Von der unsicheren zur sicheren Lebenszeit

Für die lebensnotwendigen Verrichtungen, das zeigen demographische Untersuchungen, haben wir vor hundert Jahren etwa gleich viel Zeit aufgewendet, wie wir es heute tun. Was sich in diesem Jahrhundert radikal verändert hat, ist die frei verfügbare Zeit. Diese Verschiebung erfordert, gerade im Hinblick auf glückliche Tage nach dem Erwerbsleben, neue Lebensplankonzepte.

VON ARTHUR E. IMHOF


Zeitlose Versenkung und moderner Zeittakt. In den Tagen des Herzogs von Berry schrieben Gott und die Natur den Lebensplan.

Im Laufe der letzten vier-, fünfhundert Jahre vollzogen sich hinsichtlich unserer Lebensspanne zwei grundsätzlich unterschiedliche Entwicklungen. Zum einen haben sich die früher breit gestreuten Sterbealter immer mehr angenähert. Lag ihr Durchschnitt ehedem, mit enormen Abweichungen nach unten und oben, bei etwa dreissig Jahren, so liegen sie heute, stark gebündelt, zwischen etwa siebzig und achtzig Jahren.

Daraus lässt sich für den Einzelnen indes keine Garantie ableiten. Nach wie vor sterben nicht wenige Menschen vor ihrem Alter: an Aids oder anderen unheilbaren Krankheiten, an Unglücksfällen, an Suiziden.

Obwohl diese fundamentale Entwicklung von der unsicheren zur sicher(er)en Lebenszeit noch nicht am Ende angekommen ist (die sogenannte mittlere maximale Lebensspanne der Spezies Mensch scheint bei etwa 85 Jahren zu liegen), können wir doch schon heute wie nie zuvor in der Geschichte allgemein mit einem langen Leben rechnen. Es lohnt sich für uns, in das Leben in jeder erdenklichen Weise zu investieren.

Ein bisschen unsterblich

Zum andern ist das Leben im gleichen Zeitraum insgesamt unendlich kürzer geworden. Glaubten die meisten unserer Vorfahren (wahrscheinlich) an eine Auferstehung und das ewige Leben, so tun das heute (wahrscheinlich) nur noch die wenigsten von uns. Was aber ist eine Verdoppelung oder Verdreifachung der irdischen Lebensspanne beim gleichzeitigen Verlust des Glaubens an die Ewigkeit?

Als Folge dieser Entwicklung hat der Körper als Garant dieses dürftigen irdischen Rests eine ungeheure Aufwertung erfahren. Ist er nicht mehr, sind auch wir nicht mehr. Krankenhäuser sind an Stelle der ehemaligen Kathedralen getreten; «Götter in Weiss» an Stelle des ehemaligen lieben Gottes. Tatsächlich dürfen wir uns heutzutage «in den besten Jahren» (die mittlerweile schon Jahrzehnte umfassen) «mit einem gewissen Recht» erstmals bereits «ein bisschen unsterblich» fühlen.

Die im Gesundheitswesen Tätigen erfüllen ihren gesellschaftlichen Reparaturauftrag so effektiv wie nie zuvor. Früher machten Krankheiten als Fingerzeig Gottes einen Sinn. Was für einen Sinn sollten sie heute noch machen? Und doch wäre es oft die einzige Gelegenheit, in einem sonst turbulenten Leben zu sich zu finden.

Lebensplankonzept

Gewonnene Jahre sind nicht automatisch erfüllte Jahre. Wir müssen sie durch eigene Anstrengungen schon selbst zu solchen machen. Besonders irritierend ist in diesem Zusammenhang der starke Anstieg von Selbsttötungen im vierten Alter, also jenseits etwa von siebzig, fünfundsiebzig Jahren, vor allem bei den Männern, aber auch bei den Frauen.

Hierbei scheint es sich um eine historische Konstante zu handeln. Was dagegen beinahe explosionsartig zunimmt, ist die Zahl der Menschen in diesem Alter, das heisst das Ausmass der Risikopopulation. Allein zwischen 1871 und 1986 stieg der Anteil von deutschen Männern und Frauen, die mindestens siebzig Jahre alt wurden, um 300% bis 400%, der 80-jährigen um 600% bis 800% und der 85-jährigen um 1000% bis 1500%. Und ein Ende ist nicht abzusehen.

Immer mehr Menschen stossen im Zuge der Rektangularisierung der Überlebenskurven bis an die Grenzen der biologischen Lebenshülse vor. Vor diesem Hintergrund plädiere ich für die Realisierung eines Lebensplankonzepts.

Als Sozialhistoriker, der aufzeigt, wo wir derzeit stehen in einer laufenden Entwicklung, fordere ich angesichts einer «Gesellschaft des langen Lebens» die Gesellschaftspolitik zu massiver Hilfestellung bei der Umsetzung dieses präventiv gedachten Konzeptes auf.

Als Motto des Lebensplans könnte dienen: «Menschsein heisst, die von Anfang an in uns angelegte Spannung zwischen Werden, Sein und Vergehen zu akzeptieren, auszuhalten und aushaltend zu gestalten sowie den Tod zur rechten Zeit auf uns zu nehmen.»

