Magazin der Universit?t Z?rich Nr. 2/96

Multikultur und Schule

VON CRISTINA ALLEMANN-GHIONDA

Multikulturalität hat in mehrfacher Hinsicht mit Schule zu tun: Erstens sind die meisten Schulen in der Schweiz wie auch in anderen Einwanderungsländern mehrkulturell, da ein grosser Anteil der Schülerinnen und Schüler Kinder eingewanderter Familien sind. Zweitens können Schulen sich organisatorisch und inhaltlich auf Migration einstellen, indem sie den Unterricht leicht anpassen oder in den Klassenzimmern optische Zeichen setzen.

Äusserungen der Multikulturalität sind vielfältig: Schulen können ihr Profil und ihre Lernangebote multikulturell und mehrsprachig gestalten. In manchen Fällen wird eine solche Ausrichtung durch die sprachliche Situation einer Region bedingt, zum Beispiel bei den zweisprachigen Schulen in Graubünden. Ein multikultureller und mehrsprachiger Unterricht kann auch ganz unabhängig von der Herkunft und den sprachlichen Hintergründen der Schülerschaft angeboten werden.

In der bildungstheoretischen Diskussion und in bildungspolitischen Richtlinien wird heute Multikulturalität in der Schule mit dem Begriff «interkulturelle Bildung» in Verbindung gebracht. Diese pädagogische Idee geht davon aus, dass sprachliche und kulturelle Vielfalt in inhaltlicher, organisatorischer und methodischer Sicht wichtig sind und dass es nicht vernünftig ist, sie zu umgehen. Aus dieser Grundausrichtung, die inzwischen auf einen Fundus empirischer und theoretischer Forschungsarbeiten zurückgreifen kann (Allemann-Ghionda 1994, Poglia u. a. 1995), folgt, dass der Unterricht umgestaltet werden soll.

Wie reagieren Schulen auf Migration?

Die schulpolitische Reaktion auf Migration kommt offiziell in den Richtlinien bzw. Empfehlungen einiger Kantone und der EDK (Schweizerische Konferenz der Erziehungsdirektor/-innen) zum Ausdruck. Die EDK hat den Kantonen seit 1972 wiederholt empfohlen, Massnahmen zur «Schulung der Gastarbeiterkinder», in den neueren Fassungen (zuletzt 1991) «Schulung der fremdsprachigen Kinder», zu treffen. Dabei waren und sind Integration, Beibehalten der Herkunftssprache und -kultur sowie Chancengleichheit gleich wichtige Ziele. «Interkulturelle Erziehung» wird seit 1985 ebenfalls von der EDK empfohlen. Einige Kantone haben eigene Empfehlungen oder Richtlinien herausgegeben, die den Gedanken der interkulturellen Erziehung aufgreifen und in einigen Fällen so im Kanton Zürich weiterentwickeln und durch konkrete Vorschläge ergänzen.

Insgesamt hat sich auf dieser programmatischen Ebene eine schulpolitische Ausrichtung etabliert, bei der die migrationsbedingte kulturelle Vielfalt als eine der vorrangigen Aufgaben der Schule hervorgehoben wird. Der Begriff «Assimilation» kommt entsprechend dem aktuellen Stand der pädagogischen Diskussion in offiziellen Dokumenten nicht vor.

Allerdings ist Schulpolitik nicht nur das, was Dokumente aussagen. Ein ganz anderes, vielfältiges und widersprüchliches Bild ergibt sich, wenn man sich anschickt, die im Alltag praktizierte Multikulturalität in den Schulen zu untersuchen. Eine qualitative empirische Untersuchung der praktizierten Schulpolitik in verschiedenen Kantonen und Gemeinden1 ergibt unterschiedliche Reaktionen der Schule auf Migration.

Unmut. Ein Teil der Lehrkräfte nimmt Migrantenkinder in der Schule als Belastung wahr. Zeitungsmeldungen geben eine solche Stimmung wieder:

«Immer mehr Lehrkräfte sind mit den reinen Erziehungsproblemenüberfordert und wissen nicht, wie sie gegenüber der Gewalt an der Schule, dem asozialen Verhalten, der Unkonzentriertheit, dem Konsumverhalten der Schüler, dem wachsenden Ausländeranteil, dem Drogenproblem reagieren sollen.»
(NZZ, 6. 12. 1995).

