Magazin der Universität Zürich Nr. 3/95

Auf dem Weg zur "digitalen Bibliothek"

Die Hauptbibliothek Irchel (HBI) hat 1995 ein zweites Gebäude für die zentrale Aufstellung von Zeitschriften bezogen. Damit wird die Informations- und Literaturvermittlung rationalisiert und verbessert. Die Verbreitung wissenschaftlicher Information verlagert sich vermehrt auf elektronische Datenträger und Netze, was die Dienstleistungen der Bibliotheken verändern wird.

Die "digitale Bibliothek" mit ihrer elektronisch gespeicherten Information bringt uns die bibliothekarischen Dienstleistungen an den Arbeitsplatz; selbst die alte "Pantoffeldistanz" zur Institutsbibliothek zwei Türen weiter wird auf eine einfache Bürostuhldrehung zum Computer hin reduziert. Und dennoch ist auf dem Irchel im Rahmen der vierten Ausbauetappe ein neues Bibliotheksgebäude erstellt worden. Ein Widerspruch? Nein!

Nach wie vor beherrschen die Printmedien die Literaturversorgung, die elektronischen Formen werden heute oft erst zusätzlich, ergänzend angeboten. Einige jedoch, zum Beispiel die elektronischen Zeitschriften (E-Journals) und Vorausveröffentlichungen (Preprints), haben bereits ein Eigenleben entwickelt und beginnen sich ausserhalb der Bibliotheken, vor allem über die Datenautobahn des Internet, zu verbreiten. Den Bibliotheken stehen verschiedene Szenarien für die Zukunft bevor; eines der möglichen wird am Schluss dieses Artikels aufgegriffen. Die Gegenwart hält sich vorerst an das heute Realisierbare, an das Resultat der Planung in der Vergangenheit.

Hauptbibliothek Irchel

Der Campus der Universität Zürich-Irchel vereint die naturwissenschaftlichen Institute der Universität. Für die Literaturversorgung zuständig sind die Institutsbibliotheken und die 1980 neu eröffnete Hauptbibliothek Irchel (HBI). Nach zehn Jahren Vorbereitung (siehe unten) hat die HBI im August 1995 ein zweites Gebäude (Bau 15: Forschungsbibliothek) beziehen können, in dem die (bio-)wissenschaftlichen Zeitschriften auf dem Irchel zentral aufgestellt sind. Mehrfachabonnemente werden eingespart und die Informations- und Literaturvermittlung (Datenbankrecherchen, interbibliothekarischer Leihverkehr usw.) konzentriert und verbessert. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit wird dabei gefördert.

Die HBI hat ihre Erweiterung mit internen Umstrukturierungen vorbereitet. Die HBI-Kredite für den Bereich Lehre sind deutlich gesenkt und für den Bereich Forschung entsprechend erhöht worden. Die BibliothekarInnen der HBI sind auf die beiden Bereiche aufgeteilt worden; zusätzliche Stellen für den Betrieb dieses zweiten Gebäudes hat die HBI nicht erhalten. Die HBI-Dienstleistungen in den beiden Bereichen bzw. Gebäuden richten sich an unterschiedliche Benützer- bzw. Kundengruppen:

Der Bereich Lehre soll als Lernzentrum die Studierenden mit einem Angebot an Lehrbüchern, wichtigen interdisziplinären Zeitschriften, 200 Leseplätzen für das Selbststudium und für Gruppenarbeiten und PC/Mac-Arbeitsplätzen ansprechen. 1500 Videos stehen in den Freihandregalen, die Abspielgeräte können selbständig bedient werden. Das Haus an der Strickhofstrasse ist während 56 Stunden in der Woche geöffnet, der vorgelagerte Lesegarten (im Sommer) rund um die Uhr.

Forschende ab Diplomstufe sollen im Bereich Forschung ihren Arbeitsplatz nach Mass finden: den geschlossenen Einzelarbeitsraum, die Lesenische für zurückgezogenes Arbeiten, den einfachen Leseplatz oder den mit einem PC/Mac ausgestatteten EDV-Arbeitsplatz. 1987 sind "warmth, hospitality, privacy" als Grundsätze der Bauplanung für die Forschungsbibliothek postuliert worden: viel Tageslicht bei den Arbeitsplätzen, das differenzierte Arbeitsplatzangebot, die während 45 Stunden in der Woche bediente Infotheke und nicht zuletzt ein Trinkbrunnen in der Bibliothek (keine Becher!) sind wichtige Elemente bei der Umsetzung dieser Anforderungen.

Das Bibliothekswesen der Universität Zürich-Irchel steht auf drei Säulen; zwei davon übernimmt die HBI, die dritte Säule bilden die Institutsbibliotheken. Sie bieten vor allem Monographien der betreffenden Spezialgebiete an, welche zur Hauptsache von den Institutsangehörigen benutzt werden.

