unimagazin Nr. 2/98

Die Familie im westeuropäischen Kleinstaat

Belgien, die Niederlande und die Schweiz haben im Laufe der Geschichte konkordanzdemokratische Formen entwickelt, die auch die jeweiligen Wohlfahrtsstaaten prägten. Eine Studie soll jetzt aufzeigen, inwiefern sich die Sozialpolitiken dieser drei Länder auf den Familienwandel auswirken.

VON BEAT FUX

Studien, in denen die Entwicklung europäischer Wohlfahrtssysteme diskutiert wird, stellen meist das deutsche Modell der staatlichen Zwangsversicherung, welches mit dem Namen Otto von Bismarcks verknüpft ist, das britische Modell der nationalen Volksversicherung, das mit den Reformplänen von William Henry Beveridge in Verbindung gebracht wird, den französischen Code de la Famille oder das schwedische Modell der Familienpolitik, das eine Gleichstellung zwischen den Geschlechtern anvisiert, ins Zentrum.

Mit der Studie «Wandel familialer Lebensformen und wohlfahrtsstaatliche Steuerung» wird demgegenüber ein Vergleich zwischen Belgien, den Niederlanden und der Schweiz angestrebt.

Ausgeprägte Binnensegmentierungen

Eine Reihe von Gründen motivierte zur Selektion von drei westeuropäischen Kleinstaaten. Sie zeichnen sich zunächst durch eine vergleichbare Bevölkerungsgrösse und -zusammensetzung aus. In Belgien und der Schweiz erfolgte der industrielle Take-off bereits um 1830. Das gleiche gilt auch für die Niederlande, wobei die Industrialisierung dort zögerlicher vonstatten ging als in den beiden anderen Ländern.

Diese Ausgangslage trug dazu bei, dass Belgien und die Schweiz frühzeitig in die Phase des demographischen Übergangs eintraten. In den Niederlanden ging zumindest die Sterblichkeit früher zurück als in den meisten europäischen Ländern. Vor allem aber handelt es sich bei allen drei Ländern um Gesellschaften mit ausgeprägten Binnensegmentierungen.

Haushaltsform

1960

1970

1980

1990

Einpersonenhaushalte

Belgien (a)

16,8

18,8

23,2

28,4

Niederlandeb

12,0

17,1

22,1

29,2

Schweiz

14,2

19,6

29,0

32,4

Übrige Nichtfamilienhaushalte

Belgien (a)

3,0

3,0

2,8

3,0

Niederlande (b)

3,1

2,5

5,6

6,8

Schweiz

7,1

5,9

4,4

3,3

Familienhaushalte ohne Kinder

Belgien (a)

27,2

26,2

24,9

22,9

Niederlande (b)

22,0

22,2

22,7

22,2

Schweiz

24,3

24,2

23,9

26,7

Familienhaushalte mit Kindern

Belgien (a)

44,3

43,7

40,8

35,7

Niederlande (b)

55,1

51,4

43,3

35,0

Schweiz

47,3

44,6

37,2

32,3

Einelternfamilien

Belgien (a)

6,5

6,5

7,0

9,2

Niederlande (b)

5,5

4,8

6,0

6,6

Schweiz

6,2

5,2

5,1

5,1

Übrige Familienhaushalte (2+ Familienkerne)

Belgien (a)

2,2

1,9

0,3

0,8

Niederlande (b)

1,7

1,2

0,3

0,2

Schweiz

0,9

0,5

0,4

0,3

Haushaltsform unbekannt

Belgien (a)

0,0

0,0

1,1

0,1

Niederlande (b)

0,6

0,8

0,0

0,0

Schweiz

0,0

0,0

0,0

0,0

Anmerkungen: (a) 1961, 1970, 1981, 1991; (b) 1960, 1971, 1981, 1989.
Quelle: Nationale Volkszählungen

Entwicklung der privaten Haushaltsformen 1960–1990

Hervorzuheben ist die sprachkulturelle Vielfalt: 58% Flamen und 33% Wallonen in Belgien; 64% deutsch-, 19% französisch- und 8% italienischsprachig in
der Schweiz; Friesisch ist in den Niederlanden zwar Amtssprache, kann jedoch quantitativ vernachlässigt werden. Auch die Koexistenz verschiedener Konfessionen ist ein Merkmal: In den Niederlanden sind 36% der Bevölkerung katholisch, 26% kalvinistisch und 35% konfessionslos; in der Schweiz 46% katholisch, 40% protestantisch und rund 10% konfessionslos; in Belgien ist der Anteil der katholischen Bevölkerung mit 89% sehr hoch, rund 11% sind konfessionslos.