Seitens der Eltern kann Unmut das bekannte Phänomen des Wegzugs in «ausländerfreie» Quartiere zur Folge haben. Eine andere Variante ist die Aufrichtung oder Verhärtung ethnischer Barrieren zum Beispiel dadurch, dass Lehrkräfte manchmal von Eltern unter Druck gesetzt an Elternabenden auf dem Gebrauch der lokalen Mundart bestehen, wodurch vorab einmal die Arbeit der fremdsprachigen ÜbersetzerInnen, falls solche zugegen sind, erschwert wird.

Interkulturelle Abstinenz. Manche Lehrkräfte halten es nicht für nötig oder möglich, das Thema der Multikulturalität im Sinne eines interkulturellen Unterrichts anzugehen. Einige meinen, es sei nicht ratsam, kulturelle Differenzen hervorzuheben, da Kinder ohnehin darunter leiden würden. Andere finden die interkulturellen Ideen zwar spannend und aktuell, aber zu abstrakt. Sie könnten sie daher nicht umsetzen. Eine dritte Gruppe hier sind auch einige BehördenvertreterInnen zu finden ist der Auffassung, dass die Schule bereits zu viele Aufgaben, in einigen Kantonen auch tiefgreifende und komplexe Reformen (Basel-Stadt, Bern, Zürich), bewältigen muss. Für interkulturellen Unterricht fehlten meist die Zeit und das Geld.

Reparatur. Schulsysteme reagieren (oft ausschliesslich) mit reparativen Massnahmen wie Zusatzkursen in der lokalen Unterrichtssprache. Diese sind je nach finanzieller Lage des Kantons oder der Gemeinde unterschiedlich intensiv und riskieren oft, den neuerdings wieder zunehmenden Sparmassnahmen zu erliegen. Das Lehrpersonal ist auf den Unterricht in der Zweitsprache fachlich manchmal sehr gut, manchmal aber nur mangelhaft vorbereitet. Der Nutzen eines solchen Zusatzunterrichts bleibt bescheiden, wenn die Schule nicht gleichzeitig ein pädagogisches Konzept zur positiven Wertung der Zweisprachigkeit und zur sozialen Integration zugewanderter SchülerInnen entwickelt. Jedenfalls konnten reparative Massnahmen bisher nicht verhindern, dass zugewanderte SchülerInnen statistisch betrachtet in der Schule wesentlich schlechtere Ergebnisse als ihre Schweizer KameradInnen erzielen.

Separation. In der Zeitspanne 1986 bis 1995 haben die Schüler/innen mit einem Migrationshintergrund in der Schweiz zahlen- und anteilsmässig zugenommen von 123 439 (17,1%) auf 163 107 (21,3%). Gleichzeitig ist deren Anteil in Schulen mit Grundansprüchen und in Schulen mit besonderem Lehrplan (Sonderschulwesen) stark gestiegen. Auf die zunehmend heterogene und für «schwierig» erklärte Migration reagieren Schulen in einigen Kantonen (zum Beispiel Basel-Stadt und Neuenburg) zeitweise mit der Eröffnung von mehr «Fremdsprachenklassen» oder «classes d'accueil» oder mit einem längeren Aufenthalt der Kinder in solchen Klassen. Dies erklärt aber nur teilweise die Zunahme im Bereich der Klassen mit besonderem Lehrplan. Lern- oder Verhaltensschwierigkeiten werden offenbar öfter bei zugewanderten als bei Schweizer Kindern festgestellt. Über die institutionellen Vorgänge, die im Einzelfall zu solchen Entscheidungen führen, liegen kaum wissenschaftliche Ergebnisse vor, während einiges über die Rolle der Familien bekannt ist (Lanfranchi 1993). Wenn wir davon ausgehen, dass die Übervertretung in Schulen mit Grundansprüchen und die übermässige und zunehmende Zuweisung zu Klassen mit besonderem Lehrplan Indikatoren von Separation sind, steht der von der EDK vorgegebenen Leitidee der Integration eine Praxis der ausgeprägter werdenden Separation gegenüber. Auffällig sind (allerdings nicht nur in dieser Hinsicht) die regionalen Unterschiede. Im Kanton Tessin ist der Anteil von Schüler/innen in Klassen mit besonderem Lehrplan, ungeachtet ihrer Herkunft, sehr niedrig. Behörden und Lehrkräfte bekennen sich zu einer «pedagogia delle differenze» und erklären, die kulturelle Vielfalt werde in diesem Rahmen aufgefangen. Die Kehrseite dieserökumenischen Ausrichtung ist, dass anders als in einigen anderen Kantonen die Tessiner Schule Migrationssprachen kaum zur Kenntnis nimmt.

