Magazin der Universität Zürich Nr. 2/97

Didaktik des Sterbens in Text und Bild

«Bilder sind seit den achtziger Jahren unübersehbar nobilitiert worden und zu einem kulturellen Paradigma aufgerückt, dessen Signale auch in einer entfernteren und weiteren Öffentlichkeit bemerkt werden.»1 Mit einem gewissen Recht hat man kritisch von einer von den maschinellen Bildern ausgehenden «Ikonomanie» gesprochen, die «den Menschen infantilisiert und in eine orale Phase zurückfallen lässt, die darin besteht, die liquiden Informationsprodukte nur noch zu schlucken».2

VON ALOIS M. HAAS

Im Zusammenhang mit diesem durchaus ambivalenten Interesse konnte sich der das einfache Bild übersteigende komplexe Bezug zwischen Bild und Wort, die ja beide eminente Informationsträger sind, als ein Thema artikulieren, das auch im geschichtlichen Rückblick spannungsvolle Momente präsentiert. Dabei erweist sich die Kombination Bild-Wort als eine bedeutende Vorstufe des späteren Abtauschs der «Ideologie» durch die «Imagologie»3, deren Penetranz Sprache nicht überflüssig zu machen vermag, sie aber in ihrer Flexibilität doch einzuschränken und zu gefährden droht.

Allegorie: Bild- und Sprachbereich

In einer Kulturgeschichte des Wort-Bild-Bezugs kommen jenen Themen Vorrang zu, die in Form benennbarer Allegorien einen nicht leicht entschlüsselbaren, nur abstrakt bezeichenbaren Tatbestand – den Bereich der Affekte (Liebe und Hass usf.) und deren Bändigung (in den Tugenden beispielsweise) – offen- und klarzulegen versuchen. Die rational entschlüsselbare Allegorie teilt sich dabei auf in Bild- und Sprachbereich, so dass Walter Benjamins Vermutung Recht bekommt, wonach «Allegorie das einzige und gewaltige Divertissement [ist], das da dem Melancholiker sich bietet»4, weil in jedem Fall die «hochfahrende Ostentation, mit welcher der banale Gegenstand aus der Tiefe der Allegorie hervorzustossen scheint, bald seinem trostlosen Alltagsantlitz den Platz [räumt]»5.

Der Umgang mit der Allegorie hat etwas unabweisbar Melancholisches. Es ist von daher klar, dass so etwas wie Sterben und Tod, in einer schwer deutbaren Weise immer anwesend abwesend zugleich, für die Allegorisierung besonders geeignet sind.6 Als Abwesender ruft der Tod nach einer verdeutlichenden bildlichen Allegorisierung, als allzeit in Fremderfahrung (am Sterben nahestehender Menschen) Anwesender verlangt er nach (sprachlicher) Sinndeutung.7

Die Kunst des Sterbens

Diesen Bedürfnissen Rechnung tragend entwickelte sich seit dem 14. und 15. Jahrhundert eine literarische Form, die in Text und Bild eine Vorstellung über das richtige Sterben zu vermitteln versuchte.8 Vehikel dieser Form war die sogenannte ars moriendi. Sie – diese Kunst des Sterbens – versuchte auf eine didaktische Art und Weise zu zeigen, wie ein Stadtbürger des späten Mittelalters angemessen und im Rahmen bürgerlicher Pflichterfüllung zu sterben hatte.

