unimagazin Nr. 2/98

Wandel der Arbeitswelt im Spiegel von Stelleninseraten

Stelleninserate sind eine reichhaltige Datenquelle für die sozialwissenschaftliche Erforschung des Wandels der Arbeitswelt. Dennoch wurde sie bislang kaum genutzt. Ein soziologisches Forschungsprojekt betritt diesbezüglich Neuland. Für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts wird auf der Basis einer grossen Stichprobe von Stelleninseraten der Wandel der Nachfrage nach beruflichen Qualifikationen in der Schweiz untersucht.

VON MARLIS BUCHMANN UND STEFAN SACCHI

Der Arbeitsmarkt in westlichen Industrieländern ist wohl derjenige gesellschaftliche Teilbereich, welcher in jüngster Zeit besonders dramatischen Wandlungen unterliegt. Die sich hartnäckig haltende Massenarbeitslosigkeit ist dabei nur eine, wenn auch besonders betrübliche Erscheinungsform des gegenwärtigen Strukturwandels der Arbeitswelt. Gewandelte Beschäftigungsformen und neuartige Arbeitszeitmodelle sind ebenso markante Kennzeichen veränderter Arbeitsmarktverhältnisse. Und die nachweislich rege Weiterbildungsteilnahme zumindest eines Teils der erwerbstätigen Bevölkerung macht deutlich, dass berufliche Qualifikationen je länger je mehr ergänzt, erweitert oder gar ersetzt werden müssen, um die Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu wahren. In diesem Zusammenhang besonders augenfällig ist gerade im Falle der Schweiz die beträchtliche Anzahl offener Arbeitsstellen bei gleichzeitig hoher Arbeitslosigkeit. Dies lässt darauf schliessen, dass die auf dem Arbeitsmarkt angebotenen beruflichen Qualifikationen nicht mit denjenigenübereinstimmen, welche für die offenen Arbeitsstellen benötigt und deshalb nachgefragt werden.

Wandel der Nachfrage nach Arbeitsqualifikationen

Die gegenwärtig zu beobachtende Diskrepanz zwischen vorhandenen und nachgefragten Arbeitskräften auf dem schweizerischen Arbeitsmarkt verweist sicherlich auf Engpässe in bestimmten Bereichen beruflicher Qualifikationen. Ob es sich dabei eher um kurzfristige konjunkturelle Ungleichgewichte handelt oder um Anzeichen für einen strukturell bedingten langfristigen Wandel von Arbeitsqualifikationen lässt sich allerdings anhand solcher Momentaufnahmen und relativ grober Indikatoren nicht entscheiden.

Eine empirische Studie zum Wandel der Qualifikationsentwicklung in der Schweiz der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (1950–1995) soll jetzt Aufschluss darüber geben, wie die gegenwärtigen Veränderungen in der Nachfrage nach beruflichen Qualifikationen zu interpretieren sind. Diese Studie ist Teil des Forschungsverbundes «Struktur und Entwicklung der Nachfrage nach Arbeitsqualifikationen» im Rahmen des Schwerpunktprogrammes «Zukunft Schweiz».

Ziel der Untersuchung ist es, grundlegende Einsichten zum historischen Wandel der Nachfrage nach formellen Qualifikationen (Bildungs- und Berufsabschlüsse, berufliche Weiterbildung, nichtzertifizierte berufliche Kenntnisse usw.), informellen Qualifikationen (arbeitsbezogene Persönlichkeitsmerkmale) sowie Arbeits- und Berufserfahrungen zu gewinnen. Mit der Berücksichtigung eines längeren Zeitraumes lassen sich aktuelle Tendenzen der Qualifikationsnachfrage auf der Folie historischer Entwicklungen einschätzen. Dies sollte insbesondere erlauben, die oben aufgeworfene Frage nach einer angemessenen Interpretation gegenwärtiger Trends – langfristige strukturelle Verschiebungen der qualitativen Arbeitsnachfrage versus kurzfristige konjunkturelle Trends – zu beantworten.