Die wirtschaftliche wie auch die politische Entwicklung der drei Länder war zu Beginn des 19. Jahrhunderts geprägt durch den starken Einfluss des bürgerlichen Liberalismus, der jedoch die beiden anderen grossen historischen Ideologien (Konservatismus und Sozialismus) auf sehr unterschiedliche Art und Weise zu integrieren vermochte. Die Integration unterschiedlicher Überzeugungswelten führte in allen drei Ländern zur Entwicklung konkordanzdemokratischer Formen der politischen Konfliktregulierung, was sich nicht zuletzt auf die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates ausgewirkt hat. Diesen unterschiedlichen Entwicklungspfaden gilt zunächst das Augenmerk der Studie. In einem zweiten Schritt wird sie sich mit der Frage beschäftigen, ob und auf welche Weise sich die nationalen Sozialpolitiken auf den Familienwandel auswirken.

Idealtypisches Belgien

In Belgien widersetzten sich klerikale Kreise schon früh dem Bestreben des dominierenden liberalen Grossbürgertums, einen Laienstaat zu etablieren. Es gelang ihnen, das Bildungswesen der staatlichen Kontrolle zu entziehen und ein «freies», das heisst katholisches Volksschulwesen zu verwirklichen. Infolge der rasanten Entwicklung der wallonischen Schwerindustrie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verschärften sich die Klassengegensätze stärker als in der Schweiz oder den Niederlanden.

Obwohl sich die belgische Arbeiterschaft schon früh organisierte, war es die christlich-demokratische Sozialbewegung, welche 1884 die Regierungübernahm und bis 1945 – stimuliert durch die päpstliche Enzyklika «Rerum novarum» – sozialpolitische Reformen durchsetzte (zum Beispiel die Regelung der Kinderarbeit, Unfall- und Krankenversicherung, Rentenversicherung) und damit die soziale Frage entschärfte.

Die Klerikalen verloren erst 1919, nach der Einführung des allgemeinen Wahlrechts, die Parlamentsmehrheit. Jedoch hat die Christliche Volkspartei auch während der Zwischen- und Nachkriegszeit in wechselnden Koalitionen der belgischen Sozialpolitik nachhaltig ihren Stempel aufgedrückt. Einflüsse des Katholizismus lassen sich beispielsweise im Familienrecht finden: Das belgische Zivilrecht anerkennt die Heirat weniger als eine individuelle Entscheidung denn als Familiengeschäft, oder es erschwert die Ehescheidung durch legale Restriktionen.

Entsprechend der sozialkatholischen Doktrin, wie sie in den päpstlichen Sozialenzykliken formuliert wurde, entwickelte sich im Bereich der Kinderbetreuung und des Vorschulwesens früh ein breit gefächertes Sortiment an freiwilligen intermediären Institutionen, die häufig staatlich subventioniert wurden. Die Sozialversicherungen zeichnen sich durch eine ausgeprägte Familienorientierung (finanzielle Transfers zugunsten von Familien) aus. So stehen in Belgien Anfang der neunziger Jahre einer nicht verheirateten Person, nach Abzug aller Steuern und Sozialabgaben, nur mehr 62,7% ihres Bruttoeinkommens zur Verfügung, während eine verheiratete Person mit zwei Kindernüber 87,3% ihres Roheinkommens verfügt.

Obwohl sich die fiskalische Belastung stark unterscheidet, fällt in den Niederlanden und in der Schweiz die Differenz des verfügbaren Einkommens zwischen Singles und Familien mit zwei Kindern markant kleiner aus (Singles: NL 58,7%, CH 78,6 %, Familien mit zwei Kindern: NL 69,2%, CH 91,3%. Vgl. OECD 1996).
Es wäre jedoch unzutreffend, würde man Belgien nur auf seine konservativen und katholischen Wurzeln verkürzen. Bereits Henri Pirenne hat in seiner «Histoire de Belgique» (1932) den weltoffenen Kosmopolitismus Belgiens als herausragendes Charakteristikum des Landes beschrieben.

