unimagazin Nr. 1/98

Le rituel pour le rituel?

Sind Rituale sinnlos? Die meisten Ritualtheoretiker beschäftigt diese Frage, und sie beantworten sie, je nach Standpunkt, unterschiedlich. Die einen sehen in Ritualen Möglichkeiten zur Krisenintervention, die anderen betonen ihren stabilisierenden Wert und dritte ihre performative Seite. Es gibt aber nicht wenige Ritualforscher, die dazu neigen, die Eingangsfrage mit Ja zu beantworten. Was aber, wenn gerade die Bedeutungslosigkeit von Ritualen ihre Bedeutung ausmacht?

VON AXEL MICHAELS

Menschen lassen sich – in weltweit einigermassen ähnlichen Verfahren – initiieren (firmen, konfirmieren), verheiraten, beerdigen. Sie opfern, halten Messen ab, singen lange Litaneien. Nach immer gleichen Mustern zelebrieren sie Geburtstage, Jubiläen, Prüfungen, weihen Kinder, Häuser, Schiffe. Das alles soll ohne Bedeutung sein? L’art pour l’art? Le rituel pour le rituel? Man kann es sich kaum vorstellen. Und doch mehren sich Theorien, die genau diesen Dadaismus des Rituals betonen.
Schon immer gab es mit einem verschämten Seitenblick auf den Menschen als Tier Verdachtsmomente. Auch diese wiederholen stereotyp Handlungen, ohne kognitiv zu wissen, was sie tun, ohne Bewusstsein. Dann kam Professor Frits Staal, der die Botschaft von «The Meaninglessness of Ritual» 1979 geradezu verkündete. Und 1994 wiederholten, wenn auch modifiziert, die Sozialwissenschaftlerin Caroline Humphrey und ihr Kollege James Laidlaw die These.

Alle drei Autoren entwickelten ihre Thesen an indischem Material, Staal am vedischen Ritual der Feueraltarschichtung, agnicayana, Humphrey und Laidlaw an einer Untersuchung über die jainistische puja, eine Art Gottesdienst. Ein religionswissenschaftlich arbeitender Indologe darf sich also angesprochen fühlen. Ich halte dagegen und behaupte: Kein Ritual ohne Bedeutung!

Wettstreit der Ritualtheorien

Die meisten Ritualtheoretiker wetteifern um den Sinn von Ritualen. Bei ihren Rennwagen gibt es drei Modelle in vielen Farben (Extraausstattungen nicht berechnet). Die Modelle sind funktionalistisch, bekennend (konfessionalistisch, theologisch) oder formalistisch. Die Position der Funktionalisten ist: «Ein Auto ist ein Nutzfahrzeug», die Position der Bekennenden: «Ein Auto ist ein Mythos», die Position der Formalisten: «Ein Auto ist ein Kurzwort für ‹Automobil› oder «Ein Auto ist ein motorisiertes Fahrzeug; ob es fährt, warum es fährt und wohin es fährt, interessiert uns nicht.»

Funktionalistische Theorien sind meist psychologisch oder soziologisch ausgerichtet. Psychologische Theorien (Bronislaw Malinowski oder Sigmund Freud) betonen oft den angstreduzierenden Anteil: Rituale sind Krisenintervention. In soziologischen Ritualtheorien (Emile Durkheim oder A.R. Radcliffe-Brown) liest man, dass Rituale solidarisierend, kontrollierend, hierarchisierend, stabilisierend, rebellierend sind: Rituale sind Bündnisse. Bekennende Theorien (zum Beispiel Rudolf Otto oder Mircea Eliade) sind im Grunde religiös; sie behaupten, dass Rituale transzendieren, mythisieren, überhöhen: Rituale sind Hierophanie. Formalistische Ritualtheorien heben die Technik der Rituale hervor, untersuchen vornehmlich die Sprache (Staal oder Stanley Jeyaraja Tambiah), Symbole (Leo Frobenius oder Jürgen Jensen), Kommunikation (Douglas oder Edmund Leach) und Performanz oder Dramatisierung (Victor Turner), weichen aber der Frage nach dem Sinn eher aus: Rituale sind reine Aktivität. Das Problem liegt vor Augen: Wem darf man trauen?

Fünf Komponenten von Ritualen

Es sei gegen die postmoderne Beliebigkeit gesagt: Man kann Rituale von nichtritualisierten Handlungen unterscheiden. Catherine Bell etwa trennt kaum zwischen Routine und Ritual. Auch wenn es mühsam ist: Nicht jede habituelle Handlung (Hände schütteln, Zähne putzen, den Hund Gassi führen) sollte ein Ritual genannt werden. Der Prüfstein ist die religiöse Komponente: Ist sie vorhanden, dann ist ein Handlungskomplex ein Ritual, sonst Gewohnheit, Spiel, Brauchtum oder Zeremonie. Im einzelnen braucht es nach meinem Verständnis fünf Komponenten für die Definition eines Rituals:

1.    Der Anlass
Rituale stehen mit zeitlichen oder räumlichen Veränderungen, lebenszyklische Rituale mit biologischen, körperlichen oder altersbedingten Wechseln in Beziehung: Hauseinweihungen, Prüfungen, Arbeitsbeginn oder -ende, Tages-, Jahres- und Ortswechsel, Namensgebungen, Geburt, Initiation, Heirat und Tod. Ich nenne diese Komponente causa transitionis.

