unimagazin Nr. 2/98

Wir werden immer älter, aber geht es uns auch gut dabei?

Die letzten Jahrzehnte haben dramatische wirtschaftliche, soziale sowie demographische Änderungen mit sich gebracht. Sie bedeuten für das 21. Jahrhundert eine neue gesundheitliche Herausforderung. Die Alterung der Bevölkerung und die weitere Erhöhung der Lebenserwartung definieren dazu wichtige Rahmenbedingungen.

VON FELIX GUTZWILLER

Über lange Jahrhunderte blieb die Lebenserwartung relativ stabil und betrug durchschnittlich 35 bis 40 Jahre. In Europa wüteten die grossen Seuchenzüge der Pest. Der Schwarze Tod hat wohl rund 50% der mittelalterlichen Bevölkerung hinweggerafft. Diese grossen Seuchen waren auch Ausgangspunkt für erste epidemiologische Arbeiten, für die Epidemiologie, damals eine eigentliche Seuchenlehre.

Erst in der Aufklärung konnte auch die Schweiz auf eine grosse Zahl weitblickender Staatsmänner, Geistlicher, Naturforscher undÄrzte zählen, welche sich zum Ziele gesetzt hatten, die physische Wohlfahrt des Volkes zu heben. Die meisten von ihnen waren der Volksbildungsbewegung verbunden, die ihren Höhepunkt schliesslich in Leben und Werk Johann Heinrich Pestalozzis fand.

Noch weit bis ins 19. Jahrhundert hinein waren grössere und kleinere Epidemien eine der Sorgen desöffentlichen Gesundheitswesens. So brachen immer wieder Pockenepidemien (1865, 1870), Choleraepidemien (1867) oder aber Typhusepidemien (1837, 1848) aus. Auch die Malaria blieb bis zur Linthkorrektur ein Problem.

Einer dieser Epidemien, der Typhusepidemie von 1837, fiel auch der deutsche Dichter Georg Büchner zum Opfer, der als Emigrant nach Zürich gekommen war.
Mit der zunehmenden Verbesserung der allgemeinen Lebenserwartung in diesem Jahrhundert lässt sich ein sogenannter epidemiologischer Wandel erkennen: erste Anzeichen der «neuen Krankheiten», welche mit demÄlterwerden der Bevölkerung zusammengehen.

Lebenserwartung heute und morgen

Die mittlere Lebenserwartung hat in den letzten hundert Jahren eine dramatische Entwicklung durchlaufen. Bei den Neugeborenen ist die Lebenserwartung um etwa 100% gestiegen, bei den Dreissigjährigen um rund 45% bei Frauen und 35% bei Männern.

Alter Personen in Tausend Zunahme
1988 2000 2025 1988–2025 in Prozent
65–69 Jahre 289 314 421 +46%
70–74 Jahre 228 272 361 +58%
75–79 Jahre 207 224 310 +50%
80–84 Jahre 142 143 218 +54%
85•89 Jahre 70 85 106 +51%
90 und mehr Jahre 24 40 50 +108%
Quelle: Statistisches Jahrbuch der Schweiz 1990, Basis: Hauptszenario 2 A-86 des Bundesamtes für
Statistik.

Tab. 1: Voraussichtliche Entwicklung der Anzahl älterer Personen

Todesursache Männer Frauen
PYLL % PYLL %
Alle Ursachen 180 541 100 85 633 100
Krebs 40 429 22 32 633 38
Herz/Kreislauf 29 184 16 10 273 12
– koronare Herzkrankheit 14 659 8 2 749 3
Aids 15 157  8 5 151 6
Unfälle 39 127 22 10 886 13
– Motorfahrzeugunfall 13 428 7 4 381 5
Suizid 23 644 13 7 953 9
Übrige Ursachen 33 000 19 18 800 22
Quelle: ISPMZ, M. Bopp, 1995

Tab. 2: Verlorene potentielle Lebensjahre (2.–70. Lebensjahr) nach Todesursachen und Geschlecht, 1994

Bei den Achtzigjährigen findet man ebenfalls eine Steigerung um 67% bei Frauen und 39% bei Männern. Die Lebenserwartung der Frau lag immer einige Jahreüber der der Männer, die Differenz vergrössert sich zunehmend. Auch die neusten Zahlen zeigen einen weiteren geringen Anstieg der Lebenserwartung.

Dabei ist festzuhalten, dass sichüber die Jahrhunderte die maximal zu erwartende Lebensdauer nicht dramatisch verändert hat. Alte und sehr alte Menschen hat es in jeder Gesellschaft gegeben: Allerdings blieben sie die Ausnahmen. Heute hingegen erreichen mehr Menschen denn je in der Geschichte der Industrienationen ein relativ hohes Alter. Man spricht von der «Ausbuchtung der Überlebenskurve». Diese Entwicklung kann man auch in der Schweiz feststellen (vgl. unten stehende Graphik). Wohin wird die immer weitere «Ausbuchtung der Überlebenskurve» der Menschen führen, eventuell bis zur «Rektangularisierung» (Ausleben der biologisch gegebenen, artspezifischen Lebensspanne durch alle)? Werden wir, wie das ein Kritiker pointiert gesagt hat,über den «Gesundheitsterrorismus» zu einer eigentlichen «Alzheimer-Gesellschaft» alter, kranker, psycho-organisch eingeschränkter und einsamer Menschen? Oder verläuft die Entwicklung von den Zeiten rasch tötender Infektionskrankheitenüber den epidemiologischen Wandel hin zu den heute bekannten chronischen Krankheiten – mit der ihnen eigenen, oft langen und schmerzhaften Pflegebedürftigkeit – zu weiteren Veränderungen? Ist es denkbar, dass in der Zukunft viele Menschen nach einem langen, qualitativ befriedigenden Leben und nach Erschöpfung der biologisch und genetisch bestimmten Lebenszeit sterben?

