Magazin der Universit?t Z?rich Nr. 2/96

Religionen begegnen sich in der Schweiz

VON GEORG SCHMID

Die Schweiz befindet sich auf dem Weg zur religiösen Multikultur. Zwischen den religiösen Gruppierungen findet jedoch noch selten eine echte Begegnung verbunden mit einem interreligiösen Dialog statt. Zweifellos ist Spiritualität heute gefragt. Und eine lebendige Spiritualität sucht die interreligiöse Beziehung. Es braucht dabei die Bereitschaft, sich auf Andersgläubige voll einzulassen, um voneinander lernen zu können.

Bild Ernst Hunziker



Mehr als 600 religiöse Organisationen bieten in der Schweiz religiöse Einsichten, spirituelle Erfahrungen, Gemeinschaft im Glauben und Lebenssinn an. Das Angebot umfasst esoterische Kurse und Zirkel neoschamanistischer, neuheidnischer, neotantristischer, kabbalistischer, theosophischer oder gar okkultistisch-satanistischer Prägung, buddhistische Gruppen des grossen und des kleinen Fahrzeugs, Yogaschulen und Gurubewegungen, sufistische Trancemystik, islamische Reformbewegungen, Islam in unverrückbarem Gehorsam zum ein für allemal offenbarten göttlichen Willen und zur offenbarten Gesellschaftsordnung, synkretistische Experimente in neuer, umfassender Weltreligion, eigentliche Psychokulte, psychologistische Heilslehren und Gruppierungen, die heute besonders aktiven sogenannten klassischen Sekten aus dem letzten Jahrhundert, Gemeinschaften mit neuer Offenbarung, Uriella von Dozwil, Universelles Leben, spiritistische und christlich-spiritualistische Bewegungen,äusserst lebendige und aktive christliche und quasichristliche Gruppierungen charismatischer oder fundamentalistischer Prägung und die traditionellen Freikirchen und Landeskirchen. Wenn ein Nebeneinander der verschiedensten religiösen Strömungen schon als Multikultur bezeichnet werden kann, dann ist in der Schweiz der Gegenwart religiöse Multikultur in fast lückenloser Breite erreicht. Ich kenne keine einigermassen bedeutsame religiöse Strömung der gegenwärtigen Welt, die sich nicht irgendwo auch in unserem Land bemerkbar macht.

Mit welchem Recht aber nehmen wir an, dass ein Nebeneinander verschiedener Religionen schon Multikultur bedeutet? Kultur ist undenkbar ohne ein Miteinander verschiedener Charaktere, Begabungen, Ideen, Denkweisen und Erlebnismuster. Von religiöser Multikultur können wir in der Schweiz erst dort sprechen, wo das Nebeneinander und Gegeneinander zum Miteinander wird, wo die verschiedenen religiösen Gruppierungen miteinander in Dialog treten.

Begegnung der «Eliten»

Wie steht es mit diesem interreligiösen Dialog unter den mehr als 600 Organisationen und Gruppierungen in unserem Land? Der Dialog und mit ihm die offene und reflektierte Begegnung findet wenn wir die ganze Weite der religiösen Landschaft betrachten nur in Ansätzen statt. Einzelne zumeist gebildete Vertreter einzelner zumeist liberal gesinnter religiöser Strömungen sprechen gerne und auf hohem Niveauüber die jeweiligen Glaubensweisen und die in ihnen präsente Tradition. Aber ein grosser Teil religiöser Gruppierungen will sich gar nicht auf echte Begegnung mit Andersgläubigen einlassen. Sie inszenieren dauernd nur Scheinbegegnungen und Scheindialoge oder sie verweigernüberhaupt jede Begegnung. Sie missionieren oder schweigen. Tertium non datur. Die religiöse Vielfalt in unserem Land ist erst Multikultur im Werden. Zurzeit ist die Scheinbegegnung noch weit häufiger als der wirkliche Dialog, und wahrscheinlich müssen wir noch einen weiten Weg zurücklegen, bis Begegnung zum Normalfall und Scheinbegegnung zur Ausnahme wird.

Begegnung ohne Identität?

