unimagazin Nr. 1/98

Solange Sonne und Mond scheinen

Wenn es um indische Tempelbronzen geht, greifen kunsthistorische Fragestellungen zu kurz. Zwar spielen ästhetische Aspekte eine wichtige Rolle, die Kraft der Götterfiguren liegt aber vor allem in ihrer Erleuchtung. Sie trotzen den Jahrhunderten, Unwettern und willkürlichen Beschädigungen. Auf den Spuren nach dem geheimen Leben von Bronzen.

VON CORNELIA VOGELSANGER

Als einzige Ausländerin nehme ich in Ahmedabad, einer Stadt im Westen Indiens, an einem dreitägigen Seminar über indische Sakralkunst teil. Es wird in der Sarabhai Foundation abgehalten, einer privaten Kulturstiftung, die neben anderen Kunstschätzen eine wertvolle Sammlung tamilischer Tempelbronzen beherbergt; deren früheste Exemplare stammen aus dem 8. Jahrhundert. Die meisten dieser in der Technik der verlorenen Form gegossenen und ziselierten Metallskulpturen stellen Gottheiten dar, einige porträtieren auch Stifter, Heilige und Fromme, die schon zu Lebzeiten oder erst nach ihrem Tode sozusagen göttlichen Status erlangt haben. Mir sind die Skulpturen von ihrem ehemaligen Standort in einem Privathaus vertraut; schon immer hat mich das intensive, gefüllte Schweigen beeindruckt, das von den bronzenen Gottheiten ausgeht. Heute sind sie in Museumsräumen von erlesener Einfachheit ausgestellt. Dass die meisten indischen Teilnehmer des Seminars angesichts der Tempelbronzen ihre Schuhe ausziehen, überrascht mich nicht in diesem Lande, wo die Götterbilder allgegenwärtig sind und wo die Grenzen zwischen heiliger und profaner Sphäre, und damit auch zwischen Tempel und Museum, oft verfliessen.

Shiva und Uwa (20859 Byte)Shiva und seine Frau Uwa,
zwischen ihnen ihr kleiner
Sohn Skanda, von dem nur
die Füsschen erhalten sind.
Südindische Tempelbronze
aus dem 11. Jahrhundert,
Chola-Zeit, ausgestellt in der
Sarabhai Foundation in
Ahmedabad, Indien.

Am Rande des Seminars, das sich um Herstellungsverfahren, um kunsthistorische Fragestellungen und um Tempelrituale dreht, mache ich mir Notizen zum geheimen Leben der Bronzen, dem die Wirksamkeit des Rituals zugrunde liegt.

Augenöffnen

Ein tamilischer Metallkünstler (Sthapati) führt uns in Etappen den traditionellen Herstellungsprozess vor. Beim Ziselieren sitzt er in der üblichen Handwerkerhaltung am Boden und hält den Rohling (die gegossene, aber noch unfertige Metallstatue) zwischen grosser Zehe und Fuss wie in einem Schraubstock fest. Nun gelten die Füsse in Indien als unrein, nicht im hygienischen, sondern im rituellen Sinn. Man achtet darauf, nicht mit blossen Füssen auf eine Respektsperson zu zeigen, geschweige denn etwas Heiliges zu berühren. Anderseits sind die Füsse ein unentbehrliches, vielseitiges Arbeitsinstrument – und die Götterstatue ist zu diesem Zeitpunkt ihrer Entstehung noch nicht viel mehr als ein Stück Metall in der Hand des Künstlers. Zwar wird die Herstellung einer Tempelbronze gemäss der Tradition von Anfang an von Ritualen begleitet, doch das entscheidende Ritual ist die «Augenöffnung». Sie erfolgt erst am Ende.

Das Ziselieren der Augen ist die letzte Handlung, die der Künstler an der Götterstatue vornimmt, und sie spielt sich im Tempel ab. Mit einer goldenen Nadel öffnet er symbolisch das rechte Auge (Sonne), mit einer silbernen das linke (Mond). Gleichzeitig rufen die Priester durch Gebete die göttliche Essenz – die «Weisheitsform» – in die Figur herab. Die Statue ist jetzt «erleuchtet»; durch ihre Augen blickt die Gottheit selbst in die Welt. Von nun an übernimmt der Priester die Verantwortung für die Statue, der nach der Augenöffnung täglich kultische Verehrung zuteil wird. Der Künstler dagegen wird nach der Augenöffnung geehrt, beschenkt – und entlassen.
Vor diesem Hintergrund ist eine dezidierte Reaktion des Sthapati zu verstehen, der soeben noch die Statue im Rohzustand mit seinen Füssen festgehalten hat: Eine Stunde später, als er in der Ausstellung aufgefordert wird, sich zur Qualität einzelner Tempelbronzen zu äussern, wehrt der sonst redefreudige Mann erschrocken ab: «Sie sind alle Götter. Wie könnte ich Götter beurteilen!»

