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Epilepsie in der Petrischale

Welche Mechanismen liegen der poststraumatischen Epilepsie zugrunde? Neuere methodologische Entwicklungen ermöglichen es der Hirnforschung, epilepsieartige Aktivität zu erklären und alternative Therapieansätze zu erforschen.

VON ANNE R. MCKINNEY UND BEAT GÄHWILER
Bei der Epilepsie handelt es sich im engeren Sinn nicht um eine Erkrankung, sondern meistens um die klinische Manifestation von Problemen, die auf ein Hirntrauma, einen Schlaganfall oder auf Hirntumore und ähnliches zurückzuführen sind.

Nach einem leichten Hirntrauma, beispielsweise verursacht durch einen Schlag auf den Schädel, ist die Wahrscheinlichkeit eines späteren Auftretens von Epilepsie gering. Bei schweren Verletzungen des Gehirns jedoch steigt die Wahrscheinlichkeit, und es sind bis 75% der Patienten betroffen.

Die posttraumatische Epilepsie tritt gewöhnlich mit einer Verzögerung von mehreren Wochen bis Monaten auf. Diese Zeitspanne kann möglicherweise für ein therapeutisches Eingreifen genutzt werden, doch ist dazu eine genaue Kenntnis der zellulären und molekularen Mechanismen der posttraumatischen Epilepsie erforderlich.

In-vitro-Modell

Wir haben während der letzten Jahre ein In-vitro-Modell entwickelt, an dem die zugrunde liegenden Mechanismen unter gut kontrollierbaren experimentellen Bedingungen untersucht werden können. Für diese Art Untersuchungen eignet sich Hippocampusgewebe. Dieser Hirnteil ist nicht nur wichtig für das Kurzzeitgedächtnis, sondern auch besonders epilepsieanfällig.

Das Hippocampusgewebe von etwa eine Woche alten Ratten wird in zirka 0,4 mm dicke Scheiben zerlegt, und die einzelnen Schnitte werden während zwei bis drei Wochen kultiviert. In diesem Zeitraum etablieren die Nervenzellen Kontakte mit ihren Nachbarzellen und formen ein Netzwerk, dessen morphologische und funktionelle Eigenschaften denen des Hippocampus im intakten Gehirn sehr ähnlich sind. Insbesondere werden – gleich wie in situ – Fasern gebildet, die sogenannten Schaffer-Kollateralen, welche das CA3-Gebiet des Hippocampus mit dem CA1-Gebiet verbinden (Abb. 1).

Um die Bedingungen zu simulieren, die zur Epilepsie führen, muss nun eine Läsion erzeugt werden. Zu diesem Zweck werden in den kultivierten Hirnschnitten die Schaffer-Kollateralen vollständig durchtrennt. Interessanterweise führt dies nicht zu einer Degeneration der CA3-Pyramidenzellen, welche diese Kollaterale bilden. Die Läsion erhöht, wie wir vermutet hatten, schon nach wenigen Tagen die Erregbarkeit der Nervenzellen, und die elektrische Stimulation der Nervenfasern löst nun epileptiforme Antworten aus, wie sie in den Kontrollkulturen nie beobachtet werden.

Abbildung 1: Zunahme der synaptischen Erregung nach Läsion der Schaffer-Kollateralen. Gegenüber Kontrollkulturen nimmt die Frequenz der synaptischen Potentiale (links) nach der Läsion zu, und die elektrische Stimulation löst in Pyramidenzellen nun komplexe synaptische Antworten aus. Illustration adaptiert nach R.A. McKinney, Nature Medicine 3, 990–996 (1997).

Die Hypothese

Dieses In-vitro-Modell ist ein taugliches Instrument, um die Frage nach den zugrunde liegenden Mechanismen experimentell anzugehen. Von früheren Untersuchungen ist bekannt, dass im Hippocampus ein fein reguliertes Gleichgewicht zwischen synaptischer Erregung und Hemmung existiert und dass Störungen dieses Gleichgewichtes in Richtung verstärkter Erregung epileptische Entladungen auslösen können.
Es stellt sich nun die Frage, ob die Nervenbahnen als Folge der Verletzung zu regenerieren beginnen und ob diese axonale Sprossung zu einer erhöhten Vernetzung der Nervenzellen führt. Vermutungen in dieser Richtung wurden bereits um die Jahrhundertwende vom berühmten Neuroanatomen Ramón y Cajal ausgesprochen. Allerdings ist diese Hypothese äusserst schwierig zu erhärten, da in der Vielzahl von Nervenfasern die ursprünglichen von den neu gebildeten unterschieden werden müssen.

