Statt des komplementären Prinzips musste das hierarchische als Regulator für das Selbstwertgefühl eingesetzt werden. Selbst der Mythos, der von der früheren Herrschaft der Frauen erzählt, stellt die Asymmetrie, wenn auch eine umgekehrte, als einzig denkbares Modell dar.

Die Tendenz zur Unbewusstmachung betraf bei manchen Kulturen sogar das allen Offensichtliche, nämlich die gemeinsame Leistung beider Geschlechter bei der Schaffung neuen Lebens. «Den wichtigeren, ja letztlich entscheidenden Beitrag zur Sicherung der biologischen Reproduktion», schreibt Müller über die Zeugungstheorien der Wildbeuter, «leisten also ohne Frage die Männer.» Dennoch wurde bei Kinderlosigkeit die Schuld bei der Frau gesucht: «Dem Mann kann angesichts einer Anschauung, derzufolge er (…) zur Hauptsache lediglich für die Geistkinderübermittlung zuständig ist, eine physiologische Insuffizienz ja nur sehr bedingt angelastet werden. (…) Für die Frau dagegen stellt Unfruchtbarkeit (…) häufig eine vernichtende Schande dar» (1984: 74).

Was hier aufgebaut wurde, kann als massive Denkhemmung bezeichnet werden. Was ihr zugrunde liegt, ist die dem Neid des Mannes entsprungene Entwertung des Weiblichen und der Frau.

Kritik der Rituale

Eine Kritik der Rituale müsste bei ihrer Funktion im Dienst der Unbewusstmachung ansetzen. An der Frage nach der Unbewusstheit scheiden sich aber bekanntlich die Geister: Die einen betrachten Bewusstheit und die mit ihr einhergehende Aufklärung als zentrale Ursache für die schier unüberwindlichen Probleme unserer Zeit. Unbewusstheit erscheint ihnen als Quelle, in die wir nur zu tauchen brauchen, um wieder zu den Energien zu gelangen, die ein höheres Bewusstsein und die Kraft zur Lösung der anstehenden Aufgaben versprechen. Die zunehmende Verbreitung der Esoterik, die Hoffnung, aus den Ritualen ferner Kulturen Weisheit zu schöpfen, oder die Überzeugung, dank Astrologie das eigene Schicksal in den Griff zu bekommen, verweisen auf die erneute Wertschätzung des Irrationalen in unserer Gesellschaft.

Im Gegensatz dazu interpretieren die anderen, zu denen auch ich mich zähle, Unbewusstheit in erster Linie als ein Produkt von energieraubenden und gefährlichen Verdrängungen. Das Unerträgliche an der Realität, die Not, die Gefahren und Widersprüche ebenso wie die Unerfüllbarkeit mancher Wünsche können zwar in gewisser Hinsicht bewältigt werden, indem sie durch Verdrängung unbewusst gemacht werden. Das Unerträgliche ist dann scheinbar verschwunden, und man braucht an der Realität nichts zu verändern. Das Problem ist aber, dass das Verdrängte nicht verschwindet, sondern unter vielerlei Masken wiederkehrt. Verdrängten Gefahren ist man in Tat und Wahrheit nicht ausgewichen, sondern auf unkontrollierbare Weise sogar näher gerückt und in höherem Masse ausgesetzt.


Literatur


Dr. Mario Erdheim ist Psychoanalytiker in Zürich und Privatdozent an der Universität Frankfurt am Main.


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unipressedienst – Pressestelle der Universität Zürich
Nicolas Jene (upd@zuv.unizh.ch)
Last update: 13.05.98