Stelleninserate als Datenbasis

Die empirische Analyse der Untersuchung basiert auf einer repräsentativen Stichprobe von 22 500 Stelleninseraten, die in Zeitungen und Anzeigern der deutschsprachigen Schweiz zwischen 1950 und 1995 erschienen sind. Weshalb können gerade Stelleninserate als eine besonders geeignete, kaum genutzte Datenquelle betrachtet werden, um die genannten Fragen zu untersuchen?

Neben den für eine sozialwissenschaftliche Analyse wichtigen methodischen Aspekten (siehe Kasten S. 38) sprechen auch gewichtige inhaltliche Gründe für die wissenschaftliche Nutzung dieser Datenquelle. So wird in der Schweiz ein beträchtlicher Teil der offenen Stellen in Inseraten ausgeschrieben.

Aufgrund einer vorgängig durchgeführten repräsentativen Befragung von rund 1100 Firmen in der Schweiz konnte eruiert werden, dass dies für rund 45 Prozent der offenen Stellen der Fall ist. Diese Zahl belegt, dass Stelleninserate in der Schweiz einen substantiellen Teil der gesamten Nachfrage nach Arbeitskräften abdecken. Gemäss dieser Studie wird zudem eine offene Stelle um so eher ausgeschrieben, je schwieriger sie zu besetzen ist. Stelleninserate vermitteln somit ein Abbild derjenigen Arbeitsplätze, für welche neuartige und dementsprechend noch seltene Qualifikationen erforderlich sind. Genau dieser Umstand erklärt, weshalb das Stelleninserat ein sensibler Gradmesser nicht nur für den konjunkturellen, sondern auch für den strukturellen Wandel der Nachfrage nach Arbeitsqualifikationen ist. Somit eignet es sich bestens als Datenquelle für die Erforschung der langfristigen Qualifikationsentwicklung.

Von fleissig und tüchtig …

Tiefgreifende Verschiebungen in den vorherrschenden beruflichen Tätigkeiten, wie sie seit den achtziger Jahren in der Zunahme modernster Dienstleistungsarbeit und der beschleunigten Informatisierung der Tätigkeiten im Produktions- wie auch Dienstleistungsbereich zu beobachten sind, verlangen neue extrafunktionale Arbeitsqualifikationen. Diesen Überlegungen liegt die Annahme zugrunde, dass zwischen der Arbeitssphäre und den gesellschaftlich vermittelten Leitbildern des Selbst enge Wechselwirkungen bestehen. So dürfte unbestritten sein, dass veränderte Arbeitstätigkeiten neuartige Kompetenzen auf der Ebene der Persönlichkeit erfordern, die sich schliesslich zu neuen Menschenbildern bzw. Leitidealen des Selbst verdichten. Nach unseren theoretischen Vorstellungen gewinnen mit den geschilderten Veränderungen Persönlichkeitsmerkmale wie flexibel, reflexiv, selbständig, kommunikativ und kreativ zunehmend an Bedeutung.

Dies hängt damit zusammen, dass die stark im Wachsen begriffenen jüngsten Zweige der Dienstleistungsarbeit vornehmlich anspruchsvolle Beratungs-, Consulting- und Counceling-Tätigkeiten beinhalten – kurz: komplexe Informationsverarbeitung, deren Ergebnisse oftmals auch kommuniziert werden müssen. Dementsprechend werden reflexive und kommunikative Fähigkeiten wichtiger. Zudem geht mit dem rasant wachsenden Einsatz neuer Informations- und Kommunikationstechnologien die Tendenz zur steigenden «Abstraktheit der Arbeit» einher. Als Folge nimmt die konkrete, sinnliche Erfahrung in der Arbeit stark ab. Sie wird ersetzt durch steigende Anforderungen im Umgang mit Symbolen und Regeln. Solche Anforderungen rücken ebenfalls die Fähigkeit zur flexiblen, selbständigen Verarbeitung komplexer Information in den Mittelpunkt.