2.    Der Beschluss
Es bedarf eines förmlichen, in der Regel sprachlichen Beschlusses zur Durchführung des Rituals: Schwur, Versprechen, Gelübde, Eid (in indischen Ritualen: sakalpa). Die spontane, zufällige, willkürliche Feier eines Wechsels ist kein Ritual. Eine hinduistisches Ritual ohne sakalpa ist wirkungslos. Ich nenne diese Komponente solemnis intentio. Gerade die Intentionalität von Ritualhandlungen ist umstritten; Humphrey und Laidlaw bestehen darauf, dass rituelle Handlungen «nonintentional» seien. Nur die solemnis intentio sondert aber Handlungssegmente aus dem Gewohnten aus, indem sie die Veränderung ins Bewusstsein ruft. Daher findet meist auch ein Wechsel der Sprachebene statt: Im Ritual werden aus Blumen Ritualblumen, aus Wasser Ritualwasser, aus Reis Ritualreis. Die solemnis intentio ist mit der Werbung im Fernsehen vergleichbar: Sobald der kommerzielle Unterbruch der Sendung angezeigt ist, sind die Inhalte der Werbespots unerheblich, um sie als solche zu erkennen.

3.    Die Form
Rituelle Handlungen müssen formale Kriterien erfüllen. Sie müssen a) förmlich, stereotyp und repetitiv (und damit nachahmbar), b) öffentlich und c) unwiderruflich sein; in vielen Fällen sind sie auch d) liminal. Sie dürfen also nicht spontan, privat, widerrufbar, singulär und beliebig für jedermann sein. Die Förmlichkeit zeigt sich in Kodifizierung, Repetitivität, Normativität und Präskriptivität. Rituelle Handlungen sind nicht zweckrational, man kann sie nicht einfach abändern, um ein Ziel besser, schneller oder billiger zu erreichen: die Taufkerze mit dem Feuerzeug anzünden. Förmlichkeit bildet daher ein zentrales Kriterium in allen Ritualdefinitionen.

Rituale können keine Privatveranstaltungen sein. Prinzipielle Öffentlichkeit im Sinne von Intersubjektivität – und sei es ein kleiner Geheimzirkel – ist demzufolge ein weiteres unabdingbares formales Kriterium. Man kann Rituale nicht nur für sich machen, wenn sie dem Prinzip nach nicht auch jeder andere nachahmen kann. Kunst ist kein Ritual.

Schliesslich sind Rituale unwiderruflich und wirken unabhängig von ihrer Bedeutung: ex opere operato. Man kann sie nicht rückgängig machen. Dazu bedarf es eines neuen Rituals.

Manche Rituale haben neben diesen drei strikten, formalen Kriterien noch das Merkmal der «Liminalität» (von lateinisch limen, «Grenze»), ein Ausdruck von Victor Turner. Er meint damit die nichtalltäglichen, reversiven, paradoxen, teilweise absurden und spielerischen Anteile von Ritualen, die besonders in den lebenszyklischen Grenzsituationen inszeniert werden.

4.    Das Motiv
Fast jede rituelle Handlung kommt auch in einem gewöhnlichen Kontext vor. Ob aber die Handlung «Wasser ausgiessen» gemacht wird, um eine Statue zu putzen oder sie zu weihen, ist nicht allein aufgrund von diesen äusserlichen, formalen Kriterien zu entscheiden, sondern hängt von «inneren», motivbezogenen Kriterien ab. Ich unterscheide hierbei drei modale Handlungskriterien, die ich «Communitas», «Individualitas» – ein Kunstwort – und «Religio» nenne und die, wenn auch unterschiedlich intensiv, gegeben sein sein müssen.

Unter «Communitas» verstehe ich – anders als Turner, von dem auch dieser Begriff stammt – alle eher auf die Gemeinschaft bezogenen Funktionen eines Rituals: Solidarität, Hierarchie, Kontrolle oder Normierung. «Individualitas» bezeichnet eher auf den einzelnen bezogene Handlungsaspekte wie Angstlinderung, Erfahrungen oder Spielfreude, Lust und Unlust. «Religio» umfasst die transzendierenden, auf eine jenseitige, höhere, geheiligte Welt (vita perennis) bezogenen Intentionen, also das, was etwa bei Clifford Geertz «Aura von Faktizität» oder bei Rudolf Otto das «Numinose» heisst.