Wie kann ich anderen offen begegnen, solange ich mich selbst noch nicht gefunden habe? Ein grosser Teil der zeitgenössischen Religiosität ist ein intensives Suchen nach Geborgenheit und Identität. Der rapide Wandel in allen Lebensbereichenüberfordert den Menschen vielleicht nicht intellektuell, aber emotional. Wer bin ich? Was ist in dieser Welt noch gewiss? Wohin treiben wir? Die lebendige religiöse Gruppe schenkt mir vielleicht keine verstandesmässig plausibeln Antworten auf diese Fragen, aber intuitiv stimmige. In meiner religiösen Gemeinschaft fühle ich, wer ich bin und was wir sind und wozu ich bestimmt bin. Der Sinn dieser Welt und mein eigenes Wesen berühren mich in der religiösen Botschaft und in den Riten meiner Gruppe so direkt, dass mein Leben seine Bestimmung erahnt. Ein grosser Teil der zeitgenössischen Religion ist noch Religion im Werden, noch ein Suchen nach Identität, nicht erfüllte Religion, nicht ein Leben aus einer organisch entfalteten Mitte heraus.

Wie kann ich nun von dieser jugendlichen, noch aufbrechenden und nirgends angekommenen Religiosität erwarten, dass sie in interreligiösen Dialog eintritt? Sie kann das Anderssein des andern erst offen betrachten und bedenken, wenn sie das eigene Selbst entdeckt hat. Die noch nicht angekommene Religiosität der Gegenwart erfindet sich tausend Ausreden, um sich nicht offen und ernsthaft mit dem anderen Glauben des anderen beschäftigen zu müssen.

Ich habe sowieso schon die ganze Wahrheit. Ich kann in der Begegnung mit anderen diese reine klare Wahrheit aufweichen, einebnen, vernebeln, verlieren. Aber gewinnen kann ich nichts. Warum soll ich mich auf dieses Risiko des Glaubensverlustes einlassen? Ich missioniere den Andersgläubigen, aber ich hüte mich davor, mich irgendwo ihm anzunähern. Der religiös unsichere Zeitgenosse trägt seine Wahrheit wie ein Schild vor sich her. Er kann sich hinter dieser Wahrheit allzeit vor jeder wirklichen Begegnung schützen. Er missioniert, oder er entzieht sich. Aber er begegnet nicht. Vor allem im Gespräch mit engagierten jungen Gläubigen der verschiedensten Glaubensweisen und mit Einwanderergruppen aus anderen Kulturen begegnet mir diese Angst vor echter Begegnung. Wirkliche Begegnung verwandelt. Die Begegnenden beeinflussen sich gegenseitig. Sie lernen von- und miteinander. Die noch fehlende oder in unserer Zivilisation bedrohte eigene Identität zwingt wenn Begegnungen unbedingt sein müssen zu Scheinbegegnungen. Man trifft auf Andersdenkende mit dem erklärten Willen, nichts dazuzulernen.

Religion ohne Selbstkritik

Auch der in seiner religiösen Tradition scheinbar Verwurzelte ist noch nicht unbedingt begegnungsfähig. Eine offene Begegnung unter vielen Glaubensweisen ist ohne kritische Fragen und Rückfragen heute undenkbar. Jede religiöse Tradition hat im Verlauf ihrer Geschichte gerade in ihrer Liebe zu hohen Idealen soviel Schatten produziert und verdrängt, dass die Begegnung unter den Religionen diese Schatten nicht ausklammern kann. Bei weitem nicht alle religiösen Zeitgenossen können sich solche Rückfragen zumuten. Ihr Glaube war und ist, wenn er nur ernsthaft vertreten wird, immer makellos. Wer auf dunkle Punkte hinweist, ist in Vorurteilen gefangen und bedarf dringend der Belehrung, weil er den wahren Glauben noch verkennt. Auch unter renommierten Vertretern renommierter religiöser Traditionen wird im interreligiösen sogenannten Dialog nur die Makellosigkeit des eigenen Glaubens besungen. Die Begegnungen entarten apologetisch. Oft wagen an sich kritisch denkende Gesprächsteilnehmer gar nicht mehr, ihre kritischen Fragen zuäussern. Man und frau darf doch nicht unhöflich erscheinen. Der so empfindliche Glaube des Gesprächspartners darf und soll in keiner Weise offen befragt werden. Kritik und Glaube verhalten sich in manchen religiösen Traditionen und Gruppierungen immer noch wie Wasser und Feuer. Solange dem so ist, verkommt mancher an sich gutgemeinte religiöse Dialog zur höflichen Peinlichkeit.