Langer Weg ins Museum

Mich beschäftigt zunehmend der Status der ausgestellten Skulpturen. Sind die Bronzen nun Götter, oder sind sie es nicht mehr? Beruht die starke Wirkung, die von ihnen ausgeht, nur auf ästhetischen Gesetzen? (Nach indischer Auffassung manifestiert sich in der Essenz der ästhetischen Erfahrung das Göttliche selbst.) Oder wirkt hier noch eine andere Präsenz?

Es steht fest, dass diese Bronzen seit langer Zeit nicht mehr kultisch verehrt werden und dass sie alle, bevor sie an ihren gegenwärtigen Standort gelangten, durch die Hände von Händlern und Sammlern gegangen sind. Einzelne Statuen waren gar während Jahrhunderten in der Erde begraben und vergessen.

Bisher war ich davon ausgegangen, dass indische Götterbilder dann «aktiv» sind, wenn ihnen täglich kultische Verehrung dargebracht wird. Es kommt vor, dass eine Figur Schaden leidet, beispielsweise Kopf oder Arm verliert; dann ist sie nicht mehr geeignet, die göttliche Präsenz aufzunehmen, und wird durch ein neues Bild ersetzt. Ein beschädigtes Kultbild wird im Element Wasser entsorgt – «aufgelöst», wie der rituelle Ausdruck heisst.

Out-of-body-Erfahrungen

Oft habe ich in Indien an Ritualen teilgenommen, die darauf angelegt sind, die Gottheit für eine begrenzte Zeit in eine materielle Form einzuladen und sie dann wieder zu verabschieden, worauf die materielle Form – zum Beispiel eine Lehmfigur – zum Fluss gebracht und in den Fluten versenkt wird. Auch zerbrochene Stein- oder zerrissene Stoffbilder der Gottheiten kommen ins Wasser.

Und die Metallskulpturen? Da scheinen etwas andere Regeln zu gelten, denn sie werden unter Umständen repariert. In einem solchen Falle kommt die Götterfigur nochmals in die Hände (und zwischen die Füsse) des Sthapati, und das gereicht niemand zum Schaden, weil die göttliche Essenz zuvor mittels eines Rituals aus der Figur in einen daneben stehenden Wassertopf transferiert wurde. Dies ist eine temporäre Massnahme, gleichsam eine Out-of-body-Experience für den Gott, der nach vollendeter Reparatur sofort wieder in die Statue zurückkehrt.

Nach Abschluss des Seminars ergibt sich Gelegenheit zum Gespräch mit dem Hauptreferenten, R. Nagaswamy aus Madras. Er war viele Jahre als Archäologe für die indische Regierung tätig. Während dieser Zeit hat er über 25 000 Bronzestatuen aufgenommen, die heute noch in tamilischen Tempeln kultisch verehrt werden. Seiner Herkunft nach ist Nagaswamy – wie so viele indische Gelehrte – Brahmane, das heisst, er stammt aus der Kaste der Ritualspezialisten. Er kennt à fonds die heiligen Texte, welche die indische Sakralkunst seit alter Zeit in Einzelheiten festlegen. In einem Gerichtsfall, der Berühmtheit erlangt hat, vertrat Nagaswamy vor Jahren den Rechtsanspruch eines tamilischen Dorftempels auf eine Shivastatue, die im Kunsthandel in England aufgetaucht war. Seine Beweisführung stützte sich auf die in Sanskrit überlieferten Ritualtexte über Tempelbronzen. Obwohl der Gegenseite ein bedeutender Sanskritologe aus Oxford zur Verfügung stand, gab der englische Richter den Argumenten des indischen Archäologen recht und ordnete die Rückführung Shivas nach Indien an.

Schlafen die Götter?