Innovation. Migration wirkt aber auch als Anlass und Katalysator für Innovation und Schulentwicklung. Mehrere Kantone (zum Beispiel Basel-Stadt, Bern, Zürich) haben Anfang der neunziger Jahre ihre Lehrpläne renoviert und die Themen der Migration, der kulturellen Vielfalt und der Mehrsprachigkeit aufgenommen. In mehreren Städten wurden Schulversuche entwickelt, bei denen eine bessere Nutzung der Mehrsprachigkeit, die individuelle Förderung der Kinder jenseits der ethnischen Zugehörigkeit, ein erhöhter Schulerfolg aller Kinder und ein angenehmeres Schulklima bzw. die Prävention der Gewalt im Vordergrund stehen. Innovationen werden von mehreren Faktoren begünstigt. Ein wichtiger Faktor ist das Vorhandensein einer kantonalen Fachstelle für interkulturelle Pädagogik oder für Ausländerpädagogik, wie sie im Kanton Zürich und einigen weiteren Kantonen besteht.

Mit sozialer, sprachlicher und kultureller Vielfalt leben

Migration bringt zusätzliche soziale, sprachliche, kulturelle und religiöse Vielfalt in eine Gesellschaft, in welcher die Säkularisierung, die Individualisierung und die Pluralisierung der Auffassungen und der Lebensstile die Normalität ausmachen. Viele pädagogische Versuche, die Migration nicht als Last, sondern als Potential zu betrachten, sind episodenhaft geblieben. Sie sindüberdies an einem Missverständnis gescheitert: Die Wertschätzung «anderer» Kulturen wurde oft mit oberflächlichen Freundschaftritualen oder mit dem musealen Kult mythischer «Herkunftskulturen» verwechselt. Eine vertiefte Betrachtung der Chancen und Risiken solcher Inszenierungen (Allemann-Ghionda 1995) ermöglicht differenziertere Einsichten und Problemlösungen.

Der Umgang mit Heterogenität als solcher ist in den neunziger Jahren notwendiges Lernziel für Lehrkräfte, Kinder und Jugendliche. Zumindest in den Kantonen, welche Reformen der Sekundarstufe I bzw. der Volksschule eingeführt haben, setzen sich Lehrkräfte mit neuen Methoden des Unterrichtens, der Bewertung und der Elternarbeit intensiv auseinander. Dieselben Reformen verursachen gleichzeitig, dass Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Hintergründen länger im Klassenverband zusammenbleiben, weil eine Selektion erst später erfolgt. Angesichts einer so vielschichtigen, in dieser Form bisher unbekannten Herausforderung ist es um so dringlicher, dass die soziale, sprachliche und kulturelle Vielfalt in der Schule auf verschiedene Art thematisiert wird. Es ist ebenso kurzsichtig, die Folgen der migrationsbedingten Multikulturalität zu verdrängen, wie diese zur nationalen Katastrophe zu erklären.

1

Projekt Nationalfonds «Migration und Bildung in multikulturellen Verhältnissen» (1993 1996).

Literatur

Empfehlungen zur Schulung der fremdsprachigen Kinder vom
24. Oktober 1991. Bern: EDK.

Empfehlungen zur Schulung der fremdsprachigen Kinder und zur interkulturellen Pädagogik vom 24. Januar 1995. Schulblatt des Kantons Zürich Nr. 3, März 1995.

Allemann-Ghionda, C. (Hrsg.; 1994): Multikultur und Bildung in Europa. Bern: Lang.

Allemann-Ghionda, C. (1995): Interkulturelle Bildung zwischen Universalität und Partikularität. Überlegungen im Rahmen eines europäischen Vergleichs. In: Tertium Comparationis 1(2), S. 96 112.

Lanfranchi, A. (1993): Immigranten und Schule. Opladen: Leske & Budrich.

Poglia, E./Perret-Clermont, A.-N./Gretler, A./Dasen, P. (Hrsg.): Interkulturelle Bildung in der Schweiz. Fremde Heimat. Bern: Lang.