Belgien, 1930 als Einheitsstaat nach französischem Muster gegründet, war hingegen wenig erfolgreich, die sozial unterlegene flämische Sprache und Kultur zu integrieren. Der Sprachenstreit kam immer wieder zum Vorschein und konnte in der Nachkriegszeit, als die flämische Wirtschaft jene Walloniensüberholte, nur auf sezessionistische Art – durch die Festlegung von Sprachgrenzen 1963 und die Gewährung einer Teilautonomie 1970 –, und nicht in Richtung einer föderalistischen Integration geschlichtet werden.

Während der Nachkriegszeit gelang es Belgien, das System der sozialen Sicherheit kontinuierlich auszubauen. 1991 belief sich der Gesamtaufwand auf 56 228 Mio. US-Dollar (kaufkraftbereinigt), was 28,5% des Bruttoinlandprodukts entspricht (vgl. ILO 1992 und 1996). Damit rangiert Belgien hinter Schweden, den Niederlanden, Dänemark und Frankreich auf den vorderen europäischen Rängen.

Gemäss Esping-Andersens Typologie der Wohlfahrsregime (1990) zeichnet sich das Land durch einen hohen Anteil an konservativen Merkmalen, einen mittleren Anteil an sozialistischen sowie einen geringen Anteil an liberalen Merkmalen aus und unterscheidet sich damit idealtypisch von den Niederlanden und der Schweiz.

Sozialistisch gepägte Niederlande

Nachdem die Niederlande ihre Rolle als Weltmacht verloren hatten und wie Belgien und die Schweiz von den Folgen der Industrialisierung betroffen wurde, musste auch die einstige Führungsschicht, das Handelsbürgertum, seine Macht teilen. Im Unterschied zu den anderen beiden Ländern gelang es jedoch keiner der politischen Parteien, eine Vormachtstellung einzunehmen. Vielmehr entwickelte sich Ende des 19. Jahrhunderts ein System asymmetrischer Toleranz, das unter dem Titel «Versäulung» bekannt wurde.

Die Katholiken, die Kalvinisten und später auch die Sozialisten etablierten ihre eigenen sozialen und sozialpolitischen Institutionen und blockierten damit lange Zeit die Errichtung allgemeiner Sozialversicherungen. Noch 1950 waren nur rund 40 % der Bevölkerung gegen Risiken wie Unfall, Krankheit oder Alter abgesichert, ein Wert, der nur von Italien unterboten wurde. Erst mit dem Zerbröckeln der Säulen entstanden in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre Volksversicherungen, die gegenüber den korporatistischen Strukturen an Boden gewannen. Seither wurde der Wohlfahrtsstaat mit bahnbrechendem Tempo ausgebaut.

Mit einem Gesamtaufwand von 98 012 Mio. kaufkraftbereinigten US-Dollar im Jahr 1993 oder 31,7% des Bruttoinlandprodukts nimmt der niederländische Sozialstaat heute hinter Schweden eine Spitzenposition in Europa ein (vgl. ILO 1992 und 1996). Esping-Andersen charakterisiert ihn durch seine starke sozialistische Prägung, verknüpft mit mittleren Anteilen sowohl an konservativen wie auch liberalen Regimemerkmalen.

Liberales Gegenmodell Schweiz

Die Schweiz kann gegenüber Belgien und den Niederlanden als das liberale Gegenmodell verstanden werden, in dem sozialistische Merkmale mittelmässig und konservative schwach vertreten sind (Esping-Andersen). Zwar kann etwa anhand der Fabrikgesetzgebung, des Ehe- und Familienrechts, des Kindsrechts oder auch der Alimentenbevorschussung belegt werden, dass die Schweiz immer wieder fortschrittliche rechtliche Regelungen zustande brachte. In quantitativer Hinsicht beliefen sich jedoch 1993 die Gesamtaufwendungen für soziale Sicherheit auf 47 669 Mio. kaufkraftbereinigte US-Dollars, was 20,5 % des Bruttoinlandprodukts gleichkommt. Es ist dies nur rund der Hälfte dessen, was die Niederlande für den gleichen Aufgabenbereich aufwenden (vgl. ILO 1992 und 1996). Die Schweiz liegt somit im europäischen Sozialstaatsvergleich auf einem hinteren Rangplatz.