Bei diesem Gerichtsfall ging es, wie mir erst im Lauf unserer Gespräche klar wird, nicht in erster Linie um Kunstraub und um illegalen Export. Es ging vielmehr um das Leben der Statue und um die Unwiderruflichkeit des Rituals. Der erleuchtete Zustand einer Sakralbronze lässt sich nämlich nicht rückgängig machen. «Solange Sonne und Mond scheinen» – diese Worte wurden einst bei der Augenöffnung ausgesprochen und bleiben über die Jahrhunderte gültig; keine menschliche Handlung kann daran etwas ändern.

Ich frage Nagaswamy nach dem Zustand der Figuren in der Ausstellung. Schlafen die Götter? Sie schlafen nicht, sagt der Archäologe bestimmt. Bei Tempelbronzen, die in der Erde begraben sind, könnte man von Schlafen sprechen. Die Figuren in der Ausstellung dagegen befinden sich in einem statischen Zustand. Sie werden nicht rituell verehrt, und das bedeutet, dass keine aktive Beziehung zwischen der Götterfigur und den Menschen besteht, die sie betrachten. Diese Beziehung könnte jederzeit wieder aufgenommen werden. Voraussetzung dafür wären Reinigungs- und Sühneriten, auch gewisse Riten der ursprünglichen Weihe müssten wiederholt werden – aber nicht alle, denn die Statue ist und bleibt lebendig.

Dann wäre es also sinnlos – da zur Zeit keine Beziehung besteht –, wenn jemand in der Ausstellung ein Gebet an eine dieser Statuen richten würde? Keineswegs, meint Nagaswamy. Wenn jemand die göttliche Präsenz in der Statue auch in ihrem gegenwärtigen, inaktiven Zustand wahrnehmen kann, dann entsteht augenblicklich eine Beziehung. Dann braucht es nicht einmal Riten. Riten sind nur Hilfsmittel. Wer ohne Riten die Beziehung zur Gottheit aufzunehmen vermag, hat das Ritual hinter sich gelassen.

Diese Antwort entspricht zutiefst dem indischen Denken, das sich seit jeher zwischen peinlich genau eingehaltenen Riten und völliger Freiheit hin und her bewegt. Die Verdinglichung des Göttlichen in der bildenden Kunst und in einer komplizierten Ritualwissenschaft bildet den einen Pol, den andern die Relativierung aller Riten durch die direkte mystische Erfahrung. In dieser ritualkritischen Tradition steht ein Gedicht eines Mystikers aus dem 12. Jahrhundert, der sich zu den südindischen Sakralbronzen äussert (übrigens die erste literarische Erwähnung der Cire-perdue-Technik):

Wie kann ich mich wohl fühlen
mit einem Gott, der Harz isst und schmilzt,
der angesichts des Feuers erschlafft?

Wie kann ich mich wohl fühlen
mit Göttern, die man in der Not verkauft
und die man aus Angst vor Dieben vergräbt?

Der Herr der zusammenfliessenden Flüsse (Shiva),
aus sich selbst geboren, eins mit sich selbst,
Er allein ist der wahre Gott.


«Ritual» oder «Zeremonie»?

In älteren Lexika der Ethnologie oder Religionswissenschaft sucht man das Stichwort «Ritual» oft vergebens. Allenfalls wird «Ritus» als einzelne rituelle Handlung definiert, wobei dann «Ritual» den ganzen, in sich geschlossenen Ablauf einzelner «Riten» bezeichnet.

In neuerer Zeit hat der Begriff «Ritual» eine Inflation erlebt, die sich auch in der Alltagssprache niederschlägt. «Ritual» wird oft synonym mit «Zeremonie» verwendet, einem weniger modischen, eher altbackenen Wort. Die Handlungsabläufe von «Ritual» und «Zeremonie» gleichen sich äusserlich, beide machen von Symbolen Gebrauch. Doch ihre Intentionen sind verschieden. Während die Zeremonie Bestehendes bestätigt, sich deshalb auch besonders dafür eignet, Status und Herrschaft darzustellen und zugleich zu bekräftigen, hat das Ritual immer einen dynamischen Aspekt. Es bewirkt Verwandlung – sei es eine vorübergehende, die am Ende des Rituals rückgängig gemacht wird, oder aber Verwandlung, die unwiderruflich ist.


Dr. Cornelia Vogelsanger ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Lehrbeauftragte am Völkerkundemuseum der Universität Zürich.


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Nicolas Jene (upd@zuv.unizh.ch)
Last update: 13.05.98