Der Lebensplan ist somit kein Stundenplan für die einzelnen Lebensetappen. Vielmehr geht er davon aus, dass die meisten von uns ihr Leben erstmals von einem relativ kalkulierbaren Ende her leben und zielgerichtet organisieren können. Dabei sollen die unterschiedlichen Lebensphasen mit ihren voraussehbaren Stärken und Schwächen ab den jungen Erwachsenenjahren im vornherein so aufeinander bezogen und abgestimmt werden, dass man an jeder von ihnen Geschmack finden und Freude haben kann. Hierbei muss insbesondere auch bedacht werden, dass im vierten Alter die körperlichen Möglichkeiten nicht selten früher als die geistigen nachlassen, wenn diese ein Leben lang gepflegt wurden.

Der Lebensplan läuft diesbezüglich darauf hinaus, in sich oder/und anderen ab früher Jugend neben körperlichen auch geistig-musisch-intellektuelle Interessen zu wecken und kontinuierlich zu vertiefen. Niemand braucht im vierten Alter in eine entsetzliche geistige Leere zu stürzen (eine der ausschlaggebenden Ursachen der hohen Suizidraten).

Immer mehr gute Lebensjahre

Betrachten wir die Entwicklung unseres Lebenszeitbudgets im zwanzigsten Jahrhundert stellen wir fest, dass um 1900 von den damaligen durchschnittlichen 440 000 Lebensstunden je etwa ein Drittel auf lebensnotwendige Zeit (Schlafen, Essen und so weiter), Arbeitszeit und Freizeit entfielen. Um 1980 wurde von den 610 000 Lebensstunden noch immer etwa ein Drittel für die Lebensnotwendigkeiten benötigt. Das wird auch morgen bei etwa 700 000 Lebensstunden (entspricht achtzig Lebensjahren) nicht anders sein. Was jedoch prozentual wie absolut immer stärker zunahm und weiter zunimmt, ist die frei verfügbare Zeit (pro Tag, pro Woche, pro Jahr, pro Leben).

Das Konzept vom Lebensplan sollte uns nun dazu veranlassen, diese zunehmenden Kuchendiagramme mit der expandierenden frei verfügbaren Zeit nicht in erster Linie auf Bauchhöhe zu plazieren, das heisst, diese nicht nur für körperliche Belange zu nutzen, sondern auf Kopfhöhe. Neben Reisen, sportlicher Betätigung und anderem sollten von jungen Erwachsenenjahren an auch geistig-musisch-kulturelle Interessen gepflegt und vertieft werden.

Das Lebensplanmotto lässt sich um so eher erfolgreich umsetzen, wenn wir uns immer wieder bewusst machen, dass wir im Vergleich zu unseren Vorfahren keineswegs nur quantitativ mehr als doppelt so viele Lebensjahre zu unserer Verfügung haben, sondern auch qualitativ doppelt so gute Jahre. Anders ist das Ergebnis gar nicht zu erzielen: qualitativ und quantitativ bessere Ernährung, bessere Wohn- und Arbeitsbedingungen, bessere öffentliche und private Hygiene usw.

Bedacht werden sollte gleichfalls, ob uns diese Entwicklung nun passt oder nicht, dass im Zuge des Wandels von der unsicheren zur sicher(er)en Lebenszeit eine Freisetzung des Individuums von alten Zwängen stattgefunden hat, oder pointierter ausgedrückt: auch ein Wandel von der schlechten alten Zwangsgemeinschaft zum (guten) neuen Single.

Aus puren Überlebensgründen ist heute niemand mehr gezwungen, in irgendwelchen Formen von Gemeinschaft zu kuschen. Erstmals haben die meisten Männer genauso wie Frauen eine realistische Chance zur «Selbstverwirklichung», auf sich allein gestellt, allenfalls als Teilzeitgemeinschafter durchs Leben zu gehen. Was wunder, dass immer mehr diese Chance wahrnehmen. Dass diese Freistellung ihnen im Hinblick auf die Gesellschaft, deren Teil sie nach wie vor sind, die Wahrnehmung ganz neuer Aufgaben ermöglicht, ist selbstverständlich. Singles brauchen keine egoistischen Hedonisten zu sein.

Wer entsprechend dem Konzept vom Lebensplan die gewonnenen Jahre systematisch zu erfüllten macht, dem dürfte es am Ende auch leichter fallen, das Leben zur rechten Zeit loszulassen. Diese Ars vivendi ist somit nicht zuletzt auch eine zeitgemässe neue Ars moriendi: erfüllt leben – in Gelassenheit sterben.


Prof. Dr. Arthur E. Imhof promovierte 1965 an der Universität Zürich und ist seit 1975 Professor für Sozialgeschichte der Neuzeit an der FU Berlin.

Arthur E. Imhof nutzt das Internet konsequent als Publikationsmöglichkeit. Seine Schriften können unter http://www.fu-berlin.de/aeimhof/ abgerufen werden.


unipressedienstunimagazin Nr. 3/97


unipressedienst – Pressestelle der Universität Zürich
Nicolas Jene (upd@zuv.unizh.ch)
Last update: 17.04.99