Das Ergebnis war eine mit Bildern garnierte und verdeutlichte literarische Darstellungsform – Ars moriendi genannt – in der das vorbildliche, aber gefährdete Sterben eines städtischen Notablen in Form eines eigentlichen Rituals9 – als «rite de passage» – nach seinen wesentlichen Momenten in 11 Bildern und begleitendem Text vorgestellt wurde.10 Das 11 Holzschnitte und 13 Seiten Text umfassende Blockbuch aus den Jahren l460/65 – seine Abfassung ist nach den neuesten Forschungen in die Mitte des 15. Jahrhunderts anzusetzen11 – erlangte europäische Verbreitung. Bis ins 16. Jahrhundert hatte es seinen Weg vom Mittel- oder Niederrhein über die Niederlande und Deutschland nach Frankreich, Spanien, England und Italien genommen, so dass es in vorreformatorischer Zeit zu den verbreitetsten Andachtsbüchern gehörte.12

Fünf Anfechtungen des Teufels

Bild und Text stellen die fünf Anfechtungen des Teufels in der Todesstunde dar: die Versuchung zum Unglauben, zur Verzweiflung, zur Ungeduld, zur eitlen Ruhmsucht und zum Geiz. Diesen fünf Anfechtungen stehen ebenso viele gute Einsprechungen des Engels gegenüber, so dass der Todkranke im dramatischen Konflikt zwischen guten und bösen Einflüsterungen steht. Gegenüber früheren ähnlich gelagerten Artes moriendi ist es diese rhetorische Theatralisierung des Übergangsritus des Sterbens, die hier neu ist und in der Stilisierung von Pro- und Kontra-Formeln die Entscheidungssituation des Sterbenden verschärft. Gezielt wird mit dieser konfrontierenden Abwägung zweier Haltungen dem Sterben gegenüber – die eine als Ergebung in den göttlichen Willen, die andere als Auflehnung dagegen – sicherlich auf eine innere Umkehr des sterbenden Sünders.

Ein innerliches Drama wird in den assistierenden Gestalten von Gott selber (in Vater und Sohn), der Gottesmutter Maria, Engeln, Teufeln, Heiligen (zum Beispiel der hl. Petrus), weltlichem und geistlichem Sterbepersonal stark dramatisiert, emotionalisiert (so zum Beispiel, wenn der Sterbende wegen der teuflischen Einflüsterung Ecce quantam penam pateris [Schau, was für eine Qual du erleiden wirst!] in höchster Erregung einem Anwesenden einen Fusstritt versetzt und die Magd alle Gefässe fallen lässt) und so veräusserlicht.

Auf Spruchbändern werden Einzelheiten aus dem Begleittext dramatisch appliziert. So spricht zum Beispiel in dem der Versuchung gegen den Glauben gewidmeten Bild ein links oben in der Luft hängender Teufel: «Infernus fractus est» (Die Hölle ist zerstört [nach Christi Höllenfahrt]), um dem Sterbenden den Glauben an die Existenz einer Hölle zu nehmen. Nur lose damit verbunden sagt ein auf gleicher Höhe wie der Sterbende sitzender Teufel: «Fac sicut pagani» (Mache es wie die Heiden), indem er auf ein Königspaar, das vor einer Bildsäule kniet, und eine Gruppe von drei Männern, wahrscheinlich Juden, weist. Ein weiterer Teufel mit Vogelschnabel rechts unten fordert den Sterbenden mit den Worten: «Interficias te ipsum» (Töte dich selbst!), indem er auf einen jungen Mann deutet, der sich eben die Kehle aufschlitzen will. Neben dem Jüngling steht eine junge Frau (nur mit einem Lendenschurz bekleidet), die eine Rute und eine Peitsche in Händen hält; ihr Sinn ist aus dem Text verständlich: Dieses Bild ist ein Beispiel für die indiscreta penitentia (masslose Selbstdisziplinierung), die vom Teufel empfohlen wird. Links über dem Kopf des Sterbenden versucht ihm ein vierter Teufel durch Hochziehen des Bettlakens den Anblick von Gottvater, Gottes Sohn und der Gottesmutter Maria zu verbergen.

