Magazin der Universität Zürich Nr. 2/97

Visionen – virtuelle Welten im Kopf

Sie sind gefragt. Politiker und Parteien versprechen sie oder sprechen sie sich gegenseitig ab. Die Wirtschaft sehnt sich danach wie nach einer Goldader. In dem Mass, in dem sich Gegenwart und Zukunft verdüstern, wird der Ruf nach Visionen lauter, natürlich den positiven. Im heutigen Sprachgebrauch kommt ihnen eine zukunftweisende Verheissung zu. Eine irrational gepolte Kompassnadel, die den Kurs weisen soll.

VON PETER CORNELIUS CLAUSSEN

Einst war die Kirche auf Visionen abonniert, heute findet sich das Ersehnte eher in fremden Kulten. Und das Kunstwerk? Das visiert sein Käuferpublikum an wie jede andere Ware. Visionäres erwartet man in der Kunst allenfalls von Aussenseitern, Psychiatrisierten oder den jeweils Neuesten und Wildesten, kurz bei jenen, die als Antipoden unserer Zivilisation gelten.

Abb. 1: Hildegard von Bingen, zweite Vision des dritten Buches «Scivias» (Ehem. Landesbibliothek Wiesbaden). Nach einem gemalten Faksimile der Abtei Eibingen, das 1927­1933 nach der Originalhandschrift aus der Zeit um 1160­1170 angefertigt wurde.

 

Aber was meint Vision? Wörtlich Sehen, im Besonderen ein seherisches Sehen, innere Gesichte, aber auch optisch erfahrene Halluzinationen; Bilder also, die gesehen werden, ohne von den Augen als optisches Signal wahrgenommen worden zu sein. Was unterscheidet sie dann von Imagination und Phantasie? Vor allem ihr Zwangscharakter, ein eigengesetzlicher Ablauf, der sich dem Willen entzieht. Sind also auch Träume Visionen? In gewisser Hinsicht ja, nämlich solche des Schlafes. Sobald wir erwacht sind, können wir die rasch verblassenden Traumbilder klar von Wirklichkeit unterscheiden. Zwar wird von Traumvisionen berichtet, die meisten Menschen, die Visionen erlebt haben, bezeichnen ihren Zustand aber als überwach und behaupten, das Gesehene sei ihnen genauso real erschienen wie Wirklichkeit, ja sogar wirklicher.

Einbrüche von Innenbildern

In allen Religionen und damit auch in den prophetischen Büchern des Alten und den apokalyptischen des Neuen Testaments sind Visionen Einbrüche des Göttlichen (oder Dämonischen), oft inspirierte Einblicke in die Zukunft, gelegentlich warnend oder drohend über die Todesschranke hinaus in Himmel und Unterwelten. Wichtige Themen der christlichen Kunst – Weltgericht, Apokalypse, Verklärung – sind Versuche, überlieferten Visionstexten eine adäquate Bildform zu geben.

Mit dem Wort Vision ist ein Teil dieses religiösen und prophetischen Sinngehalts, allem aufklärerischen Spott zum Trotz, bis in unsere Zeit weitergetragen worden und säkularisiert zum Synonym für erlösenden Weitblick geworden. Das Prestige des Begriffs beruht offensichtlich auf einer längst obsoleten Bedeutung. Visionen sind in aller Munde, doch niemand glaubt an sie.

Am Anfang das Bild?

Am Anfang war das Bild. So möchte moderne Bewusstseinsforschung den Beginn des Johannesevangeliums umdeuten. Unser Sehen, das haben wir in den letzten Jahrzehnten gelernt, spiegelt nicht einfach die umgebende Wirklichkeit, sondern ist ein Konstrukt, das Gehirne mit einer Leichtigkeit und Schnelligkeit vollbringen, die Informatiker zum Staunen bringt. Die Kapazität, Bilder zu generieren, ist, sobald Bilderfahrung vorliegt, von den Sinneseindrücken des Auges unabhängig.

Ein immenser Vorrat virtueller Bilder ist in jedem Menschen latent abrufbereit. Diese visuellen Konstruktionen wären von den anderen, die von den Augen gespeist werden, nicht zu unterscheiden und würden sich mit ihnen mischen, wenn uns nicht «Zensoren» davor bewahrten, ständig mit dem kopfgemachten Bildersalat konfrontiert zu sein. Gäbe es solche Schranken nicht, wäre unser Leben in höchstem Masse kompliziert.

Selbstgeschaffenes Universum im Kopf

Der Autor dieser Zeilen ist Kunsthistoriker, mit Bildern vertraut und nicht unvertraut mit dem, was aus dem Mittelalter an Visionsliteratur überliefert ist, dazu seit langem interessiert an der Bildproduktion psychisch Kranker. Die virtuellen Bilder, die nach einer schweren Herzoperation über ihn herein- und aus ihm herausbrachen, trafen ihn trotzdem unvorbereitet: Ein acht Tage anhaltender Wahn, grösstenteils nicht von Wirklichkeit zu unterscheiden und übergenau im Gedächtnis bewahrt. Ein solcher Zustand, der auf Intensivstationen nicht eben selten ist, wird von den Klinikern «Durchgangssyndrom», von manchen Psychiatern «oneiroides (traumartiges) Erleben» genannt. Nach meiner Deutung handelt es sich um eine sinnvolle Leistung des Gehirns in Situationen, die als unerträglich empfunden werden, die aber auch durch asketische Übungen, Reizentzug oder Gifte provoziert werden können.

