In den Weiten kindlicher Welten

Dem Kind mangelt es nicht an Interesse. Man analysiert seine Psyche, diskutiert seine Erziehbarkeit, müht sich um seine Gesundheit, ködert seine Konsumkraft. Mit dem Sammelband «Kind sein in der Schweiz» ergänzt der Zürcher Volkskundler Paul Hugger die oft segmentierenden Debatten um Kind und Kindheit mit kulturanthropologischen Vertiefungen.

VON LISBETH HERGER

 
Kind sein in der Schweiz. Eine Kulturgeschichte der frühen Jahre. Hg. von Paul Hugger. Offizin Verlag, Zürich 1998. 528 Seiten. 98 Franken.

Die einen erküren das 20. Jahrhundert zum Jahrhundert des Kindes, die andern verkünden zeitgleich das Ende der Kindheit; wiederum andere machen sich auf akribische Spurensuche, um kulturgeschichtliche Präzisionen in die Debatten einzubringen. Zu ihnen gehört der emeritierte Zürcher Volkskundeprofessor Paul Hugger.

Der von ihm herausgegebene Sammelband «Kind sein in der Schweiz» präsentiert ein «möglichst vielseitiges Panorama der Kindheiten in unserem Land», ist gedacht als kulturanthropologische Antwort auf eine gigantische Publikationsflut vorwiegend psychologischer und pädagogischer Provenienz.

Die Volkskunde hat sich bis vor kurzem wenig um die Kindheit als eigenständige Lebensphase mit entsprechenden Eigengesetzlichkeiten bemüht, konstatiert Paul Hugger, nun soll gezeigt werden, was inzwischen an Ergebnissen vorliegt. Ergänzend zu historischen Analysen haben aber ebenso aktuelle Debatten und Entwicklungen im umfangreichen Sammelband Aufnahme gefunden. Entstanden ist ein fünfhundert-seitiges Lesebuch, reich und eindrücklich bebildert, mit Beiträgen unterschiedlicher Qualität, ein kulturgeschichtliches Panoptikum, das mehr als nur den aktuellen Forschungsstand spiegelt.
Differenzierte Kindheiten

Da wird zum Beispiel mit

dem Mythos der Kindheit als Einheitserfahrung aufgeräumt, wird illustriert, warum es diese Kindheit als einheitliches Muster so gar nicht gibt. Kindheiten unterscheiden sich radikal, je nach Kultur, nach Epoche, nach Schicht. Im Europa der letzten Jahrhunderte war die Schichtzugehörigkeit massgeblich für die Ausgestaltung der Kindheitsphase. Das Bauers- und Handwerkerkind etwa wurde weit früher in das Arbeitsleben integriert als der Bürgerssohn; die halbwüchsigen Schwabengängerinnen aus Graubünden, die sich halbjahresweise im süddeutschen Raum verdingten, oder die spazzacamini, diese ausgemergelten Bübchen aus den Tessiner Bergtälern, die in den Nachbarsländern in die Kamine stiegen und sich so ihr Leben verdienten, hatten in ihrer Kindheit kaum Gemeinsamkeiten mit den wohlbehüteten Töchtern aus gutem Hause, denen in ihrem bürgerlichen Erziehungskorsett sogar das Klavierspiel zeitlich begrenzt wurde.

Heute dürften dagegen eher ethnisch bedingte Differenzen die Kindheiten am selben Ort zur komplett differenten Erfahrung werden lassen, vermutet der Herausgeber. Entsprechende Untersuchungen zur aktuellen Multikulturalität hierzulande stehen noch aus. Die historischen Beiträge allerdings über Kindheiten von jüdischen und jenischen Kindern illustrieren eindrücklich, wie entscheidend und sogar verheerend die ethnische Zugehörigkeit eine Kindheit prägen und zerstören kann.

Weit über die Familie hinaus

Dank der kulturanthropologischen Perspektive wird in Huggers Kindheitspanorama die Kindheit für einmal nicht schwergewichtig in ihrem familiären Rahmen diskutiert. Die ausserhäuslichen Wirklichkeiten, die ausserfamiliären Bezugspersonen und Institutionen sind breit und differenziert dokumentiert und ausgeleuchtet.

Von Hebammen und Ammen also ist die Rede, von der Geschichte des Kindergartens und der Volksschule oder
von der Entwicklung des Anstalts- und Heimwesens in der Schweiz, ein keineswegs dünnes Kapitel Kindheitsgeschichte hierzulande, auch wenn noch wenige Seiten davon wirklich geschrieben sind.

Oder dann wird der Blick auf die Welt der Bräuche und Riten gerichtet, auf die traditionellen Rites de Passage und ihre Veränderungen, wie also der Schulbeginn gefeiert wurde, einst und heute, oder wie der individualisierte Kindergeburtstag dem grossen Tag der Erstkommunion mit seinen kollektiven Riten längst den Rang abgelaufen hat. Wir finden aber auch Beiträge zu aktuellen Brennpunkten in der Kindheitsdiskussion: der Computer im Spielzimmer wird analysiert, das Kind als Medienkonsument verortet, ihm als Opfer gewalttägigen Miss-brauchs nachgespürt. Und auch wer sich für das Kind in der Kunst interessiert, findet die gesuchte literarische, filmische und bildnerische Analyse.

Schwierige Quellenlage

Kindheitsforschung müht sich mit methodischen Fallstricken eigener Art. Denn die Quellenlage ist dürftig. Aus früheren Zeiten finden sich vorwiegend Dokumente aus der Oberschicht, verfasst vor allem von Männern, meist gar von Klerikern, die selbst nie mit Kindern lebten. Das sind Zeugnisse von zweifelhaftem Wert, meist mehr normativ als beschreibend. Zudem richtet Kindheitsforschung den Fokus stets zurück in ein verschlossenes Land, in dem die Forschenden einst gelebt, in das sie aber nie wirklich zurückkehren können. Das verführt zu Projektionen. Der vorliegende Sammelband ermuntert zu Genauigkeit und weiteren Forschungstaten. Lisbeth Herger


unipressedienstunimagazin Nr. 3/97


unipressedienst – Pressestelle der Universität Zürich
Nicolas Jene (upd@zuv.unizh.ch)
Last update: 17.04.99