Überlebensordnungen (24557 Byte)Überlebensordnungen in der Schweiz seit dem 16. Jahrhundert

16. bis 18. Jahrhundert: Genf, beide Geschlechter kombiniert 1876/80 bis 1939/44: ganze Schweiz, Männer; 1988/93: ganze Schweiz, Männer und Frauen; 2020: ganze Schweiz, Frauen (Szenario A-00-95 «Trend»)
Quelle: Bopp & Gutzwiller 1998

Die Frage ist heute nicht definitiv zu beantworten, fast sicher ist hingegen die voraussichtliche Entwicklung der Anzahlälterer Personen (Tabelle 1). Vor allem die Zahl der Betagten und Hochbetagten wird in den nächsten Jahren deutlich zunehmen. Es ist zu hoffen, dass diese Zunahme an Jahren von einer weiteren Zunahme möglichst behinderungsarmer Lebensjahre begleitet wird. In jedem Falle wird die Schweiz in der ersten Hälfte des nächsten Jahrtausends das OECD-Land sein, das den höchsten Anteil an Betagten und Hochbetagten aufweist. Diese Entwicklung bedeutet für unsere Gesellschaft eine entscheidende Herausforderung in sozialer,ökonomischer und gesundheitlicher Hinsicht.

Gesundheitsbuchhaltung

Die moderne Gesundheitsberichterstattung hat durchaus schon eine gewisse Tradition in verschiedenen Ländern. Auch in der Schweiz sind erste Arbeiten zu einer entsprechenden Berichterstattung im Gange. Es geht darum, gesundheitsstatistische Daten derart aufzubereiten, dass sie Entscheidungshilfen für die Gesundheitspolitik werden können.

Methodische Grundlage dazu ist die moderne Epidemiologie, gemäss der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) «die Lehre der Verteilung von Krankheiten, physiologischen Variablen und sozialen Krankheitsfolgen in menschlichen Bevölkerungsgruppen sowie die Lehre der Faktoren, welche diese Verteilung beeinflussen».

Damit ergänzt die Epidemiologie die Individualmedizin mit einer bevölkerungsmedizinischen Perspektive. Sie interessiert sich nicht für die Wirkung von Krankheit bei einem einzelnen Individuum, sondern für die Krankheitsverteilung in ganzen Bevölkerungsgruppen. In der Individualmedizin spricht man von Diagnose, wenn man die Abklärung von Beschwerden bei einem Individuum meint. Im medizinischen Sinn wird daraus eine eigentliche «Bevölkerungsdiagnostik».

Ausgehend von der idealistischen Definition der WHO, wonach «Gesundheit ein Zustand vollkommenen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens» sei, wird heute versucht, immer mehr positive Gesundheitsindikatoren zu messen und nicht nur die negative Umkehr von Gesundheit, nämlich Krankheit und Tod, darzustellen.

Eine Möglichkeit einer derartigen «Gesundheitsbuchhaltung» ist die Darstellung der verlorenen potentiellen Lebensjahre (Tabelle 2). Dieses Konzept versucht, die Todesfälle nach ihrem Eintretensalter zu gewichten. Das heisst, dass zum Beispiel bei einem Todesfall eines/einer Jugendlichen (durch Suizid, einen Verkehrsunfall usw. in dessen/deren zwanzigstem Lebensjahr) davon ausgegangen wird, dass er/sie zumindest weitere fünfzig Lebensjahre vor sich gehabt hätte. Man spricht also von fünfzig verlorenen potentiellen Lebensjahren.

Die Aufaddierung dieser Verluste zeigt, dass in der Schweiz insgesamt rund 260 000 Lebensjahre pro Jahr verlorengehen. Geht man den Gründen nach, dann wird klar, dass dafür vor allem Aspekte des Lebensstils wie Ernährung, Bewegung, Suchtmittelkonsum einzelner beziehungsweise ganzer Bevölkerungsgruppen verantwortlich sind. Dies weist auch darauf hin, dass ein deutliches Potential für weitere Zugewinne an frühen und mittleren Lebensjahren besteht.

Prozess der Selbstbestimmung

Die weiter zunehmende Kostenentwicklung, die Veränderung der Krankheits- beziehungsweise Sterblichkeitsstruktur, das Älterwerden der Bevölkerung sowie der Personalnotstand im Bereich der Pflege und Versorgung markieren die entscheidenden Problemfelder des zukünftigen Gesundheitswesens. Das am 1. Januar 1996 neu in Kraft getretene Krankenversicherungsgesetz KVG versucht, diesen Herausforderungen zu begegnen. Es ist aber klar, dass für ein auch in Zukunft anhaltendes Ausgabenwachstum unter anderem folgende Faktoren sprechen:

Dieser Herausforderung wird insbesondere dadurch zu begegnen sein, dass eine im Sinne der WHO-Ottawa-Charta verstandene Gesundheitsförderung an Raum gewinnt: «Gesundheitsförderung zielt auf einen Prozess, allen Menschen ein höheres Mass an Selbstbestimmungüber ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen.»


Dr. Felix Gutzwiller (gutzwill@ifspm.unizh.ch) ist ordentlicher Professor für Sozial- und Präventivmedizin.


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Last update: 30.07.98