Neuere methodologische Entwicklungen boten die Möglichkeit, diese Frage mit anderen Techniken anzugehen. Unser besonderes Interesse weckte ein Wachstumsprotein, das sogenannte GAP-43, von dem gezeigt worden war, dass es im peripheren Nervensystem nur während Phasen des axonalen Wachstums sowie bei der Regeneration von Nervenfasern exprimiert ist. Falls dies auch in unseren Kulturen zutrifft und es gelänge, das Protein in unserem Modellsystem histologisch anzufärben, stände einer Prüfung der Hypothese nichts mehr im Wege.
Läsionsexperimente

Erste immunohistochemische und biochemische Untersuchungen zeigten, dass das Wachstumsprotein in Schnittkulturen des Hippocampus während der ersten Woche in vitro stark exprimiert ist. Dann geht die Expression so stark zurück, dass mit Läsionsexperimenten begonnen werden kann.

Bereits drei bis sieben Tage nach der Läsion sind Fasern und Wachstumskegel innerhalb der CA3-Region des Hippocampus erkennbar und nach ein bis zwei Wochen auch auf der anderen Seite der Läsion im CA1-Gebiet durch die Anfärbung des Wachstumsproteins nachweisbar (Abb. 3).

Wie sind diese Befunde zu interpretieren? Nach einer Läsion von zentralen Nervenzellen werden neue axonale Prozesse gebildet, die den Schaden durch Regeneration von Fasern ins abgetrennte Zielgebiet (CA1-Region) zu beheben versuchen. Andererseits werden die Nervenzellen durch die Läsion auch angeregt, Fasern in der näheren Umgebung der Läsion zu bilden, und es ist denkbar, dass diesem Sprossungsprozess im CA3-Gebiet bei der Ausbildung der Epilepsie eine wichtige Rolle zukommt.

Abbildung 2: Schematische Darstellung eines Hippocampus-Schnittes. Die Schaffer-Kollateralen, die Axone der CA3-Pyramidenzellen, projizieren zu den CA1-Pyramidenzellen (obere Abbildung, grüne Fasern). Diese Fasern werden durch die Läsion vollständig durchtrennt, und die abgetrennten Fasern (mittlere Abbildung, grüngestrichelte Fasern) degenerieren in der Folge. Nach einigen Tagen beginnen sich neue Fasern zu bilden, welche einerseits in das CA1-Gebiet einwachsen und andererseits im CA3-Gebiet benachbarte Zellen kontaktieren (untere Abbildung, rote Fasern).

Abbildung 3: Immunohistochemische Färbung mit Antikörpern gegen das Protein GAP-43 zur Darstellung von Fasern, welche als Folge der Läsion im CA3-Gebiet sprossen und in das CA1-Gebiet einwachsen.

Erste Resultate

Wie lässt sich zeigen, dass die lokale Sprossung von Fasern zu epileptogener Aktivität führt? Als erstes musste nachgewiesen werden, dass diese neu gebildeten Fasern auch tatsächlich synaptische Verbindungen mit ihren Nachbarzellen bilden. Dieser Nachweis gelang mit Hilfe von elektrophysiologischen Doppelableitungen von Pyramidenzellen im CA3-Gebiet. Während in Kontrollkulturen 56% dieser Zellen direkt mit Nachbarzellen verbunden sind, erhöht sich dieser Anteil nach der Läsion auf 83%. Wichtig ist auch die Tatsache, dass die Anzahl der spontanen synaptischen Potentiale der Nervenzellen direkt mit dem Ausmass der axonalen Sprossung korreliert ist, das heisst, je mehr Fasern ausgebildet werden, um so mehr erhöht sich die Erregbarkeit der Nervenzellen.

Unsere Daten belegen deutlich, dass eine Läsion in vitro die Sprossung von axonalen Fasern induziert. Die gleichzeitige Erhöhung der neuronalen Erregbarkeit und die Ausbildung von epileptogener Aktivität legen den Schluss nahe, dass morphologische Veränderungen das Gleichgewicht zwischen Erregung und Hemmung verändert haben, und deuten darauf hin, dass die Sprossung von Fasern auch in vivo bei der Ausbildung der posttraumatischen Epilepsie eine Rolle spielt. Die Zeit, die für die Sprossung der Fasern benötigt wird, würde auch eine Erklärung für das verzögerte Auftreten der posttraumatischen Epilepsie liefern.

Es wird nun eine besondere Herausforderung sein, nach Mitteln und Wegen zu suchen, diese Sprossung von Fasern nach einer Läsion sowohl in vitro wie auch in vivo zu verhindern. Da Wachstumsfaktoren bei der Sprossung von Fasern vermutlich eine Rolle spielen, bieten sich Antagonisten dieser Faktoren als erste Kandidaten an. Solche Substanzen haben nicht nur die Fähigkeit, das axonale Wachstum zu verhindern, sondern könnten eines Tages auch als alternative Therapie bei der posttraumatischen Epilepsie zum Einsatz kommen.


Dr. Beat Gähwiler ist ordentlicher Professor für Hirnforschung am Institut für Hirnforschung der Universität Zürich.
Ph.D. Anne R. McKinney ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Hirnforschung der Universität Zürich.



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unipressedienst – Pressestelle der Universität Zürich
Daniel Bisig (upd@zuv.unizh.ch)
Last update: 14.10.98