EDV-Dienste

Die EDV bzw. die Informationstechnik, an der Universität betreut und koordiniert durch das Rechenzentrum (RZU), hat die Hauptbibliothek Irchel und ihre netzbasierten Dienstleistungen seit ihrer Eröffnung geprägt. Die Kommunikation erfolgt über verschiedene Kanäle: Im Bereich Lehre sind immer noch die 1980 für das Bibliothekssystem DOBIS/LIBIS verlegten Koaxleitungen, die direkt am Kontroller im RZU angeschlossen sind, in Betrieb; daneben sind Anschlüsse des alten Breitband-Netzwerks der Universität (NUZ) und seit diesem Jahr auch eine Basisband-Vernetzung mit Ethernet (NUZ-90) vorhanden. Im Bereich Forschung wurde eine TwistedPair-Sternverkabelung eingezogen, die alle EDV- und Telefondienste vermittelt. In beiden Gebäuden betreibt die HBI je ein lokales Novell-Netz mit eigenen Servern. Die beiden Subnetze sind zu einem HBI-Netz zusammengehängt, damit alle Daten auf allen Endgeräten der beiden HBI-Bereiche verfügbar sind.

Die spezifischen EDV-Dienste der Informationsvermittlung können, bezogen auf den Ort der Datenhaltung, auf drei Ebenen verteilt werden:

1. Auf den HBI-Servern werden einerseits Volltext-Zeitschriften, Lernprogramme, Nachschlagewerke und anderseits Standardsoftware (Word usw.) bereitgestellt.

2. Mit der im RZU auf UNIX installierten OVID Technology werden uniweit Medline, Current Contents und Biological Abstracts angeboten; auf dem IBM-Grossrechner wird die Datenbank des DOBIS/LIBIS-Verbunds der Universität Zürich, der eigene Bibliothekskatalog, betrieben.

3. Über Online-Dienste am NUZ sind Zugriffe auf Bibliothekskataloge im Internet, FirstSearch von OCLC, WWW-Server usw. möglich. Der Grossteil dieser bibliothekarischen Dienstleistungen ist an jedem Arbeitsplatz der Universität verfügbar.

Neben den Möglichkeiten zur selbständigen Recherche bietet die HBI Auftragsrecherchen in Datenbanken der vorklinischen Medizin und der Naturwissenschaften an, welche nicht frei verfügbar oder schwierig zu bedienen sind.

Auf dem Internet ist die HBI und der von ihr koordinierte DOBIS/LIBIS-Verbund der Universität Zürich mit je einer eigenen Adresse bzw. Home-Page präsent:

Die in der EDV anfallenden Kosten (Rechner, Netzwerk usw.) übernimmt weitgehend das RZU. Neuerdings engagiert sich das RZU vermehrt auch bei der Beschaffung von Datenbanken und finanziert die uniweit angebotenen Dienste auf den UNIX-Rechnern. Damit ist auch die Kooperation zwischen Bibliothek und Rechenzentrum (HBI und RZU) enger geworden. Die HBI wendet 85% ihrer Kreditmittel für die Medienerwerbung auf; die elektronischen Medien beanspruchen dabei gegenüber den gedruckten erst einen Anteil von etwa 10%, der in den nächsten Jahren jedoch mit Sicherheit zunehmen wird.

Dokumentenlieferung

Die Beschaffung der Dokumente über den Interbibliothekarischen Leihverkehr (kurz: Fernleihe) wird von der HBI im Bereich Forschung für alle Fachgebiete angeboten. In den naturwissenschaftlichen Disziplinen sind das in der überwiegenden Mehrzahl Bestellungen von Zeitschriftenaufsätzen. In der Regel werden Kopien bestellt, die nach der Lieferung in den Besitz der Auftraggebenden übergehen.

In der Schweiz funktioniert die Fernleihe seit Jahren dank eines standardisierten Formulars und klarer Transportwege ausserordentlich gut: Bücher oder Originaldokumente sind innert Wochenfrist erhältlich, Kopien aus Zeitschriften auf dem Postweg innert 48 Stunden, über den Fax innerhalb von vier Stunden und über E-Mail oder File Transfer direkt auf den PC des Bestellenden in noch kürzerer Frist. Diese zuletzt genannte Möglichkeit wird als electronic document delivery bezeichnet. In der HBI wird die elektronische Lieferung noch wenig verwendet, steht jetzt mit dem Bezug der Forschungsbibliothek aber quasi in den Startlöchern; das online ordering, die elektronische Bestellung, hingegen wird seit Jahren praktiziert. Im document delivery anfallende Kosten werden den Bestellenden weiterverrechnet.

Zukunftsaussichten

Kooperation und Koordination sind mehr als blosse Schlagworte bei der Literatur- und Informationsvermittlung. Im Bereich des Bibliothekskatalogs koordiniert die HBI seit sechs Jahren den DOBIS/LIBIS-Verbund der Universität Zürich, welcher die Bestände von 100 Institutsbibliotheken verzeichnet. Bereits in den Jahren davor hat die HBI mit dem Aufbau eines Gesamtkatalogs der Bestände auf dem Irchel begonnen. Neben der Katalogisierung wenden heute viele Verbundteilnehmer auch die Funktionen der Ausleihe, der Erwerbung und der Zeitschriften-Eingangskontrolle an.