Interkulturelle Bildung: internationale Schlaglichter

Konzepte unter dem Etikett «interkulturelle» oder «multikulturelle» Bildung haben eines gemeinsam: Deren BefürworterInnen gehen davon aus, dass nationale und regionale Schulsysteme in der Regel auf einemüberholten monokulturellen, einsprachigen und ethnozentrischen Menschenbild und Bildungsbegriff basieren. Zusätzlichen Sprachen und Kulturen, vor allem denjenigen von Minderheiten, wird nur wenig Raum und lediglich wennüberhaupt eine untergeordnete Bedeutung zugestanden.

Interkulturelle Bildungskonzepte wurden aus verschiedenen Motivationen heraus erfunden und haben sich mit sehr unterschiedlichen Schwerpunkten herausgebildet und entwickelt. Wie eine Umgestaltung des Unterrichts im interkulturellen Sinne konzeptualisiert und verwirklicht wird, hängt von vielen Elementen ab. Dazu gehören unter anderem die zugrundeliegenden theoretischen Modelle, die bildungspolitischen Rahmenbedingungen, die kulturellen Traditionen der jeweiligen Bildungssysteme, die Organisation der Lehrer(innen)bildung, das Alter der Lernenden, die Zusammensetzung der jeweiligen Klasse, die Einstellung und Ausbildung der Lehrkräfte, der Innovationswille der Schulleitungen und die verfügbaren Mittel.

Nordamerikanische und australische Konzepte gingen aus einer positiven Besetzung des Begriffs «Ethnizität» hervor. Sie sollten eine Antwort auf das kulturelle Erwachen und auf die Bildungsbedürfnisse ethnischer Minderheiten bieten. Westeuropäische Konzepte wurden auf zwei zunächst voneinander unabhängigen Gleisen entwickelt. Zuerst entfalteten sich nach dem Zweiten Weltkrieg Aktivitäten im Bereich des Jugend- und des Schüleraustausches; darin stand und steht das interkulturelle Lernen im Dienste der Völkerverständigung im Vordergrund. Ab Ende der sechziger Jahre stellte Migration die davon betroffenen Bildungssysteme zunehmend vor die Frage, ob und wie die Vielfalt der Sprachen und Kulturen einzubeziehen sei. Der massive Zustrom von Migrantenkindern rief in den meisten Ländern zunächst assimilationsgeleitete Strategien hervor. Mitte der siebziger Jahre begann sich der Begriff «interkulturelle Erziehung» auch im Zusammenhang mit Migration und Unterricht zu behaupten (Auernheimer 1995).

Der Europarat hat die Theoriediskussion in seinen Mitgliedstaaten nachhaltig beeinflusst. Einige Länder haben im Laufe der Jahre in bezug auf interkulturelle Bildung sehr affirmative oder zumindest aufgeschlossene Richtlinien herausgegeben (Deutschland, die Niederlande, Italien, die Schweiz). Andere verfolgen vor allem sei Anfang der neunziger Jahre einen betont nationalen Kurs (Frankreich, Vereinigtes Königreich). Daraus ergab sich ein Widerspruch zwischen dem erklärten gemeinsamen Willen der supranationalen Organisationen und den einzelnen nationalen Auffassungenüber interkulturelle Bildung.

Anfang der neunziger Jahre findet «interkulturelle Erziehung» auch in offizielle Dokumente der Europäischen Kommission (1995) Eingang. Diese erhob nach einer langen Zeit der Zurückhaltung die interkulturelle Erziehung gar zum Leitgedanken der europäischen Kooperationsprogramme im Bildungsbereich (Sokrates, Leonardo usw.).

Interkulturelle Bildung taucht jetzt zunehmend auch in Kontexten auf, in denen nicht die Migration, sondern das Zusammenleben nationaler ethnischer Gruppen im Vordergrund steht (zum Beispiel Kärnten, Südtirol, osteuropäische Staaten). Interkulturelles Lernen soll hier zu einem friedlichen Zusammenleben beitragen.

Literatur

Auernheimer, G. (1995): Einführung in die interkulturelle Erziehung. 2. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Europäische Kommission (1995): Sokrates. Vademecum. Brüssel.


Dr. Cristina Allemann-Ghionda

ist Lehrbeauftragte am Pädagogischen Institut der Universität Zürich; sie forscht im Auftrag des Schweizerischen Nationalfonds am Institut für Pädagogik der Universität Bern; sie ist zudem Mitglied der Expertengruppe des NFP 39, «Migration und interkulturelle Beziehungen».

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Last update: 24.6.1996