Magazin der Universität Zürich Nr. 2/97

Der Mensch im Bild

Wer als bildschaffender Ethnograph oder als bildlesender Ethnologe arbeitet, will nicht auf die Schrift verzichten. Er verschiebt lediglich sein Augenmerk auf die Herstellung und das Studium bildlicher Quellen. Als Sozialwissenschaft beschäftigt sich die Ethnologie mit unterschiedlichen Formen menschlichen Zusammenlebens.

«On peut accélérer la technique
mais pas la réflexion.»

Robert Kramer

Aus europäischer Perspektive bezieht sie sich traditionellerweise vor allem auf aussereuropäische Populationen, besonders auf solche, die keine Schrift besitzen. In dem Masse wie die schriftlosen Kulturen von den jeweils dominanten Gesellschaften bis zum Verschwinden überlagert werden und sich dadurch einer ethnographischen Betrachtung zunehmend entziehen, gewinnt die Forschung im Archiv an Bedeutung.

VON MAJAN GARLINSKI

Seit Beginn der neunziger Jahre wird am Völkerkundemuseum der Universität Zürich die visuelle Anthropologie als eigenständiger und – analog zur Sprache – zugleich als verbindender Bereich auf mehreren Ebenen gefördert: von der Bildproduktion – vor allem in Form von Fotografie und Video – über Fotoausstellungen, öffentliche Filmvorführungen, Lehre und Forschung, Öffnung der Sammlungen bis hin zur angewandten Recherche. Als Drehscheibe dieser Aktivitäten kann das Archiv für Visuelle Anthropologie betrachtet werden. Es umfasst zwei einander ergänzende Abteilungen: Die eine enthält stehende Bilder wie Fotografien, Lithos, Stiche, Holzschnitte, Zeichnungen und Gemälde; die andere bewegte Bilder, also Filme, Videos und Multimedia-Produkte.

Nächtliche Séance wider sara jyea, den Geist der Weissen Kreide mit dem Schamanen Bal Bahadur und Kathka.
Der Schamane Kathka hält die Bannleiter an dem einen Ende straff, während dies am anderen Ende (nicht sichtbar) ein Gehilfe tut.
Meister Bal Bahadur zeichnet mittlerweile mit Kohle Striche auf die Sprossen: auf jede der neun Sprossen neun Kreuze – Bannzeichen gegen unsichtbare Eindringlinge von draussen. Während dieser handwerklichen Tätigkeit bleiben die Trommeln zum Schutz bei den Akteuren. (Foto: M. Oppitz).

Das Archiv für bewegte Bilder umfasst gegenwärtig einen Bestand von knapp fünfzehnhundert Titeln. Ihre Auswahl erfolgte nach unterschiedlichen Kriterien. Einerseits sollte sie dem ethnographischen Dokumentarfilmschaffen im weitesten Sinne diachron und synchron Rechnung tragen, andererseits der gegenwärtigen Museums- und Forschungstätigkeit in thematischer und geographischer Ausrichtung entsprechen. Die Grenzen dafür, welche filmischen Produkte überhaupt dem Bereich der visuellen Anthropologie zuzurechnen seien, sind im Archiv des Völkerkundemuseums mit Absicht weit gesteckt. In der angestrebten Ausdehnung über den strikt ethnographischen Film hinaus soll die übliche Trennung zwischen Dokumentation und Fiktion in Frage gestellt und der Begriff der ethnologischen Quelle erweitert werden.

Verständnis der Bildsprachen

Während das Publikum die Abteilung Bewegte Bilder bereits seit Februar 1995 benützen kann, ist die Abteilung Stehende Bilder zusammen mit der Ausstellung «Ans Licht geholt – Frühe Fotografien aus dem Archiv des Völkerkundemuseums» im Mai 1997 eröffnet worden. So unterschiedlich diese beiden Abteilungen sind, so verfolgen sie doch das gleiche Ziel: das Studium vergangener und gegenwärtiger Kulturen anhand ihrer bildlichen Repräsentationen zu ermöglichen. Dabei bedarf es einer präzisen und zugleich zügigen archivarischen Bearbeitung der stetig wachsenden Sammlungen. Diese Aufgabe erfordert einen ethnologisch geschulten Blick und Ausdauer sowie ein weitreichendes Verständnis der Bildsprachen.

Die Sammlung der historischen Fotografien – 1850 bis 1950 – wuchs durch Schenkungen und Ankäufe auf über dreissigtausend Bilder an. In einer über zweijährigen Arbeit hat Dario Donati den gesamten Bestand gesichtet und ihn vorerst zu vierhundertfünfzig Sammlungseinheiten geordnet. Diese Groberfassung wird am Computer in der Bibliothek des Völkerkundemuseums nach diversen Kriterien wie Fotograf, Sammler, Jahr, Land und Thema abrufbar sein.

Je genauer ein Bild oder ein audiovisuelles Werk bestimmt ist, um so grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass es von einem Forscher auf seiner Suche auch gefunden wird. So besteht die eigentliche Aufgabe eines Bildarchivars in der Vermittlung visueller Repräsentationen an ein Publikum, das er nicht kennt und dessen Suchkriterien er nur erahnen kann. Idealerweise sollten nicht nur die Bilder möglichst genau und zugleich offen miteinander in Beziehung gesetzt werden, sondern auch andere, dazugehörige Quellen wie Texte, Tonträger, Objekte usw. Zusammengefasst wird eine solche erweiterte Sammlung oft als «Multimedia»-Produkt präsentiert.