1994 haben sich die beiden wissenschaftlichen Grossbibliotheken auf dem Platz Zürich, die ETH-Bibliothek und die Zentralbibliothek Zürich, zu einem Informationsverbund Zürich zusammengeschlossen, der für den Bibliothekskatalog das System ETHICSplus einsetzt. Der Informationsverbund soll als ein Dienstleistungsunternehmen für die Vermittlung von Informationsträgern und Informationen auftreten. Diesem Konzept will sich auch die Hauptbibliothek Irchel mit ihren Dienstleistungen auf dem Campus nicht verschliessen. In bezug auf den Bibliothekskatalog betrifft dies zudem die Zukunft des DOBIS/LIBIS-Verbunds der Universität. Die Bedingungen, Kosten und Termine eines möglichen Anschlusses sollen 1996 geklärt und für die Entscheidungsfindung an der Universität vorbereitet werden.

Die zunehmende Verlagerung der Informationsverbreitung in den Naturwissenschaften auf die elektronischen Medien verändert die Bibliotheken. Aus Mathematikkreisen sind Vorschläge formuliert worden, die den Bibliotheken empfehlen, sich von der gedruckten Information zu lösen.1. Die traditionelle Informationskette beim Printmedium - vom Produzenten (in den Wissenschaften die Hochschulen und die Forschungslabors der Firmen) zum Verlag und über den Buchhandel am Schluss in die Bibliotheken - wird heute durch die elektronische Verbreitung durchlöchert. Auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Zeitschriften sollen die Bibliotheken neu verlegerische Funktionen übernehmen und die an den Hochschulen produzierte Information in statu nascendi - gleich am Anfang der Informationskette - übernehmen und mit den eigenen Leistungen der Bereitstellung, Archivierung, Verteilung und Erschliessung ausstatten. Notwendig wäre dafür allerdings eine neue Art der Kooperation der Hochschulbibliotheken mit den wissenschaftlichen Instituten, welche die WissenschafterInnen nicht mehr bloss als "BenutzerInnen" von Bibliotheken definiert.

Und die BibliothekarInnen selber? Schon lange sehen wir uns als InformationsspezialistInnen, unsere Ausbildung wird sich verändern - ein Fachhochschulstudium wird vorbereitet -, und unsere Kompetenz in der Informationstechnik muss wachsen. Sie wächst heute schon täglich, weil die elektronische bzw. digitale Bibliothek, d. h. die zunehmende Vermittlung von Informationsdaten statt der blossen Informationsmedien, von Jahr zu Jahr konkretere Formen annimmt. Learning by doing zumindest ist unumgänglich, Weiterbildung dringend.

Auf dem Irchel-Campus wird das die Literatur- bzw. eben Informationsvermittlung und damit die Hauptbibliothek Irchel wie auch die Institutsbibliotheken nachhaltig prägen.

von Heinz Dickenmann

Dr. Heinz Dickenmann ist Leiter der Hauptbibliothek Universität Zürich-Irchel.


Literatur

1 Martin Grötschel und Joachim Lügger. "Die Zukunft wissenschaftlicher Kommunikation aus der Sicht der Mathematik." Spektrum der Wissenschaft (1995) 3, 39-43. Und dieselben. "Wissenschaftliche Kommunikation am Wendepunkt - Bibliotheken im Zeitalter globaler elektronischer Netze." Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie 42 (1995) 3, 287-312.


Hauptbibliothek "Forschung"

Ende der 60er Jahre war für den Irchel eine grosse naturwissenschaftlich-medizinische Hauptbibliothek mit einer Bausumme von 30 bis 40 Mio. Franken vorgesehen, die dann aus Kostengründen jedoch stark redimensioniert und auf den Bereich Lehre eingeschränkt wurde. Diese Einengung befriedigte aber die zunehmenden Bedürfnisse nach bibliothekarischen Dienstleistungen auf dem Campus immer weniger. Dr. Hermann Leskien, damals Direktor der Universitätsbibliothek München und heute Direktor der Bayerischen Staatsbibliothek, wurde 1985 als Gutachter zur Lage der HBI beigezogen. Er empfahl u. a. den Unterhalt eines Zeitschriftenpools an der Universität Zürich-Irchel. Die Aufsichtskommission der HBI nahm diese Empfehlung auf und beantragte 1986 bei der Erziehungsdirektion, die Aufgaben der HBI auf die Forschung auszudehnen und sie mit weiteren Räumlichkeiten in zentraler Lage auf dem Irchel auszustatten. 1988 beschloss der Regierungsrat, das jetzt realisierte Projekt für eine Hauptbibliothek "Forschung" ausarbeiten zu lassen.


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unipressedienst –Pressestelle der Universität Zürich
Felix Mäder (fmaeder@zuv.unizh.ch)
Last update: 9-NOV-95