Analytische, reflexive Fähigkeiten verbunden mit einer wachsenden Flexibilität und Selbständigkeit avancieren so zu neuen Arbeitstugenden. Darüber hinaus verändert sich der Stellenwert arbeitsbezogener Persönlichkeitseigenschaften, die dem Leitbild der puritanischen Ethik entsprechen. In dem Masse, in dem die Verrichtung von beruflichen Tätigkeiten Überlegungen erfordert, wie die Arbeitüberhaupt auszuführen ist, reichen arbeitsbezogene Charaktereigenschaften wie ehrlich, treu, tüchtig, seriös, fleissig und von einwandfreiem Charakter nicht mehr aus.

Soweit unsere theoretischen Überlegungen. Lassen sich die postulierten Tendenzen in den Stelleninseraten auch nachweisen? Um erste Anworten auf diese Frage zu erhalten, wurde eine Substichprobe von Stelleninseraten aus der «Neuen Zücher Zeitung» (1800 Inserate) und dem «Tages-Anzeiger» (2184 Inserate) für die Jahre 1950 bis 1995 gezogen.

… zu kreativ und kommunikativ.

In Kürze ergibt sich folgendes Bild: Die der puritanischen Ethik verhafteten Charaktereigenschaften wie ehrlich, treu, tüchtig, seriös, fleissig und von einwandfreiem Charakter waren in den fünfziger Jahrenüberaus prominent in den Inseraten vertreten. Sie verschwinden in den sechziger und siebziger Jahren zunehmend. Nachstehend ist das Jahr wiedergegeben, in welchem besagte Eigenschaften zum allerletzten Mal in den Inseraten erscheinen: seriös:1973; fleissig: 1973 (in der NZZ bereits 1956!); einwandfreier Charakter: 1980; ehrlich: 1988; tüchtig: 1990.

Seit Mitte der siebziger Jahre gewinnen umgekehrt neue informelle Qualifikationen und Kompetenzen wie flexibel, reflexiv, selbständig, kommunikativ und kreativ an Bedeutung. Allerdings gelangen sie erst Ende der achtziger Jahre zum Durchbruch. Die folgenden Zeitangaben beziehen sich auf das Jahr, in welchem die genannten Eigenschaften zum allerersten Mal in den Inseraten nachgefragt werden: selbständig und initiativ: Ende der sechziger Jahre; flexibel: 1974; kreativ: 1996; kommunikativ: 1984. Diese ersten Ergebnisse deuten doch darauf hin, dass in den letzten Jahren ein Wandel in der Bedeutsamkeit arbeitsbezogener Persönlichkeitsmerkmale stattgefunden hat.

Obwohl es sich hier erst um wenige vorläufige Ergebnisse unserer Studie handelt, lässt sich abschliessend festhalten, dass die systematische Erhebung und Auswertung von Stelleninseraten wertvolle Erkenntnisse und Einsichten in den weitgehend unerforschten langfristigen Wandel
der Nachfrage nach Arbeitsqualifikationen vermitteln dürfte.


Vernachlässigte Datenquelle

In der empirischen Sozialforschung wurden Stelleninserate bislang kaum in systematischer Weise,über grössere Zeiträume und auf der Basis von repräsentativen Stichproben untersucht. Die vorgestellte Studie betritt somit wissenschaftliches Neuland und macht sich folgende Erkenntnisse zunutze: Stelleninserate sind leicht zugängliche,über lange Zeiträume verfügbare und in grosser Zahl vorhandene Texte mit weitgehend standardisierten Informationen. Die Angaben betreffen (1) die gesuchte Person (zum Beispiel Geschlecht, Alter, Nationalität, arbeitsbezogene Persönlichkeitsmerkmale); (2) die ausgeschriebene Stelle (zum Beispiel Funktion, Position, Tätigkeitsspektrum, Arbeitsbedingungen, berufliche Qualifikationen, Arbeitserfahrungen); (3) das inserierende Unternehmen (zum Beispiel Branche, Grösse, Unternehmenskultur).


Dr. Marlis Buchmann (buchmann@soziologie.unizh.ch) ist ordentliche Professorin für Soziologie an der Universität Zürich und an der ETH Zürich. Dr. Stefan Sacchi (sacchi@soz.huwi.ethz.ch) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Soziologie der ETH Zürich.


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unipressedienst – Pressestelle der Universität Zürich
Nicolas Jene (upd@zuv.unizh.ch)
Last update: 30.07.98