Kampf zwischen Teufeln und Engeln

Drei Dinge sind an dieser Darstellungsform auffällig.13 Zunächst die Haltung des Sterbenden selbst. An ihm wird die Kontingenz des Lebens darin deutlich, dass er vor dem Tod mit äusserst geschwächtem Körper daliegt, stumm, mit minimaler Gestik und abwartend, wie sich sein Schicksal entscheiden wird. Von seinem gelebten Leben ist an ihm nichts mehr sichtbar. Er ist passiver Teilnehmer am Kampf zwischen Engeln und Teufeln; sie sprechen, sie handeln und kämpfen. Von ihm ist bloss Zustimmung zur einen oder andern Partei gefordert. Damit enthüllt sich ein religiöses Verständnis des Todes: Er besteht in nichts anderem als in einem Kampf zwischen zwei übernatürlichen Gruppen, in dem der Sterbende bloss die Qual der Wahl hat. Der zweite Punkt ist der grosse Abwesende in dieser dramatischen Situation, der Tod selbst. Er, der im 14. und 15. Jahrhundert nahezu überall sichtbar anwesend war, wird hier als allegorische Figur nicht genutzt. Der Sinn ist wohl der, dass es hier wirklich um die Kunst, richtig zu sterben, und nicht um eine predigthafte Mahnung an die Todverfallenheit alles Geschaffenen geht.

Der Tod hat mit dem, was in der Agonie des Christen zu geschehen hat, nichts zu tun, denn er ist zu diesem Zeitpunkt, da es um das ewige Heil geht, schon der Besiegte. Um so schärfer kann der Kampf zwischen den Höllen- und Himmelsboten konturiert sein. Und da wird dann – ein dritter Punkt – die eigentliche Stärke des Bildverfahrens sichtbar: Während der Begleittext eine eher spannungslose Mischung aus Evangelienworten und Zitaten aus dem Heiligen Gregor, dem Heiligen Bernhard und aus Jean Gerson (der in seinem «Opus tripartitum»' von l403 die Grundlage für die Ars moriendi gelegt hatte) darstellt, bekommt die bildliche Darstellung unerhörtes Gewicht.

Gefordert sind die Sinne und die Vorstellungskraft. Man kann geradezu vermuten, dass im Moment, da die kirchlichen Lehrargumente immer öfter zu versagen drohen, die Emotionen angesichts der übernatürlichen Welt überzeugender werden. Dass die meditativen Vermögen durch die sinnlich imaginierende Phantasie überwunden werden, wird deutlich im Gewicht der schrecklich und grotesk ausgestatteten Dämonen. Sie vor allem präsentieren die rhetorisch kraftvollen Argumente, indem sie mit ihrem Aussehen und ihren Kurzbotschaften für die Hölle werben.

Möglichkeit eines «gezähmten Todes»

Die Ars moriendi – insbesondere in ihrer Bild-Text-Variante – ist sicherlich ein Endprodukt mittelalterlicher Thanatologie. Sie suggeriert dem spätmittelalterlichen Bürger die Möglichkeit eines «gezähmten Todes» (Philippe Ariès), der ihn nicht wie ein Dieb in der Nacht von hinten plötzlich überfällt, sondern der im Zeichen des göttlichen Erbarmens steht, mit dem mit einiger Gewissheit zu rechnen ist.

Der Christ ist im Moment, da er stirbt, allemal ein Sünder. Das Heil des Menschen ist kein Problem des Lebens, sondern des Sterbens (salus hominis in fine consistit, das ist die Devise dieses Menschen, der mit den irdischen Realitäten allerlei Kompromisse einzugehen bereit ist). Dies ist genau der Punkt, den die frühmittelalterlichen Prediger den (jungen) Menschen einzuhämmern versuchen: Glaubt nicht, dass ihr euren Tod am Ende eures Lebens bewältigen könnt, denkt jetzt schon an ihn, beginnt lebend zu sterben! Genau die gegenteilige Haltung wird in diesem das mittelalterliche Denken resignativ besiegelnden Blockbuch sehr augenfällig sichtbar: Die religiöse Entscheidung ist eine Entscheidung am Ende des irdischen Lebens; sie ist im Blick auf die Bereitwilligkeit der göttlichen Barmherzigkeit positiv kalkulierbar, auch wenn die dämonische Welt noch so gefährlich in der letzten Stunde präsent ist. Es ist dies die Resignation des bürgerlichen Menschen, die mit der Reformation andern christlich geprägten Sichten aufs Sterben weichen wird. Seit 1500 nehmen die Ausgaben der Bilder-Ars auffällig ab.


