Magazin der Universität Zürich Nr. 2/97

Bilder im Kopf

VON HEINI RINGGER

Bilder, mehr noch als Worte, haben eine seltsame Art sich in Erinnerung zu rufen. Manche drängen lebenslang. Gewollt, mehr noch ungewollt, tauchen sie auf zum Heil wie zum Unheil, verbinden Vergangenes und Gegenwärtiges, weisen rätselhaft auf Künftiges, tauchen wieder ab, zerrinnen oder wirken weiter.

Solche Erinnerungsbilder bilden ein unerschöpfliches, archetypisches Bilderarchiv selbst generierter Originale und inkorporierter Kopien. Originale, in der (kindlichen) Phantasie und Imagination inszeniert, und Kopien, technische (fotographische und filmische) Abbilder, treffen im Kopf zusammen und kreieren laufend neue Erinnerungsbilder. Bilder, die emotionalisieren, aktivieren, stimulieren und auch dämonisieren können. Bilder, die den Menschen immer wieder neu in die Sprache kommen lassen. Bilder, deren Sprache die Welt auch lesbar machen können.

Mehr noch als Bilder sind es aber Worte, die die Welt als Sprachbild zu gestalten und zu lesen vermögen. Das Wort, heisst es, war im Anfang. Dieser Anfang gibt offensichtlich keine Ruhe. Versteht man ihn nicht als zeitlichen Anfang, ist jeder Augenblick Anfang. Anfang im Gedanken und im Wort: Gleichsam Schöpfung im Wort. Das Wort, könnte man sagen, ist eine immaterielle, eigene Welt. Im Sprechen des Wortes entsteht Wirklichkeit. Alles geht im Prinzip vom Wort aus und ins Wort zurück. Es verbindet und trennt. Das gilt im Menschlichen wie Zwischenmenschlichen. Sprache und Sprechen braucht die sprechende und hörende Person.

Wer über Wort, Sprache, Text und Bild spricht, macht sich daher selber zum Thema. Das ist nicht zu trennen. Wer es dennoch trennt, macht sein Getrenntsein zum Thema. Das kann sich in Wort und Bild (in Menschen- und Weltbildern) äussern. Im Bild ist das Wort verfestigt, im Schreiben legt es fest, im Sprechen legt es offen und im Schweigen ist es frei. Bilder sind sozusagen raumzeitliche Verdichtungen des Wortes.

Nicht ganz zufällig ist «Welt als Text und Bild» Thema des vorliegenden Magazins. Bereits spricht man von einer visuellen Wende. Mit Macht tritt das Bild neben das Wort und die Zahl. Besonders das technische Bild. Seit Jahrzehnten drängen immer mehr technisch erzeugte Bilder in unser Bewusstsein: in Form von Fotos, Filmen, Videos, sowie Fernseh- und Computerbildern. Manche sprechen daher von einer allmählichen Verdrängung des Textes durch das Bild. Sie sehen den Menschen in neue Beziehungsmuster eingebettet – mit neuen Erlebnissen, Erkenntnissen, Werten und Handlungen.

Das ist nicht erstaunlich. Die bisher technisch erzeugten Bilder bilden nur einen Anfang. Der Vordenker des Globalen Dorfes, Marshall McLuhan, hat den Menschen bereits vor 30 Jahren als Kommunikationsnetz begriffen. Im Zentralnervensystem, einschliesslich Hirn, sah er den Bauplan für die Welt von morgen. Morgen wird immer mehr zum Heute. Die Computer werden zusehends zur medialen Verlängerung unserer Sinne. Virtuelle Realität und reale Virtualität generieren laufend neue Wirklichkeiten. Diese Apparatewelt zieht uns mit unseren Sinnen wieder hinein und lässt in unseren Köpfen Wirklichkeiten mit neuen Innenbildern entstehen. In diesen emportauchenden Lebensformen sind wir schon drin. Spürbar an der Beschleunigung des alltäglichen Lebens, die auch mit den technisch verfertigten Bildwelten zu tun hat: Als sprachliche Verdichtungen beschleunigen sie unsere Erlebniswelten.

Wissenschafter sind bei dieser Entwicklung an vordester Front mit dabei. Sie erzeugen neue Sichtbarkeiten, von denen man bisher nur träumen konnte. Sie geben den Blick frei in bisher verdeckte Mikro- und Makrowelten. Was mit Fernrohr und Mikroskop begann, setzt sich mit neuen bildgebenden Verfahren in Verbindung mit dem Computer fort: Der Mensch wird immer transparenter, die Erde und das Universum bis in verborgenste Winkel immer sichtbarer. Das Aussen- wird zum Innenbild, das Innen- zum Aussenbild.

Ob moderne Medizin, Astrophysik, Geographie, selbst Ethnologie und Mathematik, sie alle arbeiten mit bildgebenden Verfahren. In der Medizin wird der Körper des Menschen bis in den Millimeterbereich durchleuchtet. Ärzte spüren Krankheiten auf, reisen visuell durch den Körper oder führen schwierige Operationen zunächst virtuell und nachher real am Bildschirm durch. Noch weiter gehen neue Multimediatechniken. Neben dem Sehen werden immer mehr auch andere Sinne wie Hören und Tasten miteinbezogen.

Diese Kulturveränderung aufzuzeigen und nachzuzeichnen versuchen wir mit diesem Magazin. Der Bogen ist weitgespannt: Vom Innenbild zum Aussenbild, zum Weltbild, das mit technischen Bildern neu in unseren Köpfen inszeniert wird. – Niemand wird diese neue Videothek von Babel je wirklich nutzen, geschweige verstehen können. Die Übermacht der Bilder ruft nach Vergessen, nach Worten vor Babel, nach dem Auflösen der Gedanken, Worte und Bilder.


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Nicolas Jene (
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Last update: 20.07.97