Das selbstgeschaffene Universum im Kopf tritt an die Stelle einer Welt, aus der die Überlebensperspektive entschwunden ist. Solche Erfahrungen werden sehr unterschiedlich, häufig als bedrohlich beschrieben. Die wenigsten reden darüber, obwohl ein missionarischer Eifer bestehen kann, das Erlebte weiterzugeben. (So vielleicht auch bei mir: «Herzwechsel. Ein Erfahrungsbericht», München 1996.)

Neue Bildproduktion

Es sieht so aus, als übernähme zu Ende unseres Jahrhunderts das rechnergenerierte Bild die Attraktion, die zu Beginn des Jahrhunderts die «Ursprünglichkeit» sogenannter Primitivismen hatte. Die neue Bildproduktion findet bislang vor allem in den Naturwissenschaften statt, betrifft aber in der Verformbarkeit des Computerweltbildes alle anderen Bereiche visueller Kultur. Künstler haben das eher gesehen als Kunsthistoriker, die sich nur zögernd den von anderen begonnenen «Visual Studies» zuwenden. Diese Zurückhaltung ist bedauerlich. Viele kunsthistorische Erfahrungen und Methoden sind auch in den neuen Bereichen wichtig, nicht nur was deren Ästhetik betrifft, sondern auch im Hinblick auf eine mögliche historische Vertiefung der neuen Oberflächlichkeit.

Eng mit den aktuellen Bildtheorien verknüpft sind die zuvor angesprochenen Vorstellungen der Hirnforschung über die kognitiven, sprich imaginativen Leistungen des Bewusstseins. Dass damit Kernfragen künstlerischer und insbesondere bildkünstlerischer Kreativität angeschnitten sind, liegt auf der Hand. Nimmt man den Sonderfall der Vision, stellt man allerdings fest, dass sich mit ihr fast ausschliesslich Textwissenschaften befassen. Dabei lägen hier Möglichkeiten auch für die Kunstgeschichte als Bildwissenschaft, historische Dimensionen und anthropologische Komponenten des alten und neuen Bilddenkens deutlich zu machen.

Visionen der Hildegard von Bingen

Abb.2: Hildegard von Bingen, sechste Vision des dritten Buches «Scivias». Es handelt sich um einen Teilbereich der unteren Mauerzone, deren Gesamtbild in Vision 2 (Abb. 1) wiedergegeben ist. Abb.3: Hildegard von Bingen, achte Vision des dritten Buches. Eine weitere von insgesamt zehn Visionen, die als Einzelgesichte die Topographie von Vision 2 (Abb.1) detaillieren.

Ein Beispiel geben die Visionen der Hildegard von Bingen (1098–1179). Es sind Gesichte, die von der gelehrten Äbtissin nicht nur beschrieben und gedeutet, sondern auch nach ihren Anweisungen bebildert wurden. Die so entstandenen Miniaturen verlassen in bemerkenswerter Weise die Konventionen mittelalterlicher Buchmalerei. In der Urschrift des «Liber Scivias» («Wisse die Wege», seit 1945 verschollen) ist das Abbild der zweiten Vision des dritten Buches (Abb. 1) besonders aufschlussreich: In einer goldenen Kreisfläche ist ein unregelmässiges zinnenbewehrtes Mauergeviert auf die Spitze gestellt: Türme, baumartige Auswüchse und rätselhafte Figuren gehen davon in alle Richtungen aus. Dieses Bild gibt eine Überschau für die nächsten zehn Einzelvisionen (zwei davon in Abb. 2 und 3), die jeweils einen Bezirk der eingangs gezeigten Topographie vergrössern und um Einzelheiten bereichern.

Das Ganze funktioniert meiner Meinung nach nicht aufzählend illustrierend, sondern nach visuellen Gesetzen, denen der Text zu folgen hat. Das Auge übernimmt die Führung und taucht vertiefend ein, so wie man heute per Mausklick ein Computerbild aufschliessen, detaillieren und erweitern kann. Dieses Eintauchen ins Bild, das sich in der «Subdivision» jeweils wieder als eigenes Universum entpuppen kann, kennzeichnet übrigens den Ablauf vieler innerer Gesichte. Eine Vorgehensweise, die schlagend für die Authentizität der Visionen Hildegards spricht und zugleich für eine relativ getreue Wiedergabe in Bild und Text. Trotz der Priorität des Geschauten ist das Buch mit seinen dreissig Visionen dabei als Einheit zu betrachten, zu der sich Bild und Text ergänzen.