Zur Bewertung dieses Sachverhalts gilt es jedoch drei Faktoren zu berücksichtigen:

  1. Der Föderalismus stimulierte die Implementation subsidiärer sozialpolitischer Arrangements und trug zur starken Ausdifferenzierung von freiwilligen Einrichtungen und Selbsthilfeorganisationen bei.
  2. Nicht ohne Zynismus muss erwähnt werden, dass es der Schweiz lange Zeit gelungen ist, die Arbeitslosigkeit migrationspolitisch zu kontrollieren und damit den Aufwand für einen Bereich, für welchen Belgien 15% und die Niederlande 13% der gesamten Sozialausgaben verwenden, auf bescheidenen 5% zu halten.
  3. Es gilt in Erinnerung zu rufen, dass die staatliche Sparsamkeit die Budgets von Individuen und Familien entlastet, indem markant weniger Steuern und Sozialabgaben eingefordert werden als in den Niederlanden und Belgien. Dies ermöglicht es Individuen und Familien, ihre spezifischen Bedürfnisse eigenverantwortlich zu organisieren, schafft aber auch Hürden und Hindernisse, was anhand der Familienpolitik (zum Beispiel fehlende Betreuungseinrichtungen) leicht nachgewiesen werden kann.

Vorläufige Hypothesen

Wenn Belgien ein konservatives, die Niederlande ein sozialistisches (angereichert durch konservative und liberale Elemente) und die Schweiz ein liberales Sozialstaatsregime repräsentieren, stellt sich die Frage, ob und in welcher Weise sich diese Typen in der Entwicklung von Haushaltsformen und Familienstrukturen widerspiegeln. Trotz der zunächst vielleichtüberraschenden Gleichartigkeit der Entwicklungen lassen sich vorläufige Hypothesen formulieren (vgl. Tabelle S. 26).
Familienhaushalte mit und ohne Kinder machen in allen drei Ländern rund 60% aller Privathaushalte aus. Kontrolliert man Zivilstand und Alter, fällt auf, dass die Ehe in Belgien bis dato verbreiteter ist (81% der jüngeren Paarhaushalte) als in beiden anderen Ländern (Niederlande: 71%; Schweiz: 70%). In der Schweiz und in den Niederlanden lebt ein knappes Viertel der unter Dreissigjährigen in Konsensualpartnerschaften, während der entsprechende Anteil in Belgien bei nur rund 10% liegt. Zum Zeitpunkt der Geburt eines ersten Kindes sind Konsensualpartnerschaften jedoch in allen drei Ländernäusserst selten (je nach Alter zwischen 2% und 6%).
Ein analoger Unterschied lässt sich auch im Familiensektor feststellen. Insgesamt unterscheiden sich die Anteile der Familienhaushalte mit Kindern zwischen den drei Ländern kaum. Unter der jüngeren Bevölkerung (bis zum 44. Altersjahr) ist die Neigung zur Elternschaft in Belgien deutlich höher (74%) als in den Niederlanden (63%) oder der Schweiz (65%). Infolge der geringeren Wiederverheiratungsneigung sind in Belgien ausserdem Einelternfamilien verbreiteter als in den beiden Vergleichsländern.

Haushalte mit zwei und mehr Familienkernen (Grosseltern, Eltern und Kinder) haben zwar in allen drei Ländern markant abgenommen. Sie sind jedoch in Belgien noch häufiger anzutreffen. Bei denübrigen Haushaltsformen sind die Unterschiede zwischen den drei Ländern unbedeutend (zum Beispiel Einpersonenhaushalte) oder dürften mit Zuordnungsunterschieden zusammenhängen (zum Beispielübrige Nichtfamilienhaushalte).

Diese Befunde lassen die Vermutung zu, dass sich die Dominanz der katholischen Konfession in der höheren Bewertung von Ehe, Kindern und Verwandtschaftsstrukturen sowie dem entsprechenden Verhalten ausdrückt. Zwischen der Ausgestaltung des Sozialstaates und der Entwicklung von Haushaltsstrukturen sind vergleichbare Wirkungszusammenhänge weniger leicht zu finden, wie der Vergleich zwischen den Niederlanden und der Schweiz zeigt.
Es ist zu vermuten, dass ein gut ausgebauter Sozialstaat beispielsweise im Bereich der Erwerbstätigkeit von Frauen Restriktionen verringert, die in der Schweiz nach wie vor von Belang sind. Umgekehrt kann aber auch die Vermutung geäussert werden, dass das liberale Modell der Schweiz durchaus auch Vorzüge aufweist, die im Zuge der immer knapper werdendenöffentlichen Ressourcen auch international zunehmende Beachtung finden könnten.


Dr. Beat Fux (fux@soziologie.unizh.ch) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Soziologischen Institut der Universität Zürich


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Nicolas Jene (upd@zuv.unizh.ch)
Last update: 30.07.98