Mystik als Chance

Die intensivsten und verheissungsvollsten Begegnungen zwischen Religionen finden so weit ich sehe dort statt, wo die Religionen sich auf ihre eigenen mystischen Wurzeln besinnen. Die Mystiker aller Religionen sind nicht nur begegnungsfähig, sondern begegnungsfreudig. Sie sind die grossen …kumeniker der Religionen, die sich von anderen Wegen inspirieren lassen, ohne die eigene Unmittelbarkeit zu gefährden oder gar zu verlieren. Was sie bei anderen lernen, vertieft nur das je Eigene. Es ist kein Zufall, dass die betont meditativen und erlebnisnahen Strömungen innerhalb jeder grossen religiösen Tradition intensiv aufeinander zugehen Meditation ist Anhängermystik: Sufismus, Zen, christliche Meditationsbewegungen und die nicht seltene Verbindung von Spiritualität und sozialer Aktion in vielen christlichen Gruppen schenken sich in der Gegenwart nicht nur Begegnungen und Anregungen. Sie werden zu Freunden und Geschwistern, ohne die eigene Identität zu verlieren. Wenn wir fragen, wie denn die einzelnen religiösen Traditionen sich echten und intensiven Begegnungen mit Andersgläubigen trotz aller erwähnten Hindernisse öffnen können, so findet sich hier die einleuchtendste Antwort: Indem jede Religion sich auf ihre eigene Mystik besinnt, wird sie begegnungsfähig und begegnunsfreudig. Dass im ehemals christlichen Westen eine solche Rückbesinnung auf die eigene Mystik nicht in einer weltfernen und gemeinschaftsfeindlichen Spiritualität enden kann, liegt auf der Hand. Mystik muss wenn sieüberzeugen will heute das sein, was sie auch früher in manchen religiösen Traditionen immer sein wollte tätige Gotteserfahrung, sozial und politisch engagierte Spiritualität.

Gesucht: lernfähige Gurus

Die grösste Schwierigkeit und Chance auf dem Weg in echte religiöse Begegnungen verbindet sich mit einer Institution, die so oder anders jede religiöse Tradition seit Jahrhunderten beflügelt und belastet: Der Begleiter auf dem Weg ins eigene mystische Erleben, der Guru. Als spirituelle Autorität ist er den Weg, den der Schüler nun geht, vorangegangen. In manchen religiösen Traditionen vor allem in den hinduistischen ist er aber nicht nur der, der vorangeht, weil er voranging. Der Guru ist vollendet. Er hat die höchste Bewusstseinsstufe erreicht. Er ist angekommen und kann deshalb auf jede Begegnung mit anderen Gurus verzichten. Andere Gurus kann und wird er aus der Ferne umdeuten, ihre Erkenntnis der eigenen völlig angleichen, er vereinnahmt sie, oder er lehnt sie als falsche Gurus ab. Dass derart vollendete Meister in keiner Weise mehr begegnungsfähig sind, braucht nicht mehr betont zu werden. Sie breiten in einsamer Göttlichkeit ihreüber jeden Zweifel erhabenen Erkenntnisse aus.

Wenn nun einerseits Mystik derüberzeugendste Weg in verheissungsvolle interreligiöse Begegnung ist, wenn andererseits der Wanderer auf mystischen Wegen erfahrene Begleiter, Gurus, braucht, und wenn zum dritten diese unfehlbaren Meister wieder jede echte Begegnung mit religiöser Andersartigkeit verunmöglichen oder erübrigen, so folgt daraus die Forderung nach anderen, nach neuen Gurus, nach korrigierbaren, lernfähigen und deshalb immer noch begegnungsbereiten Meistern.

Spiritualität ist heute gefragt. Lebendige Spiritualität sucht die interreligiöse Begegnung. Aber auf die vollendet Erleuchteten kann und muss die Gegenwart verzichten, wenn sie echte Begegnung finden will. Wir brauchen auf unseren spirituellen Wegen Erleuchtete, die immer noch der Erleuchtung bedürfen und die deshalb bereit sind, mit uns zu lernen.


Dr. Georg Schmid (gschmid@theol.unizh.ch) ist Titularprofessor für allgemeine Religionsgeschichte am Theologischen Seminar der Universität Zürich.


unipressedienst uniz?rich-Magazin


uni pressedienst Pressestelle der Universität Zürich
Felix Mäder (fmaeder@zuv.unizh.ch)
http://www.unizh.ch/upd/magazin/2-96/
Last update: 24.6.1996