«Visionsberichte» eines Künstlers aus der Zeit des Jugendstils haben wir von Hermann Obrist (1862–1927), der in zeichnerischen, textilen und plastischen Nachschöpfungen seiner Halluzinationen zwischen 1895 und 1900 die frühesten abstrakten Kunstwerke (Abb. 4) entwarf. Zu berücksichtigen ist aber auch das Material, das die Sammlungen der Kunst «Geisteskranker» (Prinzhorn-Sammlung, Heidelberg; Teile der Collection de l'art brut, Lausanne) bereithalten. Das Interesse daran ist zwar gross, doch hat die Frage nach der gestaltenden Umsetzung psychotischer Bildwelten bisher kaum Antworten gefunden.

Beuys' visionäres Erlebnis

Wie sehr ein Künstler durch ein visionäres Erlebnis geprägt sein kann, ist vielleicht am besten am Werk des Joseph Beuys nachzuprüfen. Jeder kennt seine Fettecken und Filzhüllen, Schlitten und anderen Utensilien des Überlebens. Beuys' lebens- und werkbegleitende Erzählung berichtet von Tataren, die ihn nach einem Flugzeugabsturz 1944 auf der Krim zwölf Tage in Talg und Filz gehüllt, geschützt und geheilt hätten. Man weiss inzwischen, dass der Stuka-Bordfunker bereits einen Tag nach seinem Absturz im Militärlazarett lag, das er erst drei Wochen später verlassen konnte.

Meine durch Krankheitserfahrung gestützte These lautet: Der Schwerverletzte hat seine pflegerische Umgebung während einer oneiroiden Phase visionären Erlebens in eine kopfgemachte, von Sehnsucht nach Ursprünglichkeit geprägte Gegenwelt («eurasische» Krimtataren) umgedeutet. Dieses virtuelle Geschehen ist ihm auch später als Wirklichkeit erschienen und wurde Teil seines missionarischen Auftrags als Künstler (Abb. 5).

Abb. 4: Hermann Obrist, Bewegungen, 1890­1995. Gipsmodell im Museum Bellerive in Zürich. Abb.5: Joseph Beuys, Objekt aus «Eurasia» 1966 (Privatsammlung)

Virtuelle oder selbstgenerierte Vision

Ob sich solche disparaten Erscheinungen zu einem System zusammenschliessen und ob die Umsetzung von Visionen in gestaltete Bilder erkennbare Gemeinsamkeiten aufweist, ist nicht abzusehen. Die Ergebnisse der historischen Textwissenschaften über Visionsberichte des Mittelalters zeigen schon jetzt enorme Unterschiede auf zwischen den visuell reichen, abenteuerlichen und polemischen Gesichten des früheren Mittelalters und den eher gefühlten als geschauten Entrückungs- und Vereinigungserlebnissen der Mystik seit dem 13. Jahrhundert. Der Forschungsansatz ist notwendigerweise interdisziplinär und wird Untersuchungen über die Wirkung halluzigener Drogen ebenso beachten müssen wie Beobachtungen der Religionswissenschaft und Ethnologie zu ekstatischen Praktiken, in denen innere Bilder eine Rolle spielen.

Ob der strapazierte Begriff Vision, mit dem sich heute nicht nur Kunstausstellungen, sondern auch Kinopaläste, Modegeschäfte und Kapitalinstitute schmücken, dazu taugt, den überkommenen Wortsinn und den Bezug zu heutiger Bildtheorie deutlich werden zu lassen, ist noch nicht abzusehen. Um Missverständnissen vorzubeugen, wäre es vielleicht besser, von virtueller oder selbstgenerierter Vision zu sprechen.


Literatur

Apke, Bernd: «Gehe hin und bilde dieses!» Die Bedeutung der Visionen Hermann Obrists für sein künstlerisches Werk, in: Okkultismus und Avantgarde. Von Munch bis Mondrian 1900­1915. Ausstellungskatalog Schirn, Frankfurt 1995, 688­693.

Benz, Ernst: Die Vision. Erfahrungsformen und Bilderwelt, Stuttgart 1969.

Claussen, Peter Cornelius: «Herzwechsel». Ein Erfahrungsbericht. Carl Hanser Verlag, München 1996.

Dinzelbacher, Peter: Mittelalterliche Visionsliteratur. Eine Anthologie, Darmstadt 1989.

Haas, Alois: Traum und Traumvision in der deutschen Mystik, in: Gottleiden ­ Gottlieben. Zur volkssprachlichen Mystik im Mittelalter, Frankfurt 1989, 109­126.

Hildegardis Scivias, ed. Adelg. Führkötter (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis XLIII, XLIII A), Turnholtii 1978.

Schmidt-Degenhard, Michael: Die oneiroide Erlebnisform ­ Zu Problemgeschichte und Psychopathologie des Erlebens fiktiver Wirklichkeiten, Berlin/Heidelberg usw. 1992.

Eine Fülle von Anregungen bieten die Beiträge in: Kunstforum 124, 1993 (Das neue Bild der Welt. Wissenschaft und Ästhetik).


Dr. Peter Cornelius Claussen (claussen@khist.unizh.ch) ist ordentlicher Professor für Kunstgeschichte des Mittelalters am Kunstgeschichtlichen Seminar der Universität Zürich.


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Last update: 20.07.97