Mit Religio erhalten alltägliche Handlungen Erhabenheit, wird das Unveränderliche, Nichtindividuelle, Nichtalltägliche Ereignis. Auch dieses Kriterium ist strittig geworden, weil es Ritual mit Religion verbindet. Obgleich viele Menschen beide Begriffe nahezu unterschiedslos verwenden, sind die Probleme der Definition von Religion hinderlich. Dennoch meine ich, dass Rituale nur mit Religio (nicht gleichzusetzen mit Religion) von blosser Routine zu trennen sind. Ich folge damit Durkheims Diktum «On ne peut donc définir le rite qu’après avoir défini la croyance», das Malinowski übernahm: «Es gibt (...) Ritual ohne Glauben.» «Religio» ist für mich daher das Bewusstsein, dass die Handlungen gemacht werden, weil ihnen ein transzendentaler Wert zugemessen wird. In den meisten Fällen liegt dann ein theistischer, dämonistischer oder auch dynamistischer Glaube an überirdische Wesen beziehungsweise Mächte zugrunde. Aber es reicht auch der Glaube an irgendeine Art von Überhöhung, etwa die Gesellschaft oder das Geld. Es ist nicht nötig, dass jeder Ritualteilnehmer diesen Glauben haben muss, sondern nur, dass Religio im Handlungskomplex nachweisbar sein muss; meist ist dies durch die solemnis intentio der Fall.

5.    Der Wechsel
Schliesslich muss mit dem Ritual ein spürbarer Wandel eingetreten sein; man muss zum Beispiel eine vorher nicht gegebene Kompetenz oder einen neuen sozialen Status mit gesellschaftlichen Konsequenzen erworben haben. Ein Schiff wird durch die Schiffstaufe zu einem getauften Schiff, ein Doktorand erhält den rechtlich geschützten Doktortitel.

Die Bedeutung der Bedeutungslosigkeit

Mit diesen fünf Komponenten lässt sich ein Ritual deutlich von Zeremonie, Spiel, Sport, Routine, Sitte und Brauchtum, Dramatisierungen oder ähnlichem abgrenzen, ohne einen theistischen Religionsbegriff oder die oft irreführende Unterscheidung zwischen profan und säkular voraussetzen zu müssen. Einige Beispiele: Im Spiel fehlt meist die Religio; eine kompetitive Ruderfahrt ist kein Ritual, sondern Spiel. Anders bei der alljährlichen Regatta zwischen Oxford und Cambridge: Da ist ein kleiner Anteil von Religio wohl vorhanden. In der Routine fehlt die Unwiderruflichkeit und der liminale Aspekt der Handlungen, in Sitte und Brauch die intentio solemnis.
Noch einmal zum Knackpunkt: Auch ich habe die formale, stereotype, bedeutungslose Komponente der Rituale betont und von der modalen bzw. intentionalen Komponente getrennt. Die Theorien von der Bedeutungslosigkeit der Rituale setzen genau hier an, und sie haben gute Argumente: Wenn Rituale beibehalten werden, obwohl sich zum Beispiel die Religion ändert, dann kann die Religion (der Glaube) nicht das Motiv für die Rituale sein. Doch kann die Behauptung, dass rituelles Verhalten völlig sinn- und funktionslos ist, nicht widerspruchsfrei aufgestellt werden. Denn dann wäre die nächste Frage: Warum ist es sinn- und funktionslos? Eine Antwort darauf wäre auch die Antwort auf die Ausgangsfrage.

Schon die Tatsache, dass Veränderungen eine Komponente der Rituale bilden, legt die Vermutung nahe, dass Ritualhandlungen mit adaptivem Verhalten zu tun haben, zum Beispiel Reaktionen auf Krisen sind. Die Frage der Angemessenheit und in diesem Sinne der Funktion bzw. Bedeutung eines solchen Verhaltens ist damit zwingend. Es macht keinen Sinn, sie nicht zu stellen oder einfach zu deklarieren, es gäbe Handlungen, die keine Funktion hätten. Allenfalls kann man sagen, sie haben keine unmittelbar aus dem Kontext oder im jetzigen Wissensstand erkennbare Funktion. Eine offene Frage ist jedoch keine sinnlose Frage. Wohl aber sind Theorien, die keine Antwort auf Fragen suchen, die sie selbst stellen, sinnlos.

Nach meinem Verständnis haben Rituale die Bedeutung, bedeutungslos zu sein, weil so Zeitlosigkeit, Unveränderlichkeit, Unsterblichkeit – eben «Religio» – für den sterblichen Menschen in Szene gesetzt werden kann. Also doch: Le rituel pour le rituel? Ja, diese Aussage stimmt, aber sie ist nicht ohne Bedeutung.


Literatur


Dr. Axel Michaels (axel.michaels@urz.uni-heidelberg.de) ist Indologe und Religionswissenschaftler am Südasieninstitut der Universität Heidelberg.


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Nicolas Jene (upd@zuv.unizh.ch)
Last update: 13.05.98