Die innewohnenden Beziehungen zwischen unterschiedlichen Phänomenen zu erkennen, «und zwar die, welche die Eingeborenen selbst hergestellt haben» (Oppitz 1989:78), gehört seit jeher zu den eigentlichen Aufgaben der Ethnographie. So war es ein Ethnologe, der eines der allerersten Multimedia-Produkte realisierte: Der Engländer Alan MacFarlane lancierte 1985 das «Cambridge Experimental Videodisc Project on the Nagas of Assam». 1989 wurde es veröffentlicht. Dabei handelt es sich im wesentlichen um ein mobiles Archiv, das mittels einer Bildspeicherplatte (Laserdisc) und eines speziellen Computerprogramms unterschiedliches Material (Foto, Film, Tonaufzeichnungen, Tagebuchnotizen, abgelichtete Artefakte usw.) aus diversen Museen und Privatsammlungen zur Kultur der Naga-Bevölkerung in sich vereinigt. Auch wenn in den letzten Jahren leistungsfähigere und schnellere Computersysteme entwickelt wurden, bleibt die eigentliche Pionierleistung, der Modellcharakter des Naga-Experiments bestehen. Speziell gilt es für das Archiv für Visuelle Anthropologie am Völkerkundemuseum, welches eine Version davon ankaufte, um sie zu analysieren und – unter Berücksichtigung der Arbeiten des CEREDEM (Centre Européen de Recherche et Développement Multimédia-Anthropologie et Image) in Marseille – an eigene Projekte anzupassen.

Ethnologie-Geschichte schreiben

Der Universität Zürich bietet sich neuerdings die seltene Gelegenheit, mit einem ähnlich gelagerten Projekt Ethnologie-Geschichte zu schreiben. Der Direktor des Völkerkundemuseums, Michael Oppitz, hat in seiner drei Jahrzehnte umfassenden Forschungstätigkeit, neben etlichen Büchern und zahlreichen Artikeln mit dem Film «Schamanen im Blinden Land» (1981, 227 Minuten) auch ein raffiniert gestaltetes Werk geschaffen, das zum Anregendsten zählt, was Ethnographie und Film zu bieten haben. Abgesehen von diesen weitgefächerten Veröffentlichungen harren vielfältige, von ihm in verschiedenen Medien erschlossene ethnographische Quellen ihrer wissenschaftlichen Bearbeitung. Allein zu den Magar, einer Population in Nordwest-Nepal, sind es zwanzig handgeschriebene Tagebücher, 75 Stunden Tonaufzeichnungen ritueller Gesänge, 34 Stunden Filmmaterial, das im Zusammenhang mit dem oben erwähnten Film belichtet wurde, und an die fünftausend Fotos. Dieses vieldimensionale Material birgt einerseits die grosse Chance neuer Verknüpfungen. Andererseits ist es zurzeit nur virtuell, also unter Anweisung seines Autors, anzugehen. Wenn es nicht weiterbearbeitet wird, geht es verloren. Diese Situation lässt sich mit derjenigen vieler traditioneller Gesellschaften vergleichen. Dort heisst es: «Wenn ein weiser Mann stirbt, erlöscht eine ganze Bibliothek.»

Um solches zu verhindern, ist im Rahmen eines Pilotprojektes mit einer besonderen archivarischen Aufarbeitung begonnen worden (siehe Illustration). Jedes Foto wurde in zweifacher Ausführung neu abgezogen und auf der rechten Vorderseite mit technischen Angaben wie Ort, Jahr, Autor und Filmnummer sowie mit einer ethnographisch präzisen Legende versehen. Sämtliche schriftlichen Passagen sind ausserdem in einem Textprogramm gespeichert. Wenn die restlichen zweitausend Bilder in gleicher Art intensiv bearbeitet sein werden, dann ist es nur noch ein kleiner Schritt, um sie in eine digitalisierte Form zu übertragen. In Verbindung mit einem Computerprogramm, das eine ikonographische Erkennung des Bildinhaltes erlaubt, wäre dieses zum Beispiel auf CD-ROM zu veröffentlichende und ins Internet einzuspeisende Material nach unterschiedlichsten Seiten offen. Es erlaubte einen effizienten Zugang zu einem aufschlussreichen Quellenmaterial. Wenn auch die weiteren Teile (Tagebücher, Tonbänder, Film) in ähnlicher Weise aufbereitet würden – was, bedingt durch die Fülle des Materials, einen grösseren Arbeits- und Finanzaufwand erfordert, der die aktuellen Möglichkeiten des Museums um ein Mehrfaches übersteigt –, könnte aus den verschiedenen zu publizierenden und bereits publizierten Corpora schliesslich eine digitale ethnographische Enzyklopädie zu den Magar entstehen. Eine solche präzise, dicht vernetzte, multimediale Präsentation der Quellen reflektierte nicht nur die reichhaltigen Beziehungen des Lebens der Magar, sondern würde kommenden Generationen von Sozialforschern einen hervorragenden Schatz für künftige wissenschaftliche Arbeiten bieten, insbesondere, wenn bei den Magar das elektrische Licht das Herdfeuer längst ersetzt haben wird.


Lic. phil. Ethnologe Majan Garlinski (garlinski@vmz.unizh.ch) ist Assistent und Fachmann für Visuelle Anthropologie am Völkerkundemuseum der Universität Zürich.


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Last update: 20.07.97