Literatur

1 Gottfried Boehm, Die Bilderfrage, in: ders. (Hrsg.), Was ist ein Bild?, München 1994, 325.

2 Birgit Richard, Todesbilder. Kunst Subkultur Medien, München 1995, 23f.; mit Verweis auf Vilém Flusser, Ins Universum der technischen Bilder, Göttingen, 3. Auflage 1990, 12f., und Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, 2 Bände, München 1961, I, 196; II, 51ff. In einem Essay von 1956 (Ikonomanie, in: W. Kemp [Hrsg.], Theorie der Fotografie 1945­1980, Bd. III, München 1983, 108­113) wird der Ausdruck «Ikonomanie» geschaffen.

3 Uwe Pörksen, Weltmarkt der Bilder. Eine Philosophie der Visiotype, Stuttgart 1997, 224f.

4 Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, revidierte Ausgabe, besorgt von R. Tiedemann, Frankfurt a. M. 1963, 207.

5 Ebd.

6 Paul Ludwig Landsberg, Die Erfahrung des Todes. Nachwort von Arnold Metzger, Frankfurt a. M. 1973, 14, 23 und öfter. Vgl. auch Eduard Zwierlein, Die Idee einer philosophischen Anthropologie bei Paul Ludwig Landsberg, Würzburg 1989, 77­94.

7 Auch Jacques Derrida, Apories. Mourir ­ s'attendre aux «limites de la vérité», Paris 1996, 48ff., versucht in einer neuen Lektüre von Heideggers «Sein und Zeit» die (Un-)Möglichkeit eines Redens von meinem Tod deutlich zu machen.

8 Die Literatur zu dieser Thematik findet sich zusammengestellt in: Alois M. Haas, Heinrich Seuses Sterbekunst, in: ders., Kunst rechter Gelassenheit. Themen und Schwerpunkte von Heinrich Seuses Mystik, 2. und durchgesehene Aufl., Bern u. a. 1996, 223­245.

9 Wolfgang Braungart, Ritual und Literatur, Tübingen 1996, 164.

10 Ars moriendi. Editio princeps. Photographisches Faksimile des Unicums im Besitze von T. O. Weigel in Leipzig 1869.

11 Nigel F. Palmer, Ars moriendi und Totentanz: Zur Verbildlichung des Todes im Spätmittelalter. Mit einer Bibliographie zur «Ars moriendi», in: A. Borst u. a. (Hrsg.), Tod im Mittelalter, Konstanz 1993, 313­334, hier 321­325.

12 Vgl. dazu Franz Falk: Die deutschen Sterbebüchlein von der ältesten Zeit des Buchdruckes bis zum Jahre 1520, Köln 1890, Neudruck: Amsterdam 1969, 1­7; Sister Mary Catharine O'Connor, The Art of Dying Well, New York 1942; Rainer Rudolf, Ars Moriendi. Von der Kunst des heilsamen Lebens und Sterbens, Köln u. a. 1957, 69­74; Alberto Tenenti, La vie et la mort à travers l'art du XVe siècle, L'Harmattan 1983, 57­64.

13 Zum folgenden vgl. die wichtigen Hinweise bei Tenenti (wie Anm. 12), 58­61.


Dr. Alois M. Haas (amhaas@ds.unizh.ch) ist ordentlicher Professor für deutsche Literatur am Deutschen Seminar der Universität Zürich.


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